Niels Weidtmann

Interkulturelle Philosophie


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universal.

      Aufgrund ihrer Universalität verleihen die Leistungen des Erkenntnisvermögens der Erfahrung Objektivität. Darin besteht die Kantische »Revolution der Denkungsart«.6 Zugleich steht das Erkenntnisvermögen für die prinzipielle Gleichheit der Menschen. Diese Gleichheit kann aber nur deswegen so bedeutsam sein, weil der Mensch seinem Wesen nach vernünftig ist. Das Wesen des Menschen erschöpft sich nun aber nicht in seiner Erkenntnisfähigkeit. Vielmehr ist der Mensch darum seinem Wesen nach vernünftig, weil er sich qua Vernunft über alle Bedingtheit der Erfahrungswelt, also auch über seine eigene Bedingtheit als in der Erfahrungswelt Lebender hinwegzusetzen vermag. Qua Vernunft unterliegt der Mensch keinen Bedingungen, sondern ist frei. Über alle Bedingtheit hinwegsetzen kann sich der Mensch nun aber nicht in der Erkenntnis (wegen deren Zusammengesetztheit); die Unbedingtheit äußert sich darum vornehmlich im freien Willen. Der freie Wille wiederum zeigt sich dann, wenn sich der Mensch in dem, was er tut, nicht durch Neigungen und Wünsche, sondern allein von der Vernunft leiten lässt. Das Handlungsgesetz der »reinen praktischen« Vernunft bestimmt KantKant, Immanuel bekanntlich im kategorischen Imperativ: »Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Princip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.«7 Die Universalität der Vernunft wird gerade an der Pflicht, die Kant im kategorischen Imperativ formuliert, deutlich: Unbedingt und frei ist der menschliche Wille nur dann, wenn seine Maxime zur allgemeinen Gesetzgebung taugt.

      Wenn wir einmal beiseite lassen, dass KantKant, Immanuel die Ausbildung der Vernunftfähigkeit zur tatsächlichen Vernünftigkeit abhängig von geographischen und klimatischen Bedingungen v.a. bei den Europäern realisiert sah (s. Anm. 16), dann vermag die Vernunftkonzeption Kants in der Tat einen Universalismus zu begründen. Aufgrund ihrer Teilhabe an der einen universalen Vernunft sind die Menschen ihrem Wesen nach alle gleich, sie unterliegen denselben Pflichten und haben dieselben Rechte, nämlich niemals instrumentalisiert, sondern immer als Zweck an sich behandelt zu werden. Auf dieser Grundlage entwirft Kant denn auch das Ideal des »Weltbürgertums«, dessen Ausbildung zum »ewigen Frieden« zwischen den Völkern führen würde.8 Gemessen an der Einheit der »reinen praktischen« Vernunft sind kulturelle Differenzen zwischen den Völkern zweitrangig. Kulturelle Differenzen sind geographisch, klimatisch und historisch bedingt. Sie können der Ausbildung der tatsächlichen Vernünftigkeit des Menschen, dem »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« wie Kant sagt,9 mehr oder weniger förderlich, ja sogar hinderlich sein, an der Einheit der Vernunft und der prinzipiellen Vernunftfähigkeit des Menschen ändern sie nichts.

      Die kantische Begründung der Vernunft ist bis heute extrem wirkmächtig geblieben. Das Denken KantsKant, Immanuel steht auch heute noch bei vielen Vertretern universalistischer Ansätze im Hintergrund. Tatsächlich ist durch Kants Kritik der Vernunft, die eine Trennung von auf Erkenntnis gerichtetem Verstand und reiner theoretischer ebenso wie praktischer Vernunft vornimmt, viel gewonnen. Vor allem die Einsicht in die Freiheit des Menschen, die sich gerade darin verwirklicht, dass er sich unter das sittliche Gesetz stellt. Freiheit und Verantwortung des Menschen gehören unmittelbar zusammen. Dennoch ist die kantische Position heute allenfalls noch in angepasster Form haltbar. Das liegt zum einen an der historischen Erfahrung des Schreckens, wie wir sie im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Diese Erfahrung hat zu grundsätzlichen Vorbehalten gegenüber der Annahme einer grundsätzlich sittlich orientierten Vernünftigkeit des Menschen geführt. Zum anderen aber ist Kant schon von seinen Zeitgenossen dafür kritisiert worden, die Vernunft des Menschen gleichsam von der Welt entkoppelt zu haben. Die Universalität der Vernunft ist weltlos und folglich auch a-historisch, und sie verkennt die Notwendigkeit einer sprachlichen Vermittlung. Ich werde darauf in Kapitel 3 näher eingehen; im Folgenden stelle ich kurz einen Ansatz vor, der versucht, die Einheit der Vernunft zu retten und doch zugleich die genannte Kritik aufzunehmen.

