Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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SeinSein und NichtsNichts begreift und zwischen den beiden PolenPolen ‚vermittelt‘. Dabei greift Kojève zu einem GleichnisGleichnis, jenem vom Goldring:

      Nehmen wir einen goldenen RingRing. Er hat ein LochLoch und dieses Loch ist für den Ring ebenso wesentlich wie das Gold: ohne das Gold wäre das ‚Loch‘ (das dann im übrigen gar nicht existieren würde) kein Ring; aber ohne das Loch wäre das Gold (das gleichwohl existieren würde) auch kein Ring. Doch während man im Golde Atome gefunden hat, ist es ganz unnötig, sie in dem Loch zu suchen. Und nichts weist darauf hin, dass Gold und Loch in ein und derselben Weise ‚sind‘ (Es handelt sich selbstverständlich um das Loch als ‚Loch‘ und nicht um die Luft, die ‚in dem Loch‘ ist). Das Loch ist ein NichtsNichts, das als AbwesenheitAbwesenheit einer AnwesenheitAnwesenheit nur dank des umgebenden Goldes existiert. Ebenso könnte der MenschMensch, der Tun ist, dank des SeinsSein, das er ‚negiert‘, ein im Sein ‚nichtendes‘ Sein sein.8

      Selbstredend ist damit ein zentrales Problem der OntologieOntologie, der Lehre vom SeinSein, angesprochen, ja mehr noch, benannt. Es geht um die RelationRelation von Sein und NichtsNichts. In der philosophischen TraditionTradition (ParmenidesParmenides) trifft man die Unterscheidung, dass das Sein ist und dass das Nichts nicht ist. KojèveKojève, Alexandre meint nun, dass Parmenides eine Bestimmung vergessen habe, nämlich die DifferenzDifferenz. Für ihn ist es ganz offenkundig, dass es einen Unterschied zwischen dem Nichts und dem Sein gibt. Dieser Unterschied, diese Differenz, gibt es im gleichen Maße wie das Sein. Denn ohne einen solchen Unterschied zwischen dem Sein und Nicht-Sein gäbe es das Sein nicht. Um auf die Fabel zurückzukommen: Es besteht ein dialektischesDialektik Verhältnis zwischen dem Sein, dem Gold und dem Nichts, dem LochLoch. Sie besteht im „EinschlussEinschluss“ des Nichts ins Sein oder der Differenz in die IdentitätIdentität bzw. in der Vereinigung der beiden: Das Gold (das Sein) bedarf sicher nicht des Loches (Nichts), um zu sein, aber der Goldring (die WeltWelt) wäre nicht, was er ist, nämlich ein Goldring, wenn es das Loch nicht gäbe.

      Hier wird eine DialektikDialektik gestiftet, die einen Gegensatz zur klassischen binären LogikLogik postuliert. Diese beruht darauf, einem bestimmten SubjektSubjekt S ein eindeutiges Prädikat P zuzuordnen. Indem die Dialektik zeigt, dass S P und zugleich nicht P ist, untergräbt sie die logische OrdnungOrdnung der Dinge, die auch für das Sprechen über den Anderen von entscheidender Bedeutung wird. Oder andersAndersheit ausgedrückt: Die Dialektik nähert sich dem Paradox, vor allem dann, wenn die Doppeldeutigkeit nicht mehr durch die Figur der SyntheseSynthese, der EinheitEinheit der Gegensätze, dialektisch geschlossen wird. Aber damit wird es möglich, die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden, von IdentitätIdentität und DifferenzDifferenz zu hinterfragen, weil immer das Andere und auch Fremde in das Eigene eingeschrieben sind.

      2.6. Die Hölle, das ist der Andere: SartreSartre, Jean-Paul

      Auch Jean-Paul SartresSartre, Jean-Paul während des Zweiten WeltkriegsZweiter Weltkrieg verfasste Werk L’ être et le néant. Essai d’ontologie phenomenologique (1943) (deutschdeutsch: Das SeinSein und das NichtsNichts. Versuch einer phänomenologischen OntologieOntologie, 1952) ist einem ‚humanistischen‘ Alteritätskonzept verpflichtet, in dem, wie sich schon im Titel ankündigt, das Moment der NegationNegation im Mittelpunkt steht. Das seinerzeit höchst einflussreiche, heute aber verblasste Werk markiert im DiskursDiskurs über AlteritätAlterität einen ÜbergangÜbergang von der klassischen post-idealistischen Philosophie zu gegenwärtigen Konzepten des Anderen und Fremden.

      Die Überlagerung von traditionellem philosophischen Denken und innovativem Anspruch lässt sich sowohl an der Gliederung des Werkes wie an der theoretischen Strategie des Buches ablesen. Zunächst beschäftigt sich SartreSartre, Jean-Paul mit dem ‚dialektischenDialektik‘ Verhältnis von SeinSein und NichtsNichts, um sich dann im zweiten Teil dem Für-sich-sein und im dritten dem Für-Andere-SeinFür-Andere-Sein zu widmen. Diese Anordnung suggeriert, dass das Andere zeitlich wie logisch nachordenbar ist. So wird zwar die Gegenüberstellung von Eigenem und Fremden, dem für sich und für andere, immer wieder unterlaufen, jedoch zugleich bestätigt. Mit anderen Worten, Sartres Werk ist eines des ÜbergangsÜbergang.

