Umstand, dass die Erzählungen des Neuen Testaments aufgrund ihres Alters und ihres stark divergierenden Umfangs nicht einfach den üblichen Gegenständen der Textlinguistik oder denen der Literaturwissenschaft zuzuordnen sind; er lässt sich daher auch nicht einfach so oder so entscheiden. Dann aber bleibt zu prüfen, inwieweit die Ergebnisse verschiedener Analyseverfahren miteinander kompatibel und in welcher Weise sie ggf. in eine Beschreibung des Textaufbaus zu integrieren sind.
|4|Im Übrigen herrscht oftmals Uneinigkeit, welchen (narrativen oder sprachlichen) Gesichtspunkten entscheidendes Gewicht bei der Strukturanalyse eines konkreten Textes zugemessen werden kann.[18]
Die Forschungslage zur Struktur neutestamentlicher Erzählungen ist also von disparaten methodischen Ansätzen und Verfahrensweisen geprägt. Es gilt deshalb zu klären, anhand welcher Kriterien über die Sachgemäßheit solcher Ansätze entschieden werden kann und welche analytischen Mittel dann zur Ermittlung des Aufbaus solch einer Erzählung eingesetzt werden sollen. Der Bearbeitung dieser Aufgabe ist das vorliegende Buch gewidmet.
1.2 Grundlagen und Vorgehensweise
Das Fundament der Untersuchung bildet ein Ensemble aus sieben Grundüberzeugungen. Sie lauten:
1 Jede neutestamentliche Erzählung ist auf die eine oder andere Weise strukturiert.
2 Diese Struktur ist – wie bei anderen Texten auch – an der Textoberfläche anhand bestimmter Textmerkmale zu erkennen.[19]
3 Textmerkmale, die die Struktur einer Erzählung anzeigen, sind für die Textsorte »Erzählung« charakteristisch.[20]
4 Die Identifizierung und Gewichtung solcher Textmerkmale obliegt denen, die die Erzählung lesen und auslegen; es ist, mit anderen Worten, die Aufgabe des Interpreten und der Interpretin, die Erzählung zu gliedern.Gliederung meint hier und im Folgenden demnach entweder den analytischen Vorgang, der sich bei der Textlektüre vollzieht, oder dessen Ergebnis. Solch ein Vorgang führt insofern über eine Segmentierung hinaus, als er die dazu benannten Textmerkmale in eine hierarchische Ordnung bringt.[21]
5 Keine Gliederung kann für sich den Anspruch erheben, gleichsam objektiv die Struktur einer Erzählung abzubilden; solche Objektivität ist für niemanden, die oder der Texte auslegt, erreichbar.
6 Gerade deshalb muss jede Gliederung im wissenschaftlichen Diskurs plausibilisiert werden; dabei ist eine Gliederung dann plausibel (bzw. plausibler als andere Gliederungsentwürfe), wenn sie die für die Struktur relevanten Textmerkmale möglichst umfassend (bzw. in höherem Maße als andere Glie|5|derungsentwürfe) berücksichtigt[22] und der Eigenart der jeweiligen Erzählung gemäß gewichtet.
7 Die Plausibilität einer Gliederung zeigt sich überdies daran, dass sie den Gesamtzusammenhang und die Intention der Erzählung zu verstehen hilft.
Auf dieser Basis soll im Folgenden zunächst (in Kapitel 2) eine Methodik zur Gliederung neutestamentlicher Erzählungen im Kontext der einschlägigen Forschungsdiskussion entwickelt werden. Anschließend gilt es, diese Methodik (in Kapitel 3) mittels Anwendung auf mehrere, unterschiedlich geartete und unterschiedlich lange Textbeispiele zu bewähren. In einer Schlussbetrachtung (Kapitel 4) ist zu erheben, welche Folgerungen für den Einsatz der Methodik aus der exemplarischen Anwendung zu ziehen sind.
1.3 Technische Hinweise
Abkürzungen einzelner Wörter folgen den Angaben im Duden, Band 1.
