Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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FeminismusFeminismus (Luce IrigarayIrigaray, Luce) konstruktivistischen Denkweisen (Judith ButlerButler, Judith) gegenübergestellt werden. Im Kapitel 11 kommt ein Diskurs zur Sprache, der zeitweilig bereits historisch geworden zu sein schien, von dem aber noch immer nicht unerhebliche subkutane kulturpolitische Impulse ausgehen. Die Rede ist von der höchst aufschlussreichen Kategorie der ‚EntfremdungEntfremdung‘, die auf der TheseThese und dem NarrativNarrativ von Karl MarxMarx, Karl basiert, wonach es die modernemodern okzidentale kapitalistische ProduktionProduktion ist, die systematisch und strukturell Fremdheit erzeugt. Hierbei wird ‚Entfremdung‘ (ein Begriff, der ja eigentlich eine Rücknahme von Fremdheit meint), zum Inbegriff einer in ihrem Kern als tragisch interpretierten Selbstfremdheit des Menschen. Alle gesellschaftlichen und kulturellen Befreiungsbewegungen des 19., 20. und womöglich auch noch des 21. Jahrhunderts haben sich an diesem Befund entzündet. Die Konstatierung wachsender Fremdheit menschlicher Befindlichkeit bildet ein tragendes Element in allen FormenForm und Versionen von kritischen Theorien, von ihren Anfängen bei György LukácsLukács, György und Walter BenjaminBenjamin, Walter, über Günther AndersAnders, Günther bis zu Theodor W. AdornosAdorno, Theodor W. Spätwerk. Eine gänzlich andere Produktion des Fremden und Befremdlichen rückt mit der PhantastikPhantastik in den Vordergrund (→ Kapitel 12). Dabei springt einem der Zusammenhang von Fremdheit und LiminalitätLiminalität ins Auge. Über ÜbersetzungÜbersetzung als Mediation von Fremdheit geht es im dreizehnten und letzten Kapitel dieses Buches. Dabei werden im Anschluss an Benjamins Überlegungen zur ArbeitArbeit des Übersetzens literatur- (George SteinerSteiner, George) und kulturwissenschaftliche Ansätze (Boris BudenBuden, Boris) vorgestellt. Das Thema ‚HybriditätHybridität‘ wird in die Kommentierung miteinbezogen, in der es um eine SubjektSubjekt-Konstellation geht, in der die Differenz von EigenheitEigenheit und Fremdheit überwunden scheint und die Eigenheit als Fremdheit und umgekehrt die Fremdheit als Eigenheit erscheint.

      Ziel des Buches, das auf verschiedene Seminare zurückgeht, die der Verfasser im Laufe seiner akademischen Lehrtätigkeit gehalten hat, ist eine facettenreiche Darstellung der durchaus verschiedenen Annäherungen an das PhänomenPhänomen von AlteritätAlterität, die Diskussion ihrer Problematik und auch ihrer Brüchigkeiten, ihrer gesellschafts- und kulturpolitischen Implikationen. Ziel des Buches ist es auch, die in der Einleitung vorgenommene kategoriale Differenzierung des Alteritären – Alterität (DualitätDualität), FremdheitFremdheit (UnbekanntheitUnbekanntheit), Ausländisch-SeinSein (ExterritorialitätExterritorialität) – im Sinne einer die SpracheSprache einschließenden PhänomenologiePhänomenologie immer wieder zur Sprache zu bringen. Bei der Sichtung des theoretischen Materials ist es wichtig zu prüfen, welche FormForm von Alterität die jeweiligen Zugänge in den Mittelpunkt rücken und wie bzw. ob sie diese verschiedenen Dimensionen des ‚Fremden‘ herausarbeiten.

      Dabei werden, wie gesagt, verschiedene Disziplinen und methodische Ansätze vorgestellt und diskutiert, PhänomenologiePhänomenologie und DekonstruktionDekonstruktion, systemische Konzepte der SoziologieSoziologie, cultural studies, diverse psychoanalytische Zugänge, komparatistische Ansätze, literarische und politische Perspektiven. Wie schon ein früheres Einführungsbuch des Verfassers (Kulturtheorie), ist auch dieses einem Verfahren verpflichtet, das als close reading bezeichnet wird. Programmatische Absicht des Buches ist, sich auf zumeist kurze und überschaubare Texte zu konzentrieren und diese auch hinsichtlich ihrer sprachlichen und rhetorischen Struktur gründlich und kommentierend zu lesen und zu befragen.

      Bei der Auswahl des Materials kam es ganz unvermeidlich zur Qual der Wahl. Ein entscheidendes Kriterium war dabei, inwiefern die ausgewählten Texte im Sinne der DiskursanalyseDiskursanalyse Michel FoucaultsFoucault, Michel diskursbegründend sind bzw. waren,3 d.h. die gedankliche Auseinandersetzung mit einem bestimmten Thema, in diesem Falle FremdheitFremdheit, bestimmt haben. In diesem Zusammenhang liegt der Begriff der ‚klassischen‘ Texte nahe. Der SoziologeSoziologe Rudolf StichwehStichweh, Rudolf versteht, der philologischen TraditionTradition folgend, darunter Texte, „die gelesen und immer erneut gelesen werden“.4 Ein solcher Text wird auch dann noch gelesen, selbst wenn er im Kern zurückgewiesen worden ist, weil er, wie Stichweh unter Berufung auf Niklas LuhmannLuhmann, Niklas5 argumentiert, im Hinblick auf eine bestimmte „Problemstellung“ eine fortdauernde Geltung besitzt.6 Nicht selten werden in den Kapiteln neuere Texte aufgerufen und einer intensiven Lektüre unterzogen, die die Grundüberlegungen der Diskursbegründer weiterentwickelt haben.

