Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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in der zweiten Etappe der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, etwa bei Gilles DeleuzeDeleuze, Gilles (1925–1995). In diesem intellektuellen Umfeld sind auch die bereits erwähnten Bemerkungen FoucaultsFoucault, Michel zu Hegel in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France Die OrdnungOrdnung des DiskursesDiskurs zu verstehen. Damit einher geht ein radikaler WandelWandel des Denkens. An die Stelle von NegationNegation und IdentitätIdentität, Pfeiler einer post-hegelianischen DialektikDialektik, tritt bei Deleuze9 und DerridaDerrida, Jacques eine Denkbewegung, in deren ZentrumZentrum die DifferenzDifferenz und die WiederholungWiederholung stehen. Descombes fasst diese folgendermaßen zusammen:

      HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich hatte gesagt, der Unterschied sei in sich widersprüchlich. Nun aber geht es darum, einem Denken des nicht-widersprüchlichen, nicht-dialektischenDialektik Unterschiedes Bahn zu machen, der nicht das einfache Gegenteil der IdentitätIdentität ist und nicht unter dem ZwangZwang steht, sich ‚dialektisch‘ mit der Identität identisch erklären zu müssen.10

      In dieser theoretischen Anstrengung, das Andere neu zu denken, wird eine bestimmte Auffassung von DifferenzDifferenz entscheidend. DerridaDerrida, Jacques wird den sprachlich ‚unmöglichen‘ Begriff der ‚différancedifférance‘ prägen, der phonetisch, nicht aber in der Schreibweise mit dem klassischen Terminus différencedifférence identisch ist. HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich DialektikDialektik fasst den Unterschied als kontrastiv, um diesen WiderspruchWiderspruch in einem zweiten Schritt zu versöhnen. Diese FormForm der IdentitätIdentität ist dialektisch. NarrativNarrativ gesprochen handelt es sich um die Versöhnung von Widersprüchen. Das anti-dialektischeanti-dialektisch Denken des Anderen beruht bei DeleuzeDeleuze, Gilles und noch stärker bei Derrida auf einer Auffassung, in der Differenz und Identität potentiell zusammenfallen, aber nicht infolge der Figur einer versöhnenden und abschließenden Dialektik. Die Differenz, die kein Widerspruch und kein Unterschied im klassischen Sinn ist, wird gleichsam als eine offene Stelle verstanden, die sich nicht schließt. Das SelbstSelbst und das Andere stehen sich als nicht oppositionell gegenüber, sondern sind schon von vornherein in der Differenz miteinander verbunden. Oder andersAndersheit ausgedrückt, die Differenz ist in dieser Version ein Grenzbegriff. Wie DescombesDescombes, Vincent betont, versteht sich die DekonstruktionDekonstruktion als eine Reflexion der okzidentalen Philosophie, die vor dem postkolonialenpostkolonial Hintergrund, hier dem Ende des KolonialismusKolonialismus, „als Ideologie der europäischen EthnieEthnie“ begriffen wird.11

      ManMan, Paul de könnte den ÜbergangÜbergang von der einen Position zur anderen als die Radikalisierung eines rationalitätskritischen Denkens in FrankreichFrankreich, dem Land der AufklärungAufklärung und des RationalismusRationalismus, betrachten. Dieses entzündet sich an der Figur des Anderen und des Fremden als eines prinzipiell Unzugänglichen. Das Fremde ist durch eine GrenzeGrenze markiert, die freilich nicht genau festlegbar ist.

      Das klassische, nicht-dialektischeDialektik Denken hat eine klare GrenzeGrenze zwischen dem RationalenRationale und dem IrrationalenIrrationale gezogen. Die dialektische Denkfigur wird nun als eine Möglichkeit begriffen, bisherige Grenzen zu überschreiten, die der klassischen VernunftVernunft verschlossen blieben. Aber damit geht eine Umkehrung der Auffassung von RationalitätRationalität einher. In dieser Denkbewegung kommt es zu einem strukturellen Bezug der Vernunft auf ein ihr ganz Fremdes, ihr Anderes. DescombesDescombes, Vincent schreibt in diesem Zusammenhang:

      Die FrageFrage bleibt also, ob diese BewegungBewegung dazu führt, dass das Andere zum Selben gemacht wird, oder ob die VernunftVernunft, um gleichzeitig das RationaleRationale und das IrrationaleIrrationale, das Selbe und das Andere zu umfassen, eine Metamorphose vollziehen, ihre ursprüngliche IdentitätIdentität verlieren, dieselbe zu sein aufhören und mit dem Anderen eine andere werden wird. Das Andere der Vernunft aber ist die Unvernunft, der Wahnsinn. So stellt sich das Problem eines Weges von der Vernunft zum Wahnsinn oder zum Irrtum, eines Weges, ohne den es keinen Zugang zu wahrhafter Weisheit gibt.12