Die Abkürzungen biblischer Bücher und antiker Schriften entsprechen dem Verzeichnis im Exegetischen Wörterbuch zum Neuen Testament.[23]
Bei der Angabe neutestamentlicher Stellen folgt die Einteilung einzelner Verse in erster Linie den Satzzeichen im »Novum Testamentum Graece«, ohne Unterschied zwischen Klammer, Komma, Kolon oder Punkt; die betreffenden Teilverse werden fortlaufend mit kleinen, ohne Zwischenraum an die Versziffer angefügten lateinischen Lettern benannt. Sind weitere Einteilungen erforderlich, erfolgen diese entweder – wenn zuvor in Textübersichten eindeutig zugeordnet – durch Ergänzung kleiner griechischer Buchstaben[24] oder durch Hinzufügung der Angaben »init.«, »md.« und »fin.«; in letzterem Fall wird der übrige Teilvers bei Bedarf durch das zusätzliche Sigel * gekennzeichnet. Die mit einem verminderten Zwischenraum an eine Ziffer angeschlossene Angabe »f.« verweist auf den folgenden Vers oder das folgende Kapitel.
In den Anmerkungen wird die benutzte Literatur mit Autorname und Kurztitel benannt.
|6|2. Klärung der Methodik
anhand des Gleichnisses vom verlorenen Sohn (Lk 15,11b–32)
2.1 Einführung
Im Sinne neuerer Erzähltheorien lässt sich eine schriftlich vorliegende Erzählung als Text definieren, durch den eine Erzählerin oder ein Erzähler mit bestimmten Adressaten im Erzählvorgang so kommuniziert, dass ein aus diversen, aufeinander folgenden Ereignissen bestehendes Geschehen zur Darstellung kommt.[25] Demgemäß können Erzählungen generell auf den drei Ebenen des Erzählvorgangs, des dargestellten Geschehens und des Textes auf ihre jeweilige Eigenart hin untersucht werden.[26]
Für die Gliederung einer Erzählung ist naturgemäß die Analyse auf der Textebene entscheidend. Allerdings muss eine derartige Textanalyse die geschilderten Ereignisse[27] und die mittels der Erzählung vollzogene Kommunikation insoweit berücksichtigen, als sie sich im Text selbst widerspiegeln. Andererseits zeitigt nicht jeder auf der Textebene denkbare Untersuchungsschritt Ergebnisse, die zu einer Gliederung beitragen. Hilfreich dürften diejenigen Verfahren sein, die das Gesamtgefüge einer Erzählung hinsichtlich seines inhaltlichen Zusammenhangs oder seines gestalterischen Zusammenhalts in den Blick nehmen, die also darauf angelegt sind, überblicksweise zu klären, »was« und »wie« erzählt wird[28].
Beide Leitfragen sind der Klarheit halber zu differenzieren: In Bezug auf den Inhalt gilt es zu erheben,
a) wovon die Erzählung handelt und
b) welche Welt sie dabei aufbaut;
in Bezug auf ihre äußere Gestalt muss man ermitteln,
c) in welcher Weise sie dargeboten wird und
d) welche sprachlichen Mittel dabei eingesetzt werden.
Es geht also darum, eine Erzählung in der Ausrichtung einerseits auf (a) ihr Thema und (b) ihr narratives Inventar, andererseits auf (c) den sie prägenden Erzählstil und (d) ihre Sprache zu gliedern.
|7|In einem Schema lassen sich diese analytischen Zugänge wie folgt darstellen:
Im Folgenden sollen die den genannten vier Aspekten entsprechenden Analyseverfahren der Reihe nach vorgestellt, auf ihre Sachgemäßheit geprüft und hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen ausgewertet werden. Dazu werden sie exemplarisch auf einen Text angewendet, der bekannt und übersichtlich ist, zugleich aber – wie die Auslegungsgeschichte zeigt – interpretatorische Fragen aufgibt und daher eine eingehende Untersuchung lohnt: das Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk 15,11b–32). Anschließend sind die Ergebnisse der Analysen miteinander zu vergleichen, um auf dieser Basis ein geeignetes Verfahren zur Gliederung neutestamentlicher Erzählungen zu entwickeln.
Damit die weiteren Ausführungen leichter nachzuvollziehen sind, sei die Erzählung aus Lk 15 nachstehend synoptisch in ihrem griechischen Wortlaut[29] und einer möglichst wortgetreuen deutschen Übersetzung[30] dargeboten.
|8|Lk 15,11b–32: griechischer Text (NT Graece28)
11 | …· ἄνθρωπός τις εἶχεν δύο υἱούς. |
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