»Schnell, holt das beste Gewand heraus und kleidet ihn ein, und gebt (ihm) einen Ring an seine Hand und Schuhe an die Füße,
|10|2.2 Themaorientierte Analyse
Als »Kern des Textinhalts« umfasst das Thema »den Grund- oder Leitgedanken« eines Textes; jener Textinhalt ist also »das Resultat der Entfaltung«, d.h. der »gedankliche[n] Ausführung des Themas«.[31] Sofern es nicht »in einem Textsegment realisiert« ist, muss es »aus dem Textinhalt abstrahiert werden«.[32] Hat man es erhoben, kann man von ihm aus die Textstruktur beschreiben.
Ein ebenso einleuchtendes wie praktikables Verfahren für die thematisch orientierte Analyse des Aufbaus literarischer Werke hat bereits Friedrich Schleiermacher in seinem Kolleg »Hermeneutik und Kritik« entwickelt. Wie er zeigt, lässt sich die »Eigentümlichkeit in der Komposition« aus der »Einheit des Ganzen« – die als »innere Einheit« mit dem »Thema eines Werkes« identisch ist – ableiten.[33] Das Thema »zu finden« sei daher die »[e]rste Aufgabe« des Interpreten. Dafür dürfe man sich nicht auf eine ggf. vorhandene »Angabe des Verfassers zu Anfang oder zu Ende« verlassen.[34] Vielmehr bedürfe es einer gesonderten Untersuchung; und diese sollte sich wie folgt vollziehen:
»1. Man vergleiche die entgegengesetzten Punkte Anfang und Ende. [Anm. Die erste Übersicht fängt also so elementarisch an als möglich]. Fortschreitendes Verhältnis = Charakter der historischen und rhetorischen Komposition. Gleichheits-Verhältnis = Char[akter] der intuitiven Komposition. Zyklisches Verhältnis = Char[akter] der dialektischen Kompos[ition]. … Kautelen. 1.) Man unterscheide wohl, was an beiden Punkten auf den Zweck sich bezieht, und was auf die Idee. 2.) Man unterscheide wohl den rechten Anfang und das rechte Ende. a) Der Anfang des Ganzen ist zugleich Anfang seines ersten, das Ende des Ganzen zugleich Ende seines letzten Gliedes. … b) Man unterscheide ja die Grenzen des Ganzen. …
2. Wenn Anfang und Ende nichts oder nicht genug für die Einheit geben, so vergleiche man die akzentuierten Stellen. Die gleich akzentuierten müssen zur Idee im gleichen Verhältnis stehen und daher diese daraus hervorgehen. …
3. Man geht nun weiter ins Einzelne …, um den Akzent zu verfolgen … – Je genauer nun das Abnehmen des Akzents übereinstimmt mit der Entfernung von der vorausgesetzten Idee, desto mehr bestätigt sich die Voraussetzung.«[35]
Dieses Verfahren eignet sich in der Tat dazu, das Thema einer Erzählung zu erfassen und von dort her einen Überblick über ihren Aufbau zu gewinnen. Es weist allerdings auch gewisse Unschärfen auf. Seine Vorzüge und seine Grenzen werden bei der Anwendung auf Lk 15,11b–32 gleichermaßen deutlich.
Vergleicht man zunächst Anfang und Ende, so fällt unmittelbar auf, dass am Ende ein Pendant zum ersten, vom Erzähler gesprochenen Satz Lk 15,11b: »Ein Mensch hatte zwei Söhne«, fehlt. Die Erzählung schließt stattdessen mit einer an den älteren Sohn (V. 25a) gerichteten Äußerung des Vaters (15,31f.).
|11|Dieser Mangel deutet vor allem den Zweck der Erzählung an. Sie richtet sich ja – als zweiter Teil einer Rede Jesu[36] – an »Pharisäer und Schriftgelehrte«, die gegen seine Hinwendung zu und Tischgemeinschaft mit »allen Zöllnern und Sündern« protestieren (Lk 15,1f.). Sie, die Adressaten, sehen sich infolge des offenen Schlusses gleichsam selbst vom Vater angeredet[37] – und somit implizit aufgefordert, ihre Kritik am Verhalten Jesu zu überdenken. Gleichwohl ist jene Diskrepanz auch für die Suche nach dem Thema der Erzählung von Belang.