      Habermas’ Diskurstheorie

      Ganz in diesem Sinne spricht HabermasHabermas, Jürgen in dem bereits erwähnten gleichnamigen Aufsatz von der »Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer Stimmen«. Die Vernunft, das haben schon HerderHerder, Johann G. (1744–1803) und Wilhelm von HumboldtHumboldt, Wilhelm v. (1767–1835), beide Zeitgenossen KantsKant, Immanuel, gezeigt, findet in der Sprache ihren Ausdruck. Sie ist sozusagen nicht frei zugänglich, sondern sprachlich vermittelt. Umgekehrt bedeutet das, dass die Sprache das Denken beeinflusst, eine Einsicht, die im 20. Jahrhundert zum so genannten »linguistic turn« und zur Sprachkritik geführt hat. Habermas schließt an diese Einsicht an, hält zugleich aber an der Einheit der Vernunft fest: »Denn Konzepte wie Wahrheit, Rationalität oder Rechtfertigung spielen in jeder Sprachgemeinschaft, auch wenn sie verschieden interpretiert und nach verschiedenen Kriterien angewendet werden, dieselbe grammatische Rolle.«1 Die Vernunft drückt sich in den verschiedenen Sprachen durchaus verschieden aus; auch fehlt der eine verbindliche Maßstab, nach dem zu entscheiden wäre, welchem Ausdruck die Menschen folgen sollten. Vielmehr muss um die Vernunft gerungen werden. Das immerhin bleibt möglich, schließlich sind die verschiedenen Sprachen allesamt Ausdrucksweisen der Vernunft. Habermas verortet die Vernunft freilich anders als Kant nicht mehr im einzelnen Subjekt (die Vorstellung von der Vernunft des Einzelnen ist durch die Erfahrungen der Nazi-Herrschaft nachhaltig erschüttert), sondern im Diskurs. Vernunft realisiert sich intersubjektiv. Die Begründung diskursiver Vernunft ist (im Anschluss an den Begründer der Diskurstheorie Karl-Otto ApelApel, Karl-Otto) letztlich eine pragmatische: Die Möglichkeit rationalen Argumentierens muss nämlich immer schon unterstellt werden, sonst würde es gar keinen Sinn machen, irgendwelche Geltungsansprüche zu erheben. Wenn wir etwas als wahr behaupten, dann erheben wir damit einen Geltungsanspruch, nämlich konkret den Anspruch, dass es sich so verhält, wie wir sagen.2 Habermas zufolge muss sich dieser Geltungsanspruch im Diskurs nun argumentativ bewähren. Er schlägt darum ein Konsensmodell der Wahrheit vor. Nur wenn prinzipiell alle, die am Diskurs teilnehmen könnten, diesem Geltungsanspruch auch zustimmen würden, ist die Behauptung tatsächlich wahr. Die Wahrheit von Aussagen – und damit sozusagen die Universalisierbarkeit eines vernünftigen Ausdrucks – hängen am Konsens aller. Habermas spricht deshalb von der »kommunikativen Vernunft«.3

      Der Diskurs unterliegt dabei einigen Bedingungen. Zum einen ist vorausgesetzt, dass die Diskursteilnehmer mit dem, was sie sagen, bestimmte Geltungsansprüche verbinden, das sind zum einen die Verständlichkeit des Gesagten und zum anderen, abhängig davon, ob sich der Diskurs auf die objektive, die soziale oder die subjektive Realität bezieht, der Anspruch auf objektive Wahrheit bzw. normative Richtigkeit und subjektive Wahrhaftigkeit. Zudem setzt HabermasHabermas, Jürgen eine »ideale Sprechsituation« voraus, die durch gleiche Chancen zur Beteiligung am Diskurs, die Möglichkeit, alle Geltungsansprüche gleichermaßen kritisch zu prüfen, Herrschaftsfreiheit und Aufrichtigkeit der Sprecher gekennzeichnet ist. Unter diesen Bedingungen ermöglicht der Diskurs Verständigung und Einigung unter dem »eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Argumentes«.4 Tatsächlich wird es eine solch ideale Sprechsituation in der Realität nicht geben, das behauptet auch Habermas nicht, aber der Diskurs muss sich doch wenigstens an ihr orientieren.

      Das habermasHabermas, Jürgen’sche Diskursmodell demokratisiert gleichsam den Gebrauch der Vernunft. Jeder Geltungsanspruch muss rational begründet werden und kann nur dann als eingelöst gelten, wenn alle ihm zustimmen. Das bedeutet keinesfalls, dass Habermas Geltungsansprüche für verhandelbar hält und der Etablierung von Mehrheitsmeinungen das Wort redet. Im Gegenteil, ein Geltungsanspruch ist so lange nicht universalisierbar, so lange er nicht von allen rational nachvollzogen werden kann. Habermas spricht Mehrheiten in einer Gesellschaft explizit das Recht ab, ihre eigene kulturelle Lebensform zur Leitkultur zu erheben.5 Die Forderung, alle gleichberechtigt in den Diskurs mit einzubeziehen, weitet er mit der Zeit über die eigene Sprachgemeinschaft hinaus auf grundsätzlich alle Menschen aus. Die Rationalitätsstandards des Diskurses sind nicht an die jeweilige Sprache und Kultur gebunden. Gmainer-PranzlGmainer-Pranzl, Franz hat deutlich gemacht, dass Habermas damit einen wesentlichen Beitrag zur Problemstellung interkultureller Philosophie zu leisten vermag.6 Allerdings droht die Voraussetzung allgemeiner Rationalitätsstandards des Diskurses, so Gmainer-Pranzl, das für interkulturelle Fragestellungen so wichtige Phänomen des Fremden zu verkennen. Fremd ist etwas nicht deswegen, weil es vorläufig unbekannt und unverstanden bleibt, sondern weil es sich grundsätzlich dem verstehenden Zugriff entzieht und gerade als