Geschichte der MenschheitMenschheit ist zugleich eine AutobiographieAutobiographie der GattungGattung, die sich von den bescheidenen Anfängen passiven Betrachtens zum absoluten GeistGeist erhebt.9
Das absolute Wissen ist objektiv möglich geworden, weil in und durch NapoleonNapoleon der wirkliche Prozeß der geschichtlichen Entwicklung, in dessen Verlauf der MenschMensch neue Welten geschaffen hat und sich selbst in diesem SchattenSchatten verwandelt hat, an sein Endziel gelangt ist.10
Dieses NarrativNarrativ, das nach vielen Irrungen und Wirrungen – hier ließe sich noch einmal auf die narrative Konfiguration der OdysseeOdyssee Bezug nehmen – auf ein endgültiges und glückliches Ende der WeltgeschichteWeltgeschichte zustrebt, ist eine große Erzählung im Sinne Jean-François LyotardsLyotard, Jean-François,11 vermutlich ist sie sogar eine Meta-Erzählung, die alle großen Erzählungen mit einschließt. Sie bildet das Kernstück von HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Philosophie, wie sie bereits in der PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist vorliegt.
Der französische Kommentator spannt HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Philosophie in einen geschichtsphilosophischen Bezugsrahmen, in dessen ZentrumZentrum BegehrenBegierde (Begierde), KampfKampf und ArbeitArbeit stehen. Der MenschMensch konstituiere sich, so KojèvesKojève, Alexandre Hegel-Interpretation, durch die Begierde. Durch diese werde er erst eigentlich zum Ich und durch sie werde er zu sich gebracht.12 In einem nächsten Schritt operiert der Kommentar mit einer binären Unterscheidung von Mensch und TierTier (→ Kapitel 9). Das menschliche Begehren hat immer schon, über das primäre Begehren nach Dingen, eine sekundäre soziale und kulturelle Dimension: Es drückt sich zum Beispiel in einem Streben nach AnerkennungAnerkennung aus. Wird er in der passiven „sinnlichen Gewissheit“, wie Hegel den anfänglichen und ‚embryonalen‘ Zustand der VernunftVernunft nennt, von dem Ding, dem ObjektObjekt der Außenwelt, absorbiert, so zielt das Begehren darauf, das Ding durch eine Tat zu verwandeln und zu negieren. An dieser Stelle kommt die Arbeit ins SpielSpiel. Denn sie ist ein Tun, das mit der Begierde Hand in Hand geht und die Voraussetzung für die Erfüllung des Verlangens schafft. Voraussetzung für das menschliche SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein ist darüber hinaus, dass es stets mehrere Begierden gibt, die sich wechselseitig begehren.
Die Begehrlichkeiten des MenschenMensch gehen über die primären animalisch-biologischen, wie den Hunger, hinaus. Jenes reziproke Verlangen, das auf AnerkennungAnerkennung zielt, kann jedoch nur um den Preis befriedigt werden, dass der Mensch sein biologisches LebenLeben aufs SpielSpiel setzt.13 KojèveKojève, Alexandre zufolge sagt HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich,
[…] dass ein Wesen, das nicht imstande ist, sein LebenLeben zur Erreichung nicht unmittelbar lebenswichtiger Ziele aufs SpielSpiel zu setzen, d.h., das sein Leben nicht in einem KampfKampf um die AnerkennungAnerkennung, in einem reinen Prestigekampf einsetzen kann, kein wirklich menschliches Leben ist.14
KojèvesKojève, Alexandre Konzept der BegierdeBegierde kennt insgesamt vier Bestimmungen:
1 Sie ist meine BegierdeBegierde und geht Hand in Hand mit der ErfahrungErfahrung des Ich, Ich will.
2 Die BegierdeBegierde negiert, assimiliert oder verwandelt das begehrte Ding.
3 Das menschliche BegehrenBegierde bezieht sich nicht auf ein Daseiendes, sondern auf ein Nicht-Seiendes. „Die Begierde muss, um anthropogen zu sein, sich auf ein Nichtseiendes beziehen, d.h. auf eine andere Begierde, auf ein anderes lechzendes Leeres, auf ein anderes SelbstSelbst.“ Sie ist auf eine andere Begierde verwiesen.