In seinem Schlussvotum reagiert der Vater (Lk 15,28b) auf den Widerspruch seines älteren Sohnes (15,29f.). Dabei vergewissert er ihn als »Kind« ihrer wechselseitigen Gemeinschaft (V. 31), um ihm daraufhin die Notwendigkeit des laufenden Festes zu erläutern (V. 32a); sie ergebe sich aus der Tatsache, dass sein »Bruder« ins Leben zurückgekehrt sei (V. 32b–c). Der Vater verknüpft also den Status des Kindes (das der Ältere für den Vater ist) mit dem des Bruders (das ist er dem jüngeren Sohn) – und sucht so den älteren Sohn in die familiäre Verbundenheit aller drei Personen hineinzuziehen. Angesichts eines solchen Schlusses taugt aber V. 11b alleine nicht als »rechter Anfang« des Ganzen.[38] Dieser umfasst vielmehr 15,11b–12; denn erst V. 12 benennt mit der vom jüngeren Sohn geforderten, vom Vater daraufhin vollzogenen Erbteilung[39] die Voraussetzung für das Zerwürfnis, dessen vollständige Heilung der Vater am Ende herbeiführen möchte. Das auf den Protest des Älteren antwortende Schlusswort des Vaters greift demnach seine auf Wunsch des Jüngeren vollzogene Erbteilung auf, sodass – mit Schleiermacher zu sprechen – ein »fortschreitendes Verhältnis« von Anfang und Ende und damit eine Art »historischer Komposition« vorliegt. Deren Thema ist dann die freudvolle Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen dem Vater und seinen beiden Söhnen; und dabei besteht die Pointe darin, dass jene Wiederherstellung zwar durch das Verhalten des Jüngeren notwendig geworden, schließlich jedoch seitens des Älteren zu vervollständigen ist.
Es besteht also durchaus Anlass, die traditionelle Überschrift »Das Gleichnis vom verlorenen Sohn« zu verändern; diese bildet den elementaren Sachverhalt, dass eine »Dreiecksgeschichte« vorliegt, nicht ab.[40] Freilich sollte man dann nicht von »den verlorenen Söhnen« sprechen. Es werden ja gerade nicht einfach »zwei Typen einander gegenübergestellt«[41]. Vielmehr macht schon der Kontrast von Anfang und Ende deutlich, dass es dem Erzähler um die Reaktion des älteren auf das Geschick des jüngeren Sohnes geht.
Fragt man nun weiter nach den akzentuierten Stellen, so gilt es Stellen aufzuspüren, die für den Fortschritt der Erzählung im Zeichen des Themas maßgeblich sind. Da sie von der Wiederherstellung einer familiären Gemeinschaft handelt, |12|kommen dafür solche Stellen in Betracht, die Veränderungen in den Beziehungen zwischen den beteiligten Personen signalisieren. Dies geschieht zum ersten Mal mit Lk 15,13: Nach der vom Vater durchgeführten Erbteilung (V. 12d) zog der jüngere Sohn mit seinem Anteil in ein fernes Land, wo er all sein Gut verprasste. Die folgenden Verse (15,14–16) schildern, wie er danach immer tiefer ins Elend geriet.[42] Die zweite deutliche Zäsur ist mit V. 17 gegeben: Angesichts seiner Not ging der Sohn in sich und gedachte seines Vaters. In 15,18–20a wird erzählt, dass er sich daraufhin entschloss, in der Stellung eines Tagelöhners