Harald Seubert

Einführung in die Philosophie


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im März 2015 [<<9]

      Einleitung

      von Manfred Riedel

      Diese Vorlesung führt nicht in die Philosophie ein, sie soll zur Philosophie hinführen. Der Titel müsste genauer heißen: Hinführung zu den Grundfragen der Philosophie. Denn die Philosophie ist kein Fach wie andere Fächer, in die man jemanden „einführt“, indem man ihn mit den Grundlagen, den Arbeitsweisen, den in Lehrbüchern festgehaltenen Ergebnissen des betreffenden Faches vertraut macht. Denken Sie etwa an eine Einführungsvorlesung in die Geschichtswissenschaft, in die politische Wissenschaft, in die Sozialpsychologie oder an die Einführungskurse in die verschiedenen Gebiete der Medizin, der Chemie, der Physik usw. „Einführen“ heißt: Jemanden mit etwas vertraut machen, was ein anderer weiß. Ich führe jemanden in eine Gesellschaft ein, das will sagen: Ich mache ihn mit den mir bekannten Personen der betreffenden Gesellschaft vertraut, ich stelle ihn vor. Ich führe in ein Fach ein, das will dann sagen: Als Fachmann mache ich jemanden, der mit dem Fach noch nicht vertraut ist, mit den fachlichen Grundlagen, dem Gegenstand der betreffenden Wissenschaft, den allgemein anerkannten und bewährten Methoden, den Arbeitsweisen und Arbeitszielen vertraut, ich stelle das Fach vor. Lässt sich das, was Philosophie heißt, vorstellen – so vorstellen, wie wir Personen oder Sachen präsentieren? Ist sie ein Fach unter Fächern, deren Methoden und Ergebnisse bekannt und allgemein anerkannt sind? Das ist offensichtlich nicht der Fall. Die Philosophie hat weder einen bestimmten Gegenstand noch eine bestimmte Methode oder ein bestimmtes Ziel, auf das alle Philosophen verpflichtet sind. Sie bleibt ein Fragen, das über jedes Ergebnis schon hinweggesprungen ist. Sie ist, so scheint es, überhaupt keine Wissenschaft. Wenn sich das so verhält, dann erhebt sich gleich zu Anfang die Frage: Was ist das – die Philosophie? Wenn sie nicht, wie andere [<<11] Fächer, einen bestimmten Gegenstand, bestimmte Methoden und ein bestimmtes Ziel hat, was ist dann ihre Sache?

      Die Möglichkeit einer Antwort auf die Wozu-Frage scheint mir aus sachlichen Gründen begrenzt zu sein. Das folgt gewissermaßen aus der Grammatik der Frage, die zuerst der Klärung bedarf. Jede Frage motiviert sich durch eine bestimmte Fragesituation und enthält implizit Voraussetzungen, die ihrerseits bestimmte Antworten implizieren. Wozu-Fragen sind uns aus dem Alltagsleben vertraut. Sie werden gewöhnlich damit beantwortet, dass man entweder den Zweck von etwas angibt, was man tut, oder das Tun als Mittel versteht, um einen Zweck zu erreichen. Wir wollen diese Art von Fragen teleologische Fragen nennen. Danach ist Philosophieren ein Handeln, das grundsätzlich durch Vorerwartungen seiner Relevanz und unter Benutzung dieser Erwartung als Bedingung oder Mittel für rational erstrebte Zwecke oder Zweckzusammenhänge bestimmt ist.

      Teleologische Fragen und Vorerwartungen einer Zweck-Mittel-Rationalität gibt es nicht erst seit heute. Wir begegnen ihnen im ältesten Anfang der Philosophie. Nach der Legende soll Thales, der zuerst hinter dem Wechsel des Vielen Einheit gewahrt und diese ins Wasser gesetzt hatte, statt Wasser zu schöpfen, in den Brunnen gefallen sein. Thales war Geometer und Astronom, der alles, was in den Tiefen der Erde und in der Höhe des Himmels ist, gemessen und dabei das Nächstliegende übersehen hat. Um Thales’ Gestalt rankt sich jedoch neben der Geschichte vom Brunnenfall und dem daran anschließenden Gelächter der Wasser holenden Magd eine weitere Legende: Er soll, von Bürgern seiner Vaterstadt mit der Nachrede provoziert, seine Armut beweise die Praxisferne der Philosophie, unter zweckrationaler Einsetzung astronomischer und ökonomischer Daten eine gute Olivenernte vorausgesehen, alle Ölpressen in Milet gemietet und durch Weitervermietung in der Erntezeit ein schwerreicher Mann geworden sein. Aristoteles, der diese Geschichte erzählt, fügt hinzu: Thales habe damit gezeigt, wie leicht den Philosophen der Gegenbeweis fällt, dass dies aber eben nicht Sache der Philosophie sei (Politik I 11, 1259a 5–8). Dies ist eine frühe Apologie – eine Verteidigung der Philosophie gegenüber der Ignoranz der Welt. Mit seiner großen ‚Apologie‘ wird Sokrates sich gegenüber der Bürgerschaft von Athen als Philosoph erweisen. [<<12]