      Es war mir ein besonderes Anliegen, nicht nur die jeweiligen Stärken, sondern auch die Unzulänglichkeiten der jeweiligen Konzepte herauszuarbeiten. Entstanden ist ein Buch, das sich mit HeterogenitätHeterogenität befasst und selbst Theorien und Komplexe vorstellt, die in ihrer Unterschiedlichkeit und Inkompatibilität zeigen, wie vieldeutig und facettenreich AlteritätAlterität ist.

      2. Die KonstruktionKonstruktion des Anderen in der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie

      2.1. Der „gespenstische SchattenSchatten“ HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich

      Das folgende Kapitel behandelt einen KulturtransferKulturtransfer zwischen DeutschlandDeutschland und FrankreichFrankreich. Er bezieht sich vornehmlich auf Georg Wilhelm Friedrich HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich (1770–1831) und Martin HeideggerHeidegger, Martin (1889–1976), die nach dem 2. Weltkrieg einen maßgeblichen EinflussEinfluss auf das französische Denken erlangten. Im Falle Hegels steht dabei sein erstes und berühmtestes Werk, die PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist (1807), im ZentrumZentrum des Interesses der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie. Insbesondere ein einziger Abschnitt aus dem Schlüsselwerk des Deutschen IdealismusDeutscher Idealismus, nämlich jener, in dem Hegel sich mit der Entstehung des SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein beschäftigt, hat dabei eine prominente Rolle gespielt. Zu dessen Erlangung bedarf es, so Hegel, nämlich eines Gegenübers, eines Zweiten, eines potentiellen anderen ipse im Sinne von RicœursRicœur, Paul Theorie (→ Kapitel 1).

      Der Idealismus HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich hat im Verlauf seiner RezeptionRezeption so manche Umwandlung erfahren, angefangen bei seinem Schüler Karl MarxMarx, Karl, der für sich reklamierte, dessen Philosophie vom KampfKampf auf die Füße gestellt zu haben,1 bis hin zur Luhmannschen SystemtheorieLuhmannsche Systemtheorie. Hegels Konzept eines ideellen Kampfes zwischen zwei potentiellen ‚Selbstbewußtseinen‘ ist nicht selten mit der Marxschen Konzeption des sozio-ökonomisch bestimmten KlassenkampfesKlassenkampf und in Verlängerung damit auch mit seiner Denkfigur der EntfremdungEntfremdung (→ Kapitel 11) verbunden worden. In der französischen Diskussion wird diese marxistische Adaption Hegels zwar aufgenommen (von Alexandre KojèveKojève, Alexandre wie von Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul), was angesichts der Allgegenwart des politischen MarxismusMarxismus in FrankreichFrankreich nach 1945 nicht weiter Wunder nimmt. Sie wurde aber insofern an entscheidender Stelle verändert und verfeinert, als Hegel zum Ausgangspunkt für ein Denken wird, das nunmehr die Figur des Anderen und nicht mehr die des SelbstSelbst in den Vordergrund rückt. Im Sinne der Unterscheidung der drei Phänomenlagen von AndersheitAndersheit (→ Kapitel 1) befinden wir uns also auf jener Ebene, die durch die Figur des Anderen bestimmt ist. Weder der ‚HerrHerr‘ noch der ‚KnechtKnecht‘ besitzenBesitzen positive (oder negative) Eigenschaften und Prädikate, es geht auch nicht darum, dass sie einander ‚fremdfremd‘ sind; ihre Verschiedenheit ergibt sich vielmehr aus einer RelationRelation, die als Kampf beschrieben wird. Dass sie sich unterscheiden, ist das Ergebnis eines Kampfes und bezieht sich auf ihre unterschiedliche Stellung in einem sozialen RaumRaum (sozial).

      Von einem „gespenstischen SchattenSchatten HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich“ spricht Michel FoucaultFoucault, Michel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France im Jahr 1970. Damit ist gemeint, dass die französische Philosophie, die nach 1945 durch Theorien wie die PhänomenologiePhänomenologie und den StrukturalismusStrukturalismus geprägt wurde, noch immer versuche, der Philosophie Hegels zu „entkommen“, von der sie ihren Ausgang genommen hat.2 Foucault ist sich in seinem Résumé übrigens keineswegs sicher, ob diese Befreiung von Hegel letztendlich gelungen sei:

      Aber um HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich zu entkommen, muß man ermessen, was es kostet, sich von ihm loszusagen; muß man wissen, wie weit uns Hegel insgeheim nachgeschlichen ist; und was in unserem Denken gegen