Florian Wilk

Erzählstrukturen im Neuen Testament


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Bis ans Ende von V. 24 reicht dann die Darstellung der freudigen, in ein Freudenfest einmündenden Aufnahme des reuigen Sohnes durch den Vater. Erneut vorangetrieben wird die Geschichte mit V. 25: Der ältere Sohn kam vom Feld, näherte sich dem Haus und hörte, dass dort gefeiert wurde. In 15,26–28a folgt die Darstellung seiner in zwei Stufen vollzogenen, in zornigem Fernbleiben gipfelnden Reaktion auf das Fest. Schließlich leitet V. 28b den letzten Abschnitt ein; die Notiz, dass der Vater herauskam und dem älteren Sohn zuredete, führt zur Wiedergabe eines Wortwechsels zwischen beiden (15,29–32), mit der das Ganze endet. Somit weist der Text insgesamt fünf markante Stellen auf, an denen jeweils von einer – und sei es innerlichen – Bewegung gesprochen wird, die die Beziehungsgeschichte zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen weiterführt.

      Diese Akzente sind allerdings unterschiedlich stark. Vergleichbar sind zum einen Lk 15,13 und V. 25; beide Stellen lenken das Augenmerk darauf, dass je einer der Söhne durch sein anschließend geschildertes Verhalten die familiäre Gemeinschaft verletzte. Auf derselben Ebene stehen zum andern V. 20b und V. 28b; hier wie dort wird gezeigt, wie der Vater dem betreffenden Sohn entgegenkam. So ergibt sich folgende Gliederung:

      Die exemplarische Anwendung auf Lk 15,11b–32 zeigt: Eine thematisch orientierte Analyse im Sinne Schleiermachers führt zu einem klaren, durchaus erhellenden Ergebnis. Solch eine Analyse ist insbesondere dazu geeignet, den Spannungsbogen, der eine Erzählung als ganze überspannt, zu erfassen und daraufhin die wesentlichen Schnittstellen zu erkennen, die jeweils den weiteren |13|Verlauf jenes Bogens vom Anfang bis zum Ende gewährleisten. Dieses Verfahren eröffnet somit einen Zugang zur Logik einer Erzählung und erlaubt es, deren sukzessives Fortschreiten nachzuzeichnen.

      Allerdings hat es auch deutliche Schwächen. Erstens überlässt es vieles der Intuition derer, die den Text untersuchen, stellt es ihnen doch für die grundlegenden Arbeitsschritte – die Abgrenzung von Anfang und Ende sowie die Identifikation der Zäsuren und Akzente – keine formalen oder sprachlichen, sondern ausschließlich inhaltliche Gesichtspunkte zur Verfügung.

      Schleiermacher wies die Hörer seines Kollegs auf diesen Kennzeichen des Verfahrens ausdrücklich hin. Zum einen präsentierte er die »Auffindung der Eigentümlichkeit in der Komposition«[43] als Aufgabe innerhalb der »psychologischen Auslegung«[44], die darauf abziele, die Rede eines anderen »zu verstehen als Tatsache im Denkenden«[45], als »Darstellung der Gedanken«[46] – eine Aufgabe, die er als »technische« bezeichnete, da sie sich »dem abgeschlossenen Gedankencomplexus« widme, in dem »das Bewußtsein eines bestimmten Fortschreitens nach einem Ziel« vorherrsche[47]. Zum andern merkte er bei seinen Ausführungen zum Vergleich der akzentuierten Stellen an: »Man sieht wieder, wie hier die grammat[ische] Interpret[ation] vorausgesetzt wird. Denn diese muß lehren, die akzent[uierten] Stellen unterscheiden; auch die andere Aufgabe der techn[ischen] Interpr[etation], nämlich die Bestimmung des individuellen Sprachgebrauchs. Denn jeder hat seine Art zu akzentuieren.«[48]

      Eine themaorientierte Analyse muss deshalb durch Untersuchungen ergänzt werden, die die konkrete Sprachgestalt der Erzählung (mit ihren Kommunikationsebenen, ihren begrifflichen und semantischen Verknüpfungen sowie ihren syntaktischen Eigenarten) ebenso auswertet wie ihren Stil.

      Zweitens bietet solch eine Analyse kaum Kriterien, um die einzelnen Textabschnitte einander hierarchisch zuzuordnen. Dazu müsste man nämlich erheben, wie der Erzähler seine Erzählung (mit Figuren und ihren Interaktionen, mit Zeiten und Orten) eingerichtet und (durch Hinweise auf diesbezügliche Veränderungen) strukturiert hat. Es bedarf also auch einer Bestandsaufnahme des narrativen Inventars.

      Da das letztgenannte Verfahren enger an die thematisch orientierte Analyse anschließt, soll es nachstehend zuerst vorgestellt werden.