      Apologien dieser Art entspringen Fragen, die dem Philosophieren von außen gestellt und nach außen hin beantwortet werden. Wir könnten hier auch von pragmatischen Fragen sprechen. Obwohl sie seinen Gang von Anbeginn begleiten, treten sie innerhalb der Philosophie erst dann auf, wenn sie ihre Sache verfehlt oder sich zum Schuldogma verfestigt haben. In unserem Kulturkreis – die asiatischen Hochkulturen kennen ähnliche Erscheinungen – geschieht dies in den spätantiken Philosophenzirkeln, die das Christentum auflöst, in der Schulphilosophie der frühen Neuzeit, die sich dem geschichtlich neuartigen Typ der Erfahrungswissenschaften verschließt, und schließlich – mutatis mutandis – nach der spekulativen Erschöpfung der antik-christlichen Lehrtradition in Hegels Philosophie. Was das „Ziel“ und der „Zweck“ der Philosophie sei, – dies ist die Frage der griechisch-römischen Denker von Epikur bis Seneca an Platon und Aristoteles, der Märtyrer und Väter des frühen Christentums von Justin bis Augustin an die antiken Philosophenschulen, von Galilei und Bacon an die Scholastik, von Marx an Hegel, von Wittgenstein an Russel. Und die Antwort lautet: das Wohl der Seele, die Eudämonie des Einzelnen statt bloßer Theorie (so bei Epikur), der Glaube statt eudämonistischer Seelentechnik (so bei Augustin), Beherrschung der Natur statt bloßer Glaubenslehre (so bei Bacon), Weltveränderung statt Interpretation der Welt.

      Mit der Hegel-Kritik von Marx wechselt freilich die Grammatik der Wozu-Frage den semantischen Kontext. Aus der 11. These über Feuerbach – „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern“ – hat Marx bekanntlich weiter gefolgert, dass Philosophie als universalhermeneutische Vernunftinterpretation im Sinne Hegels abgeschlossen und vollendet, ihr Anspruch einer vernünftig geordneten Welt aber erst noch praktisch zu verwirklichen sei. Weltveränderung, der Zweck von Wissenschaft und Industrie, setzt nicht mehr philosophische Theorie, sondern revolutionäre Politik und Sozialwissenschaft – die Kritik der politischen Ökonomie – voraus.

      Wir untersuchen zunächst nicht den sachlichen Kern dieser historischen Aussage, sondern fragen: Was ist eigentlich sprachlich gemeint, wenn von einer Sache behauptet wird, sie gehe zu Ende? In der Umgangssprache heißt „Ende“ nicht nur so viel wie „Aufhören“ und „Verschwinden“, sondern „Ort“. Von einem Ende zum anderen gehen heißt: der Gang von einem Ort zum andern. Wer von einem Ende der Stadt zum anderen geht, bleibt damit noch innerhalb derselben Stadt, wer in fremde Länder reist, verlässt damit noch nicht den Erdball. Obwohl sich auch Heidegger auf diesen Sprachgebrauch ausdrücklich bezieht, spricht er dem Wort „Ende“ im Sinne von „Ort“ eine andere („a-topische“) Bedeutung zu. Die Rede vom „Ende der Philosophie“ bezeichnet nach Heidegger einen „letzten Ort“, nämlich „dasjenige, worin sich das Ganze ihrer Geschichte in seine äußerste Möglichkeit versammelt“, die „Vollendung“ der Philosophie durch „Aufhebung“ in einem Anderen ihrer selbst. Wir können hier von einer dysteleologischen Bedeutung sprechen. In diesem Kontext – und nur in ihm – gewinnt die teleologische Frage die durch Enderwartung verschärfte Fassung: wozu noch Philosophie? [<<14]

      Es ist die Frage, die während der Sechzigerjahre neben dem Denker der Seinsgeschichte vor allem die kritische Theorie, das Denken von Adorno und danach von Habermas in Bewegung gehalten hat. Wer so fragt,