Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie


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wie sich der Dank über die Mahlzeit ausdrückt. Christlich interpretiert haben wir beim Essen Teil am Leib Christi, wodurch uns immer wieder von neuem deutlich wird, dass wir Kinder Gottes sind. Das ist so nicht auf andere Religionen übertragbar. Es ist aber auch nicht einfach ein vernachlässigbares Detail, das hinter der allgemein-menschlichen Gemeinsamkeit der kulturell überhöhten Nahrungsaufnahme zurücktritt. Vielmehr hängt an der jeweiligen kulturellen Bedeutung des Essens das gesamte Selbst- und Weltverständnis der Menschen. Die verschiedenen Esskulturen als bloße Marotten abzutun, hieße das Wesen des Menschen zu verkennen. Der Mensch ist wesenhaft frei in dem ganz grundlegenden Sinne, dass er sich seine eigenen biologischen Voraussetzungen immer erst noch kulturell aneignet, ihnen nicht einfach ausgeliefert ist, sondern sie auf eine neue Stufe hin übersteigt. So hat der Mensch z.B. nicht einfach einen Körper, sondern muss ihn sich im Laufe seines Lebens aneignen, ihn zu seinem eigenen Körper machen. Dieser Aneignungsprozess ermöglicht es dem Menschen, dem Körper einen eigenen Sinn zu geben, etwa im Tanz, in dem vermutlich überhaupt erst so etwas wie eine Identität von Körper und Person erfahren wird. Der Mensch greift weit über sein biologisches Sein hinaus und verleiht diesem dadurch erst seinen Sinn. Ganz so, wie die kulturelle Welt des Menschen eine bedeutungsvolle ist, so eignet sich der Mensch auch sein biologisches Sein als ein sinnvolles an. Dabei erhebt sich nicht nur der menschliche Geist über die Natur, auch die Natur selbst wird durch den Menschen erhöht. Dann aber können kulturelle Entdeckungen nicht mehr durch anthropologische Konstanten relativiert werden.

      Ein Universalismus, der sich auf anthropologische Konstanten beruft, bewegt sich in einer Dimension, die den Menschen als biologisches Wesen begreift und gegebenenfalls durch geeignete biologische Merkmale von anderen Tieren abgrenzt. Er ist gegenüber jeder Form von Rassismus und anderer biologischer Ausgrenzung im Recht. Die Menschen bilden eine gemeinsame Spezies und sind so gesehen alle gleich. Auch gelten selbstverständlich die Naturgesetze überall. Allerdings verkennt diese Form des Universalismus das kulturelle Wesen des Menschen, das darin liegt, seiner eigenen Biologie nicht einfach ausgeliefert zu sein, sondern sich diese – ebenso wie die gesamte Natur – im Laufe des Lebens erst anzueignen und darin zu überformen.

      Die Einheit der Vernunft

      Philosophisch sehr viel interessanter ist ein Universalismus, der sich auf die Einheit der Vernunft beruft und den Menschen als vernünftiges Wesen begreift. Demnach ist der Mensch seinem Wesen nach durch Vernünftigkeit ausgezeichnet. Das grenzt ihn einerseits gegenüber anderen Tieren ab und benennt andererseits zugleich die wesentliche Gleichheit aller Menschen. Schon PlatonPlaton (428–348 v. Chr.) versteht den Menschen als durch den vernünftigen Seelenteil (logistikón) ausgezeichnet, weil sich dieser auf die Ideen richten und sich ihrer erinnern kann (Anamnesis). AristotelesAristoteles (384–322 v. Chr.) spricht vom Menschen als einem zoon logon echon, lateinisch animal rationale. Trotz mancher Anfechtung bleibt der Gedanke der allgemeinen Vernünftigkeit des Menschen über alle Epochen hinweg zentraler Bestandteil des philosophischen Verständnisses vom Menschen. In der Neuzeit ist es vor allem KantKant, Immanuel (1724–1804), der die Vernunftkonzeption zu einer Hochform bringt. Er spricht davon, dass der Mensch ein »mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile)« sei, das »aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann«.1