      2.3 Inventarorientierte Analyse

      »Jede Erzählung entwirft eine eigene kleine Welt mit Personen, Geschehnissen, Orten usw.«[49] Die Struktur der Erzählung hängt deshalb eng mit den Entwicklungen zusammen, die sich in der entworfenen Welt vollziehen. Sollen diese Entwicklungen aber jene Struktur zu erschließen helfen, müssen sie für Lese|14|rinnen und Leser an der Textoberfläche erkennbar, dort also markiert sein. Es müssen, mit anderen Worten, Gliederungsmerkmale vorliegen, die es erlauben, unter formalen Gesichtspunkten kleinere Sinneinheiten innerhalb der Erzählung voneinander abzugrenzen und einander so zuzuordnen, dass ihre Abfolge die dargestellten Entwicklungen nachvollziehbar macht.

      Elisabeth Gülich und Wolfgang Raible haben dargelegt, wie solche textinternen »Gliederungsmerkmale« identifiziert und priorisiert werden können:

      »Handlungsabläufe [sc. Geschehensabläufe, die belebte Handlungsträger haben] finden in Raum-Zeit-Kontinua statt und lassen sich nach Veränderungen in der Dimension der Zeit, in den Dimensionen des Raumes und nach Veränderungen in der Konstellation der Handlungsträger gliedern. Das heißt, Handlungsabläufe können (1) zu verschiedener Zeit an verschiedenen Orten, (2) zu verschiedener Zeit an gleichen Orten – in beiden Fällen also nacheinander – oder (3) zu gleicher Zeit an verschiedenen Orten stattfinden.

      Jede der drei Möglichkeiten ist ihrerseits kombinierbar mit dem Merkmal ›Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger‹. Die Relevanz der genannten drei Parameter der Zeit, des Ortes und der Personenkonstellation erweist sich sehr deutlich darin, daß Dramen, also schriftlich fixierte Handlungsabläufe, nach genau diesen Kriterien in Akte und Szenen gegliedert werden. Die lokalen Parameter eines dargestellten Handlungsablaufs scheinen allerdings weniger wichtig zu sein, als die zeitlichen. Dies ist eine Folge davon, daß sich bei Geschehens- oder Handlungsabläufen mit Notwendigkeit die Zeit verändert, der Ort jedoch gleichbleiben kann. … Berücksichtigt man nun, daß eine Veränderung der Zeit in Geschehens- und Handlungsabläufen auch von einer Veränderung in der Konstellation der Handlungsträger unabhängig ist, so ergibt sich, daß solche Merkmale, welche die Zeitbefindlichkeit – eventuell in der Ko-Okkurrenz mit denjenigen der Ortsbefindlichkeit – anzeigen, in der Hierarchie der Gliederungsmerkmale über den Merkmalen stehen, die eine Veränderung der Personenkonstellation anzeigen.«[50]

      Daraus ergibt sich ein klares Verfahren: Um eine Erzählung zu strukturieren, sind nacheinander Signale zur Zeitbefindlichkeit, Signale zur Ortsbefindlichkeit und Veränderungen in der Personenkonstellation zu identifizieren. Da auf diese Weise das Inventar der erzählten Welt hinsichtlich der dargestellten Entwicklung in seinen wesentlichen Bestandteilen erfasst wird, leuchtet dieses Verfahren auf den ersten Blick ein. Es führt allerdings nicht in jeder Hinsicht zu eindeutigen Ergebnissen. Seine Plausibilität tritt bei der Anwendung auf Lk 15,11b–32 ebenso zutage, wie es seine Desiderata tun.

      Achtet man zunächst auf den Parameter der Zeit, so entdeckt man eine einzige explizite Zeitangabe: Lk 15,13 zufolge zog der jüngere Sohnes schon »wenige Tage nach« der in V. 12d erwähnten Erbteilung seitens des Vaters von Zuhause fort. Daneben finden sich allerdings zwei weitere ausdrückliche Hinweise auf eine Zeitverschiebung. Der erste erfolgt in 15,24f., insofern hier die Aussage »sie begannen zu feiern« (V. 24c) einen länger andauernden Vorgang anzeigt, in dessen Verlauf der ältere Sohn eintrat, »als er« – seinen Aufenthalt »auf dem Feld« (V. 25a) beendend – »(heim)kam und sich dem Haus näherte« (V. 25b). Der zweite wird in 15,29–31 gegeben, indem dort »so vielen Jahren«, in denen der ältere Sohn dem Vater gedient habe (V. 29b),[51] der Zeitpunkt gegenübergestellt wird, »als« der jüngere Sohn wieder nach Hause »kam« (V. 30a). Freilich steht dieser zweite |15|Hinweis in einer direkten Rede, die die vorhergehenden Ereignisse kommentiert; markiert wird also rückblickend das in V. 20b einsetzende Geschehen.

      Verstrichene Zeit zeigen zudem die griechischen Partizipialwendungen in Lk 15,14init. (»nachdem er alles ausgegeben hatte«) und V. 20b (»als er noch weit entfernt war«) an; da dies aber jeweils nur implizit geschieht, sind jene Wendungen an sich allenfalls in untergeordnetem Sinne als Gliederungsmerkmale zu werten.

      Ortswechsel werden explizit in Lk 15,13 (»der jüngere Sohn zog fort in ein fernes Land«) und V. 25 (der »ältere Sohn«, der zunächst »auf dem Feld war«, »näherte sich dem Haus«) markiert. Dabei ist von »jenem Land« in 15,13–15