dialektisch-negativ beim späten Adorno, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward. Die Philosophie, sagt Heidegger, endet im gegenwärtigen Zeitalter. Sie hat ihren Ort in der Wissenschaftlichkeit des gesellschaftlich handelnden Menschen gefunden. Die parallelen Antworten der Antipoden deutscher Nachkriegsphilosophie überschneiden sich im Verzicht auf apologetische Rede. Sie gebrauchen dafür Sprechweisen der Eschatologie. Lässt sich, was Philosophie ist, in einem Augenblick verwirklichen?
„Eschatologie“ ist nach theologischem Sprachgebrauch die Lehre von den „letzten Dingen“ – von der großen Katastrophe, die, wenn sie „radikal“ oder die „letzte“ ist, Philosophie mit einschließt. Gott hält Gericht über seine Geschöpfe. Die Schöpfung wird zertrümmert, ein neuer Himmel, eine neue Erde geschaffen. Die Katastrophe ist die Vorstufe zum Heil. Auch die Philosophie ist eine Lehre von den letzten Dingen, nämlich die theoretische Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen, die dem Menschen zu wissen möglich sind. Aber die These der Philosophie lautet: Von diesem Wissen müssen wir uns theoretisch Rechenschaft geben können, wir müssen den Grund seiner Möglichkeit untersuchen. Die Rede vom „Letzten“ ist Denkern, wenn sie nur radikal genug, das heißt Philosophen sind, die diesen Namen verdienen, nicht fremd. Radikale mögen, frei nach Marx, Leute heißen, die eine Sache an der Wurzel fassen, und die Wurzel – das ist für Philosophen die Möglichkeit des Begreifens, „der Begriff“. Philosophisch radikal sein heißt, jede Behauptung, eschatologische Rede nicht ausgenommen, auf ihre Begreiflichkeit hin überprüfen. Zu fragen wäre demnach: Wie kann man es wissen, dass Philosophie mit dem Übergang zur Moderne untergeht? Oder anders ausgedrückt: Wie ist eine Geschichte a priori möglich? Wenn ich es richtig sehe: durch Geschichtsphilosophie, indem man eine selber philosophische These aufstellt, die These vom Ende der Philosophie, [<<15] oder das Diktum Adornos, nach Auschwitz Gedichte zu schreiben, sei barbarisch. Was besagt aber diese These? Oder mit Kant weitergefragt: Was will man hier eigentlich wissen, wenn man das zeitliche Ende der Philosophie prophezeit? Offensichtlich genügt es nicht zu wissen, ob diese oder jene Zeit des Philosophierens abgeschlossen und vollendet, dass Philosophie in ein „Anderes“ ihrer selbst umgeschlagen ist. Wir wollen wissen, ob es zum Begriff der Philosophie gehört, je in der Zeit zu enden oder sich in anderer Gestalt, in Wissenschaft und Technik, in Kunst, Religion und Politik zu erfüllen.
Fragen vom Typ: „Was ist Philosophie?“ sind zweideutig. Sie können einmal besagen: Welche Klasse von Personen bzw. Sätzen benennt das Wort „Philosophie“ – eine wiederum zweideutige Frage, die zweierlei meinen kann; 1. wie es traditionell gebraucht wird, etwa bei Platon oder Kant, bei Heidegger oder Popper, deren Wortgebrauch wir untersuchen und begriffsgeschichtlich vergleichen müssten; 2. kann die Frage meinen, welchen Wortgebrauch wir selbst vorschlagen, und das ist zuletzt eine Definitionsfrage, eine Frage der Festsetzung, die uns erlaubt, „Philosophie“ als „Wissenschaftstheorie“ zu definieren. Aber mit gleichem Recht kann dann der Wissenschaftstheoretiker behaupten: Alles dasjenige, was nicht Theorie der Wissenschaft sei, ist „Mystik“ oder Begriffsdichtung oder Okkultismus. Gleichzeitig weist die Was-ist-Frage über rein terminologische Festsetzungen wie über Begriffsgeschichten hinaus. Wenn wir etwa fragen, was die Zeit oder was der Mensch ist, dann wollen wir nicht wissen, was das Wort „Zeit“ und das Wort „Mensch“ heißt; wir verlangen vielmehr nach Sachkenntnis. Wer so fragt, will also etwas über die Sache wissen, mit der es der Philosophierende zu tun hat. Die These dieser Vorlesung lautet: Die Sache der Philosophie, das sind nicht irgendwelche vorstellbaren Gegenstände, keine Ergebnisse, sondern Aporien, – die Aporien, in die wir geraten, wenn wir die letztlich grundlegenden Fragen stellen, danach, was die Zeit ist oder wer wir selbst sind, die wir in der Zeit leben, einen Anfang und ein Ende haben. „Aporie“, ein griechischer Ausdruck für „Not“ und „Mangel“, bedeutet vorphilosophisch die Bedrängnis desjenigen, der unterwegs ist, die Not eines Reisenden, dem auf der Fahrt durch schwieriges Gelände plötzlich der Weg versperrt ist, daneben auch die Notlage desjenigen, [<<16] der bei der Verteilung von Gütern ausgeschlossen wird oder sonst in irgendeiner Weise zu kurz kommt. In dem Sinn, in dem wir hier das Wort zur Bezeichnung der Sache der Philosophie verwenden wollen, bedeutet „Aporie“ zweierlei: erstens die Verlegenheit, die uns dann überfällt, wenn wir nach den letztlich grundlegenden Dingen fragen, wenn wir an eine Grenze treffen, an der wir nicht weiterkommen, und zweitens den Inbegriff der logischen und hermeneutischen Schwierigkeiten, die uns bei der theoretischen Beschäftigung mit den letztlich grundlegenden Dingen erwachsen, insbesondere dann, wenn die Schwierigkeiten nicht nur als die Erfahrung der Grenze, sondern in der Form des Widerspruchs auftreten. In diesem Falle sprechen wir auch von „Antinomie“. Philosophie, so wollen wir als Erstes festhalten, ist keine Lehre, kein lehr- und lernbarer Bestand von Sätzen und Methoden, sondern die Tätigkeit des Philosophierens. Philosophieren – was immer das heißen mag – ist zunächst und zuerst Fragen-Können, und zwar radikales, an die Wurzel gehendes Fragen.