      Von Anfang an versucht SartreSartre, Jean-Paul, einen dritten Weg zwischen den zwei Hauptströmungen abendländischer Philosophie einzuschlagen, oder, um HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Terminologie zu benützen, zwischen diesen beiden zu vermitteln. Vereinfacht gesprochen ist der RealismusRealismus, insbesondere nach der Kantschen Wende, philosophisch vorkritisch geworden. Die idealistische Philosophie hat aber insofern Schwierigkeiten mit dem Anderen, als dieser, insbesondere in radikalen Versionen, nur als Teil meiner Vorstellungswelt vorkommt. Die Figur des Anderen stellt also eine Herausforderung für das okzidentale Denken dar. Diese bezeichnet Sartre in einer Kapitelüberschrift als „die Klippe des SolipsismusSolipsismus“, jener Denktradition, in der der MenschMensch vornehmlich als singuläres und nicht als soziales Wesen fokussiert wird.1 Während also der Realist die Tatsache des Anderen für gewiss hält, diese indes niemals als ein Problem angesehen und sich damit beschäftigt hat, ist der Andere in dem von KantKant, Immanuel initiierten kritischen Idealismus lediglich ein ObjektObjekt unserer Vorstellungswelt. Sartre schreibt mit unüberhörbar kritischer DistanzDistanz über Kant:

      Diesen Anderen, dessen Verhältnis zu mir wir nicht erfassen können und der nie gegeben ist, konstituieren wir nach und nach als ein konkretes ObjektObjekt; er ist nicht das Instrument, das dazu dient, ein Ereignis meiner ErfahrungErfahrung vorauszusehen, sondern die Ereignisse meiner Erfahrung dienen dazu, den Andern als Andern zu konstituieren, das heißt als Vorstellungssystem außer Reichweite wie ein konkretes und erkennbares Objekt.2

      Wenn der Andere nur als ein intellektuelles ProduktProdukt unseres Bewusstseins erscheint, dann ist er von vornherein kein Anderes im Sinne eines Draußen, das uns widerfährt. Dann reduziert sich ErfahrungErfahrung auf ein rein inneres kognitives „Ereignis“. Die Pointe besteht nun aber darin, dass der Andere nicht nur für uns ein Wahrnehmungsobjekt ist, sondern umgekehrt auch wir für ihn. Der Andere ist von daher die „radikale NegationNegation meiner Erfahrung“: Er durchbricht meinen SolipsismusSolipsismus dadurch, dass ich bemerke, wahrgenommen zu werden: „Der Andere ist ja nicht nur der, den ich sehe, sondern auch der, der mich sieht.“3 Damit wird ein absoluter Solipsismus, den SartreSartre, Jean-Paul als „ontologischesOntologie Alleinsein“ bezeichnet, obsolet. Favorisiert wird an dieser Stelle eine bescheidenere Version, die im Sinne der PhänomenologiePhänomenologie HusserlsHusserl, Edmund gegenüber der Erfassung und dem Begriff des „Andern“4 Zurückhaltung (epoché) übt und jede unkritische VerdinglichungVerdinglichung des Anderen zu vermeiden trachtet.5

      Der Andere ist der, der mich ins Visier nimmt und ohne den das PhänomenPhänomen der SchamScham (→ Kapitel 9), das für SartreSartre, Jean-Paul zentral ist, nicht denkbar wäre. In dieser Szene erfolgt der Umschlag des Für-sich-SeinsFür-sich-Sein in das Für-Andere-SeinFür-Andere-Sein: Die Scham sei, so Sartre, die Scham vor jemandem, und obwohl der Autor zuvor suggeriert hatte, die Scham sei eine intimeintim Beziehung zu mir selbst, so enthält sie eine Dimension, die dieses Für-sich übersteigt. Über Sartre hinaus gesprochen, lässt sich sagen, dass diese IntimitätIntimität sich erst durch die AnwesenheitAnwesenheit des Anderen herstellt, doch soweit möchte Sartre in seinem „bescheidenen“ SolipsismusSolipsismus nicht gehen. Aber er beschreibt, wie sich der, die oder das Andere in das Eigene eindrängen:

      Ich habe mich ungeschickt oder grob benommen: dieses Benehmen haftet an mir, ich beurteile und tadle es nicht, ich lebe es einfach, ich realisiere es nach dem Modus des Für-sich. Aber plötzlich hebe ich den Kopf; jemand war da und hat mich gesehen. Mit einemmal realisiere ich die ganze Grobheit meines Benehmens und schäme mich.6

      Das ist eine Schlüsselpassage des ganzen Buches und demonstriert die Zwiespältigkeit seines ganzen Ansatzes. Denn einerseits schämt sich SartresSartre, Jean-Paul Ich dafür, was es ist, sozusagen ganz für sich allein, aber andererseits ist dieses Schamgefühl doch undenkbar ohne die – vorgängige – AnwesenheitAnwesenheit eines Anderen, der von außenAußen hinzutritt und sich nicht schon im ‚Feld‘ des Intimen befindet. An anderer Stelle heißt es: „Der Andere ist der, der nicht ich ist und der ich nicht bin.“ Dadurch entsteht ein NichtsNichts, das ein Trennungselement darstellt: „Zwischen dem Andern und mir