      Das möchte ich kurz erläutern: KantKant, Immanuel zeigt, dass die Erkenntnis, die wir von der empirischen Welt haben, grundsätzlich aus zwei ganz verschiedenen Komponenten zusammengesetzt ist. Da sind zum einen die Sinnesdaten, die von den Dingen ausgehen und auf unser Erkenntnisvermögen treffen; und da ist zweitens eben dieses Erkenntnisvermögen selbst, das mit den Sinnesdaten umgehen, sie ordnen und richtig aufeinander beziehen können muss, um in ihnen tatsächlich mehr als bloße Daten, nämlich konkrete Dinge erkennen zu können (schon AristotelesAristoteles verwendet den Begriff der Konkretion, um die aus Form und Material zusammengesetzte Einzelsubstanz zu bezeichnen2). Man kann sich das an einem ganz einfachen Beispiel verdeutlichen: Nehmen wir an, wir blicken auf einen Tisch, dann erreichen uns zahlreiche Sinnesdaten, die, sobald sie auf das Erkenntnisvermögen treffen, nicht mehr räumlich voneinander unterschieden sind. Um in den Sinnesdaten einen Tisch erkennen zu können, müssen diese also zunächst räumlich getrennt und geordnet werden. Vom Raum selber aber gehen keinerlei Sinnesdaten aus, er ist für uns nicht unabhängig von der räumlichen Anordnung der Dinge erfahrbar. Kant schließt daraus, dass die räumliche Ordnung der Sinnesdaten eine Leistung des Erkenntnisvermögens ist. Der mögliche Einwand, die Sinnesdaten könnten indirekt etwas über ihre räumliche Anordnung verraten, beispielsweise durch die zeitliche Verzögerung ihres Auftreffens auf das Erkenntnisvermögen oder durch die Intensität ihres Signals, läuft ins Leere, weil die Interpretation solch versteckter Informationen eine Vorstellung von Raum schon voraussetzt. Raum und auf gleiche Weise auch Zeit sind Formen, Kant spricht von den Anschauungsformen, mit deren Hilfe das Erkenntnisvermögen die Flut von Sinnesdaten sortiert und ordnet. Aber auch auf einer höheren Verständnisebene ist das Erkenntnisvermögen gefordert. Die räumlich und zeitlich geordneten Sinnesdaten müssen zusammengefasst und aufeinander bezogen werden. Das Erkenntnisvermögen muss wissen, welche Daten zusammengehören, um Gegenstände erkennen zu können. Diese Synthesis leisten die Einbildungskraft und die Verstandesbegriffe, das sind die Kategorien. Zu ihnen gehören beispielsweise Begriffe der Quantität wie Einheit und Vielheit, aber auch Begriffe der Relation wie Substanz und Kausalität (außerdem Begriffe der Qualität und der Modalität).3 Die Kategorien lassen sich ebenso wenig wie die Anschauungsformen in der Erfahrung finden, und doch sind sie genau wie jene in aller Erfahrung vorausgesetzt. Kant spricht mit Blick auf die Anschauungsformen und die Kategorien deshalb von den »Bedingungen der Möglichkeit« aller Erfahrung. Solche Bedingungen nennt er transzendental. Sie sind Vermögen a priori im Unterschied zu den Sinnesdaten, die der Erfahrung entstammen und von Kant darum als a posteriori bezeichnet werden. Die Erkenntnis, die wir von der empirischen Welt haben, ist also zusammengesetzt aus Sinnesdaten auf der einen und Leistungen des Erkenntnisvermögens (Anschauungsformen und Verstandsbegriffe/Kategorien) auf der anderen Seite. Ohne die Leistungen des Erkenntnisvermögens und speziell des Verstandes blieben wir blind, wie Kant sagt. Wir erkennen deshalb niemals, wie die Dinge »an sich« sind, sondern immer nur, wie sie uns bzw. unserem Erkenntnisvermögen gegeben sind und wie sie aufgrund der Leistungen des Erkenntnisvermögens zur Erscheinung kommen: »Die Ordnung und Regelmäßigkeit also an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüths ursprünglich hineingelegt.«4

      Nun entspringen die Leistungen von Anschauung und Verstand wie gesagt gerade nicht der Erfahrung, vielmehr liegen sie dieser als ihre Bedingungen zugrunde. Das ist der für unser Anliegen, einen Universalismus der Vernunft zu rechtfertigen, entscheidende Punkt. Das Erkenntnisvermögen geht der Erfahrung voraus und ermöglicht sie, es kann also nicht selbst erfahren werden. Das bedeutet auch, dass das Erkenntnisvermögen nicht selbst wieder den Bedingungen aller Erfahrung und Erkenntnis unterliegt. Es ist ein unbedingtes Vermögen (im Unterschied etwa zum Vermögen, Auto zu fahren, das grundsätzlich auf Erfahrung angewiesen ist). Als unbedingtes Vermögen ist das Erkenntnisvermögen aber auch unabhängig von inter-individuellen Unterschieden, es ist ein universales Vermögen. Zwar gibt es zwischen einzelnen Menschen erhebliche Unterschiede in der Fähigkeit zu Erkenntnis, diese gehen aber nicht auf prinzipielle Unterschiede des Erkenntnisvermögens zurück (vielmehr ist das Erkenntnisvermögen in der Feststellung solcher Unterschiede ja selbst wiederum vorausgesetzt), sondern beruhen zum einen auf der unterschiedlich großen Neigung, das Erkenntnisvermögen einzusetzen, zum anderen auf der unterschiedlich großen Einsicht in die Struktur der Erkenntnis. Das ist der Grund dafür, dass Erziehung und Aufklärung möglich und nötig sind. Und noch ein zweiter Punkt ist wichtig, um die Einheit der Vernunft richtig zu verstehen: Die Synthesisleistungen des Verstandes werden ihrerseits zusammengefasst vom »Ich denke«, das »alle meine Vorstellungen begleiten können« muss.5 Nur wenn die verschiedenen Erkenntnisse auf das »Ich denke« hin bezogen werden können, lassen sie sich als zusammengehörig erkennen. Dieser Zusammengehörigkeit aller Erkenntnis auf der Seite des Subjekts entspricht auf der Seite der Erkenntnisobjekte die Zusammengehörigkeit alles Erkannten in der Welt. Die Welt freilich kann nicht selbst erkannt werden, aber sie ist eine Idee, die die Vernunft notwendigerweise haben muss, soll sinnvolle Erkenntnis überhaupt möglich sein. So wie