Hier geschieht etwas sehr Merkwürdiges, nämlich dies, dass sich die Aporie im Doppelsinn der Verlegenheit und logisch-hermeneutischen Schwierigkeit wie von selbst einstellt. Wir brauchen sie nicht zu suchen, sie ist immer schon da, nur wissen wir das nicht, solange wir nicht philosophieren. Ich verdeutliche das an einem Text von Augustin, der den Begriff der Zeit erörtert – radikal, nämlich im Ausgang von einer an den Gottesbegriff der christlichen Theologie gerichteten Frage: Was tat Gott, bevor er Himmel und Erde schuf?2
Das Wissen des Nicht-Wissens in der Bewegung des radikalen Fragens, dass wir auf einmal nicht mehr wissen, was das Wort „Zeit“ bedeutet, dies und nichts anderes, so behaupte ich, ist der Anfang des Philosophierens. Wer philosophiert, ist von dem, was er zu wissen meint, nicht mehr eingenommen. Er findet, was er meint, fragwürdig und setzt das Meinen der Frage aus. Sich der Fraglichkeit einer Meinung öffnen und unvoreingenommen weiterfragen zu können, das ist der Weg zur Philosophie. [<<17]
Philosophie, mit dieser Behauptung möchte ich die Vorüberlegungen abschließen, ist der Versuch einer Antwort auf radikales Fragen, das uns zuletzt vor die grundlegenden Dinge, die Grundfragen unseres Lebens führt. Wie lauten diese Grundfragen? Wenn wir uns dazu in der Philosophie der Gegenwart umsehen, so kommen wir wohl ebenfalls in eine Art von Verlegenheit. Die Grundfrage der Philosophie, so sagen die Anhänger der Dialektik, des dialektisch-historischen Materialismus, ist die Frage nach dem Verhältnis von Denken und Sein. Was ist das Ursprüngliche: der Geist oder die Natur, theologisch variiert: Hat Gott die Welt erschaffen oder ist die Welt von Ewigkeit da? Und je nach dem, auf welche Seite sich eine Philosophie schlägt, ist sie entweder idealistisch oder materialistisch, es gibt nicht eine Philosophie, sondern grundsätzlich und notwendig zwei Philosophien3 (vgl. F. Engels, L. Feuerbach, 1888, Ww 21). Die Anhänger der Hermeneutik sehen hierin gar keine radikale, keine ursprünglich gefragte Frage. Weil diese Fragestellung die geschichtliche Motivation des philosophischen Fragens überspringt, bringt sie immer schon die Eingenommenheit von einer Meinung, den Dogmatismus einer abgeleiteten, sekundären Antwort ins Spiel. Die Philosophie, so entgegnet der Hermeneutiker, bezieht sich unmittelbar weder auf das Denken noch auf das Sein, sondern auf Sprache. Ihre Grundfrage ist das Verhältnis der Sprache, die wir sprechen, zum Text. Wie verhält sich das Gespräch, das wir sind, zur Tradition, aus der wir kommen? Philosophieren, sagt Hans-Georg Gadamer, heißt Wiedererkennen, nämlich so, dass es als Antwort auf eine Frage verstanden wird, die durch die Aussage des Textes erst geweckt wird.4 Die These, dass Philosophie nichts anderes als Wiedererkenntnis des Erkannten, die Hermeneutik von Texten, [<<19] sei, bringt ihrerseits einen Dogmatismus ins Spiel, nämlich die Eingenommenheit von der Tradition. Unter dieser Voraussetzung entfällt das radikal-ursprüngliche Fragen, da die hermeneutische Fragestellung abgeleitet oder sekundär ist: Sie richtet sich auf die Sprache der Texte und nicht auf die Sache, die infrage steht. Wenn dem so wäre, hätten die Analytiker, die Anhänger der dritten Position der Gegenwartsphilosophie, wahrscheinlich recht mit der These: Die Philosophie entspringt den Verhexungen unseres Verstandes durch die Sprache. Die meisten Sätze und Fragen, heißt es im ‚Tractatus logico-philosophicus‘, „welche über philosophische Dinge geschrieben worden sind, sind nicht falsch, sondern unsinnig. Wir können daher Fragen dieser Art überhaupt nicht beantworten, sondern nur ihre Unsinnigkeit feststellen. Die meisten Fragen und Sätze der Philosophen beruhen darauf, daß wir unsere Sprachlogik nicht verstehen (sie sind von der Art der Frage, ob das Gute mehr oder weniger identisch sei als das Schöne).