4 Der MenschMensch ist das bedürftige Wesen, das um seine Bedürftigkeit weiß.15
Durch das BegehrenBegierde und seine Verschränkungen kommt die Konfiguration des symbolisch unmarkierten Anderen ins SpielSpiel. Dabei ist diese Konfiguration sowohl ein Hindernis als ein Ermöglichungsgrund:
Der MenschMensch muß ein Leeres sein, ein NichtsNichts, das nicht reines Nichts ist, sondern ein Etwas, das insofern ist, als es Seiendes vernichtet, um auf seine Kosten sich selbst zu verwirklichen und im SeinSein zu richten.16
Unverkennbar und der Diktion HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich folgend, dominiert in diesem Konzept von AlteritätAlterität eine agonale Dimension, die überdies den MenschenMensch, der nicht sein LebenLeben riskiert und der den knechtischen Aspekt des SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein ausmacht, merkwürdig, ja auf skandalöse Weise belastet. Seine Situation der MarginalisierungMarginalisierung ist im KantKant, Immanuelschen Sinne selbstverschuldet,17 weil er sein biologisches Leben nicht aufs SpielSpiel zu setzen imstande gewesen ist. Umgekehrt erfährt die ‚herrische‘ Position eine Legitimation, nicht nur weil sie die einer Siegerposition ist, sondern weil sie das Ergebnis einer heroisch- ‚romantischen‘ Bereitschaft darstellt, sein Leben um seiner selbst aufs Spiel zu setzen. Selbstbewusstsein wird in KojèvesKojève, Alexandre umfangreichem Kommentar negativ als das „Ausschließen alles anderen“ definiert. Das würde linear zu Ende gedacht zur Vernichtung des störenden Anderen führen. Aber in Hegels Philosophie wird das andere bedrohliche, potentielle ebenfalls mit sekundärer BegierdeBegierde ausgestattete, aber scheiternde Selbstbewusstsein nicht vernichtet so wie die Dinge, die ObjekteObjekt dieser WeltWelt, vielmehr wird der Gegner ‚dialektischDialektik‘ aufgehoben.18 Aufheben hat im Denken Hegels, wie schon erwähnt, stets eine doppelte Bedeutung, verschränken sich doch in ihm zwei Momente, BeseitigungBeseitigung und BewahrungBewahrung. Die Hegelsche Dialektik, an der sich die zweite GenerationGeneration der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie abarbeiten wird, vollbringt das Unmögliche, die VerbindungVerbindung der Gegensätze. So wird das Gegenüber im KampfKampf um AnerkennungAnerkennung symbolisch vernichtet und auf einen minderwertigen, ‚tierischen‘ Status herabgedrückt. Biologisch überlebt der marginalisierte Andere allerdings in der nun entstandenen asymmetrischenAsymmetrie RelationRelation von HerrHerr und KnechtKnecht.
Warum ist es, wie KojèveKojève, Alexandre an mehreren Stellen seines Kommentars betont, notwendig, dass beide Gegner am LebenLeben bleiben und dass es einen Sieger gibt, dessen superiore Position von dem Anderen anerkanntAnerkennung werden muss, dem der Sieger wiederum das Leben schenkt?19 Kojève formuliert das an einer Stelle sehr pathetisch und affirmativ. Er geht davon aus, dass Menschwerdung und HerrschaftHerrschaft einander scheinbar bedingen:
Der MenschMensch wurde geboren und die GeschichteGeschichte begann mit dem ersten KampfKampf, der mit dem Auftauchen eines Herrn und eines Knechts endete. Das heißt, daß der Mensch ursprünglich immer entweder HerrHerr oder KnechtKnecht ist; und es gibt keinen wirklichen Menschen, wo es nicht einen Herrn und einen Knecht gibt.20
Warum ist es nun notwendig, dass der Unterlegene am LebenLeben bleibt? Vordergründig deshalb, damit der Sieger jemanden hat, der ihn als Sieger anerkennt. Der KnechtKnecht arbeitet für den Herrn und befriedigt dessen Bedürfnisse, ohne dass letzterer sich selbst anstrengen muss. Die Pointe besteht aber darin, dass nur das Überleben jene sekundäre BegierdeBegierde befriedigen kann, die den Ausgangspunkt des KampfesKampf bildete: die AnerkennungAnerkennung durch einen Anderen, der mit derselben sekundären Begierde nach Anerkennung ausgestattet ist.
So ist der Andere Bedrohung und Bedingung der Möglichkeit eines selbstbewussten SeinsSein. Er ist eine Bedrohung, insofern wir in einem Rivalitätsverhältnis zueinander stehen, er ist die (einzige) Möglichkeit, um SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein zu erlangen. Denn ohne AnerkennungAnerkennung kann aus einem potentiellen kein ‚wirkliches‘ Selbstbewusstsein werden–nichts anderes bedeuten die von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich verwendeten Kategorien des an sich und für sich. Etwas Ähnliches meint übrigens eine weitere zentrale Kategorie im Hegelschen Denken: Vermittlung. Der Andere ist ein Mittel, ein ‚Medium‘ in diesem Bewusstseinsprozess, er ist aber auch eine mediative InstanzInstanz, die immer dann in Erscheinung tritt, wenn in Hegels Philosophie die Gegensätze aufeinanderprallen und eben dialektischDialektik ‚vermittelt‘, das heißt überbrückt, genauer ‚aufgehoben‘ werden.
HerrschaftHerrschaft bedeutet abstrakt betrachtet, dass der eine, der den KampfKampf aufgibt, für den anderen arbeiten muss, während der andere womöglich kämpft, aber nicht arbeitet. Beide sind am LebenLeben geblieben und aufeinander angewiesen, insbesondere aber der HerrHerr auf die