Harald Seubert

Einführung in die Philosophie


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dialektisch-negativ beim späten Adorno, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Die Philosophie, sagt Heidegger, endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Die parallelen Antworten der Antipoden deutscher Nachkriegsphilosophie überschneiden sich im Verzicht auf apologetische Rede. Sie gebrauchen dafür Sprechweisen der Eschatologie. Lässt sich, was Philosophie ist, in einem Augenblick verwirklichen?

      „Eschatologie“ ist nach theologischem Sprachgebrauch die Lehre von den „letzten Dingen“ – von der großen Katastrophe, die, wenn sie „radikal“ oder die „letzte“ ist, Philosophie mit einschließt. Gott hält Gericht über seine Geschöpfe. Die Schöpfung wird zertrümmert, ein neuer Himmel, eine neue Erde geschaffen. Die Katastrophe ist die Vorstufe zum Heil. Auch die Philosophie ist eine Lehre von den letzten Dingen, nämlich die theoretische Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen, die dem Menschen zu wissen möglich sind. Aber die These der Philosophie lautet: Von diesem Wissen müssen wir uns theoretisch Rechenschaft geben können, wir müssen den Grund seiner Möglichkeit untersuchen. Die Rede vom „Letzten“ ist Denkern, wenn sie nur radikal genug, das heißt Philosophen sind, die diesen Namen verdienen, nicht fremd. Radikale mögen, frei nach Marx, Leute heißen, die eine Sache an der Wurzel fassen, und die Wurzel – das ist für Philosophen die Möglichkeit des Begreifens, „der Begriff“. Philosophisch radikal sein heißt, jede Behauptung, eschatologische Rede nicht ausgenommen, auf ihre Begreiflichkeit hin überprüfen. Zu fragen wäre demnach: Wie kann man es wissen, dass Philosophie mit dem Übergang zur Moderne untergeht? Oder anders ausgedrückt: Wie ist eine Geschichte a priori möglich? Wenn ich es richtig sehe: durch Geschichtsphilosophie, indem man eine selber philosophische These aufstellt, die These vom Ende der Philosophie, [<<15] oder das Diktum Adornos, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Was besagt aber diese These? Oder mit Kant weitergefragt: Was will man hier eigentlich wissen, wenn man das zeitliche Ende der Philosophie prophezeit? Offensichtlich genügt es nicht zu wissen, ob diese oder jene Zeit des Philosophierens abgeschlossen und vollendet, dass Philosophie in ein „Anderes“ ihrer selbst umgeschlagen ist. Wir wollen wissen, ob es zum Begriff der Philosophie gehört, je in der Zeit zu enden oder sich in anderer Gestalt, in Wissenschaft und Technik, in Kunst, Religion und Politik zu erfüllen.

      Fragen vom Typ: „Was ist Philosophie?“ sind zweideutig. Sie können einmal besagen: Welche Klasse von Personen bzw. Sätzen benennt das Wort „Philosophie“ – eine wiederum zweideutige Frage, die zweierlei meinen kann; 1. wie es traditionell gebraucht wird, etwa bei Platon oder Kant, bei Heidegger oder Popper, deren Wortgebrauch wir untersuchen und begriffsgeschichtlich vergleichen müssten; 2. kann die Frage meinen, welchen Wortgebrauch wir selbst vorschlagen, und das ist zuletzt eine Definitionsfrage, eine Frage der Festsetzung, die uns erlaubt, „Philosophie“ als „Wissenschaftstheorie“ zu definieren. Aber mit gleichem Recht kann dann der Wissenschaftstheoretiker behaupten: Alles dasjenige, was nicht Theorie der Wissenschaft sei, ist „Mystik“ oder Begriffsdichtung oder Okkultismus. Gleichzeitig weist die Was-ist-Frage über rein terminologische Festsetzungen wie über Begriffsgeschichten hinaus. Wenn wir etwa fragen, was die Zeit oder was der Mensch ist, dann wollen wir nicht wissen, was das Wort „Zeit“ und das Wort „Mensch“ heißt; wir verlangen vielmehr nach Sachkenntnis. Wer so fragt, will also etwas über die Sache wissen, mit der es der Philosophierende zu tun hat. Die These dieser Vorlesung lautet: Die Sache der Philosophie, das sind nicht irgendwelche vorstellbaren Gegenstände, keine Ergebnisse, sondern Aporien, – die Aporien, in die wir geraten, wenn wir die letztlich grundlegenden Fragen stellen, danach, was die Zeit ist oder wer wir selbst sind, die wir in der Zeit leben, einen Anfang und ein Ende haben. „Aporie“, ein griechischer Ausdruck für „Not“ und „Mangel“, bedeutet vorphilosophisch die Bedrängnis desjenigen, der unterwegs ist, die Not eines Reisenden, dem auf der Fahrt durch schwieriges Gelände plötzlich der Weg versperrt ist, daneben auch die Notlage desjenigen, [<<16] der bei der Verteilung von Gütern ausgeschlossen wird oder sonst in irgendeiner Weise zu kurz kommt. In dem Sinn, in dem wir hier das Wort zur Bezeichnung der Sache der Philosophie verwenden wollen, bedeutet „Aporie“ zweierlei: erstens die Verlegenheit, die uns dann überfällt, wenn wir nach den letztlich grundlegenden Dingen fragen, wenn wir an eine Grenze treffen, an der wir nicht weiterkommen, und zweitens den Inbegriff der logischen und hermeneutischen Schwierigkeiten, die uns bei der theoretischen Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen erwachsen, insbesondere dann, wenn die Schwierigkeiten nicht nur als die Erfahrung der Grenze, sondern in der Form des Widerspruchs auftreten. In diesem Falle sprechen wir auch von „Antinomie“. Philosophie, so wollen wir als Erstes festhalten, ist keine Lehre, kein lehr- und lernbarer Bestand von Sätzen und Methoden, sondern die Tätigkeit des Philosophierens. Philosophieren – was immer das heißen mag – ist zunächst und zuerst Fragen-Können, und zwar radikales, an die Wurzel gehendes Fragen.

      Das Wissen des Nicht-Wissens in der Bewegung des radikalen Fragens, dass wir auf einmal nicht mehr wissen, was das Wort „Zeit“ bedeutet, dies und nichts anderes, so behaupte ich, ist der Anfang des Philosophierens. Wer philosophiert, ist von dem, was er zu wissen meint, nicht mehr eingenommen. Er findet, was er meint, fragwürdig und setzt das Meinen der Frage aus. Sich der Fraglichkeit einer Meinung öffnen und unvoreingenommen weiterfragen zu können, das ist der Weg zur Philosophie. [<<17]