      DescombesDescombes, Vincent’ Kommentar weist daraufhin, dass in der von DerridaDerrida, Jacques maßgeblich beeinflussten Denkbewegung das Selbe und das Andere nicht mehr einander gegenüberstehen, sondern auf paradoxe Weise einen Platzwechsel vollziehen. Das, was in der traditionellen LogikLogik im Sinne einer negativen Definition zur Bestimmung des SelbstSelbst als des Eigenen diente, nämlich das Andere, wird nunmehr zum Bestimmungsmoment dieses Selbst, das dadurch aber sein ‚Eigen-SeinSein‘ verliert. Damit wird auch die VernunftVernunft gleichsam deplatziert, weil sie weder das bestimmende Moment in der nunmehr paradoxen RelationRelation zwischen dem Selbst und dem Anderen darstellt, noch diese paradoxe Relation in ihren ‚klassischen‘ Figuren (NegationNegation, DialektikDialektik) erfassen kann.

      Indem die VernunftVernunft aber ihr vorgängig Anderes, das Nicht-Vernünftige, den ‚Wahnsinn‘, nicht länger kategorisch ausschließt, verändert diese ihren Charakter. Es geht also nicht darum, die Vernunft in einem Akt klassischer NegationNegation zu verabschieden, sondern das Andere als ihren paradoxen Bestandteil zu begreifen. Das Denken der DifferenzDifferenz ist eines, das die GrenzeGrenze stark macht: Es handelt sich um jene Grenze, die sich das SelbstSelbst und das Andere ‚teilenteilen‘ (→ Kapitel 1). Der Terminus „Weisheit“, der von KojèveKojève, Alexandre entlehnt ist, steht in DescombesDescombes, Vincent’ Kommentar offenkundig für eine neue FormForm von Wahrheit, die den Wahnsinn umschließt.

      Ganz offenkundig interpretiert DescombesDescombes, Vincent beide Perioden der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie in diesem Sinne. Denn die Umkehrung des Verhältnisses des Selben und des Anderen ist der Tendenz nach schon bei Denkern wie LévinasLévinas, Emmanuel, Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice oder KojèveKojève, Alexandre gegeben. Die Radikalisierung besteht vornehmlich darin, dass sich nachfolgende Denker wie DerridaDerrida, Jacques von jenen Denkfiguren verabschieden, die implizit noch immer die Vorstellung eines autonomenAutonomie SelbstSelbst tradieren. Der Andere13, von dem Descombes spricht, ist Derselbe oder fällt mit diesem in der DifferenzDifferenz zusammen.14 In diesem Sinn kommt es zur Überwindung der EntfremdungEntfremdung (→ Kapitel 11), aber auch zu einem Ende des MenschenMensch als eines handlungsmächtigen Wesens.

      2.3. HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Phänomenologie des Geistes. Lektüre des Abschnitts über HerrHerr und KnechtKnecht

      Wenden wir uns zunächst einmal jenem Text zu, der in der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie eine so erstaunliche wie nachhaltige Wirkung erfahren hat, nämlich dem Abschnitt aus HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist. Diese Abhandlung hat – neben der RechtsphilosophieRechtsphilosophie – für die KonstitutionKonstitution der Marxschen Theorie, etwa seines Konzepts des KlassenantagonismusKlassenantagonismus, eine bemerkenswert untergeordnete Rolle gespielt. Es ist, wie gesagt, jener Text, in dem die Figur des Anderen als einer bestimmenden InstanzInstanz in der okzidentalen Philosophie debütiert.

      HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Philosophie lässt sich vielleicht am besten verstehen, wenn man sie als Teil jener Philosophie begreift, die die idealistische Philosophie Immanuel KantsKant, Immanuel und Johann Gottlieb FichtesFichte, Johann Gottlieb unter anderen Vorzeichen fortschreiben und zur Vollendung bringen möchte. Dabei steht sie in einem merkwürdigen Nahe- und zugleich Abgrenzungsverhältnis zu einer Zeitströmung, in der die AlteritätAlterität schon eine wichtige Rolle spielt. Gemeint ist die RomantikRomantik, in der das Andere, als Gegenpart zur VernunftVernunft, in der Gestalt des DoppelgängersDoppelgänger und des Spiegelbildes auftritt (→ Kapitel 3). Die Romantik ist der feindliche Bruder von Hegels Vernunftphilosophie, ihr Gegenpart. Es lässt sich sagen, dass es ein Schreckbild der ModerneModerne gibt, gegen das Hegels Denken anschreibt. Es hat mit der Konfiguration des Fremden als eines UnheimlichenUnheimliche, das zu tun. Mehrfach erwähnt sein Œuvre die Gestalt des schrecklichen Gespenstes E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.. Hegel selbst scheint diese Unheimlichkeit gekannt und reflektiert zu haben, denn in einer seiner Jugendschriften, der Jenaer Realphilosophie (1805/06), die vor dem endgültigen Bruch mit seinem Weggefährten und Studienkollegen Friedrich Wilhelm Joseph SchellingSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph, dem zeitweiligen Weggefährten der deutschendeutsch Frühromantiker, verfasst wurde, findet