für den die Begegnung mit dem Anderen vornehmlich als eine Auslieferung an ein Fremdes, das nicht ich bin, erscheint. Mag der Andere auch eine InstanzInstanz sein, die mich ermöglicht, so entmächtigt sie mich zugleich. Etwas Misanthropisches umgibt diesen ‚linken‘ HumanismusHumanismus, und es drängt sich die FrageFrage auf, ob die von Sartre beschriebene Konstellation nicht auch im Verhältnis zum konkreten Anderen von Belang ist. Wir sind im Allgemeinen gewohnt, XenophobieXenophobie als Auswuchs von irrationalen, womöglich unbewusstenunbewusst Ängsten anzusehen, aber es könnte auch sein, dass die Unberechenbarkeit des Anderen jenen Kontrollverlust bewirkt, die der Rationalist, der die VernunftVernunft vornehmlich als probates Instrument der Kontrolle und Beherrschung ansieht, generell fürchtet. Bis in die Metaphorik hinein begleitet die heutige MigrationMigration nach EuropaEuropa das NarrativNarrativ, dass wir wegen der Einwandernden nicht mehr imstande sind, unser TerritoriumTerritorium zu überwachen und die Invasion der Fremden zu unterbinden. Nicht mehr HerrHerr der Lage zu sein, weil eine unberechenbare andere Instanz ins SpielSpiel kommt, das generiert nachhaltiges Unbehagen. Das Andere beherrschen zu können, beschert SicherheitSicherheit.
Festzuhalten bleibt, dass die von SartreSartre, Jean-Paul beschriebene Konstellation der EntfremdungEntfremdung eine wechselweise ist. Dass wir uns einander entfremden, Entfremdung erzeugen und Entfremdung erleiden, und mittels unserer KörperKörper aus uns heraustreten, ist in dieser Philosophie das Schicksal aller MenschenMensch, und zwar ungeachtet ihrer jeweiligen Prädikation. Insofern gibt es keinen Platz für XenophobieXenophobie in dieser Philosophie. Nicht als Fremder einer anderen SpracheSprache und KulturKultur und nicht als Fremde eines anderen Geschlechtes, sondern gerade als ein vertrautes Wesen in unserer NäheNähe bedroht uns der Andere, der uns enteignet. JeJe näher uns der Andere kommt und je weniger fremdfremd wir ihn erfahren, desto prekärer wird unsere wie auch seine Existenz. Vom „Schock der Begegnung mit dem Andern“ als einer „leeren Enthüllung in der Existenz meines Körpers“ und vom „Abfließen meiner WeltWelt zum Andern hin“ spricht Sartre wörtlich an einer Stelle ganz drastisch.21 In jedem Fall erklärt Sartres ‚bescheidener‘ SolipsismusSolipsismus nicht, warum wir uns vor den Anderen nicht nur fürchten, sondern die Begegnung mit ihnen zuweilen auf den verschiedensten Dimensionen unseres Daseins ersehnen. Sehnen wir uns bloß danach, „ein An-sich für den andern“ zu sein? Gibt es so etwas wie eine LustLust an SelbstSelbst-EntmächtigungEntmächtigung und SelbstenteignungSelbstenteignung? Schon die RomantikRomantik hat, wie ein Brief von Clemens BrentanoBrentano, Clemens von zeigt, davon geträumt, kein Ich sein zu müssen.22
3. Freuds Hoffmann-Lektüre und ihre SpurenSpur in Julia KristevasKristeva, Julia Theorie der FremdheitFremdheit
3.1. RomantikRomantik und PsychoanalysePsychoanalyse: Das Andere der VernunftVernunft
Die GespaltenheitGespaltenheit des SelbstSelbst infolge des Anderen ist ein Leitmotiv gegenwärtigen Denkens. Denn die Figur des Anderen lässt sich nicht nur als eine äußere InstanzInstanz begreifen, die mir gegenübertritt, sondern ist immer schon integraler Bestandteil unseres Selbst (→ Kapitel 2), was dann im Kontext der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie vor allem in der Alteritätsphilosophie von Emmanuel Lévinas zur Entwicklung einer transzendentalen EthikEthik geführt hat.
In der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie ist das Andere personal gedacht als eine Figur, die mir gegenübertritt und die in mich gleichsam eindringt. Von dieser Perspektive sind die verschiedenen Konzepte, wie sie historisch aus dem psychoanalytischen DiskursDiskurs entstanden sind, zu unterscheiden. Hier sind nämlich das Fremde und Andere zunächst nicht im Sinne einer personalen Konfiguration gedacht, sondern werden mit dem höchst paradoxen PhänomenPhänomen des UnbewusstenUnbewusste, das, was Freud auch das Es genannt hat, verknüpft. Dieses manifestiert sich in TraumTraum, LiteraturLiteratur, Kunst und Alltag.
Der französische Psychoanalytiker Jacques LacanLacan, Jacques hat sich eine Besonderheit der französischen SpracheSprache zunutze gemacht, um diese GespaltenheitGespaltenheit sprachlich plastisch zu machen. Bekanntlich finden sich im Französischen zwei Ausdrücke für Ich: JeJe und moimoi. Das Je ist, was ich im SpiegelSpiegel als ein Anderes wahrnehmen kann. Unmittelbar ist dabei nur die Ansicht des Spiegelbildes: Zu diesem (unbewusstenunbewusst) Ich habe ich also nur indirekten, niemals einen unmittelbaren Zugang. Dieser Zugang führt über das, was Lacan als das ImaginäreImaginäre bezeichnet, für das hier der Spiegel steht. Das Je bleibt also stets in einem perspektivischen Dunkel, nur das Andere wird sichtbar. Demgegenüber ist das Moi der sekundäre und tendenziell bewusste Aspekt der Ich-BildungBildung, der Prozess der Identifikation mit dem primären Ich (→ Kapitel 7).
HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich eindrucksvolles BildBild von dem leeren SelbstSelbst, das von den Albträumen der NachtNacht heimgesucht wird, ist ein exemplarisches Bild jener FremdheitFremdheit, die mit den unwillentlichen Manifestationen des UnbewusstenUnbewusste als des Anderen der VernunftVernunft verbunden ist. Unübersehbar hat die europäische RomantikRomantik wesentlichen Anteil an dieser Beschäftigung mit jenem fremdartigen Anderen, jenem Unbekannten, das uns plötzlich und uneingeladen aufsucht.
Es ist kein Zufall, dass sich Sigmund FreudFreud, Sigmund in seiner einflussreichen Studie über das UnheimlicheUnheimliche, das auf den Philosophen des romantischen Zeitalters, auf Friedrich Wilhelm Joseph SchellingSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph beruft, bei dem das UnbewussteUnbewusste eine prominente Rolle spielt, insofern nämlich als er in seiner idealistischen Philosophie die NaturNatur als das ‚Unbewusste‘ ansieht, das in Wissenschaft und Kunst ins Bewusstsein tritt. Schellings Philosophie löst diese AlteritätAlterität freilich dadurch auf, dass er am Ende eine spiegelartige IdentitätIdentität zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten postuliert. Darin sind ihm Romantiker wie NovalisNovalis und E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. nicht gefolgt, bleibt hier das Unbewusste die dunkel-nächtliche, andere Seite des täglichen Verstandeslebens. Der DualismusDualismus bleibt hier bestehen, auch wenn, wie zum Beispiel in Novalis Hymnen an die NachtNacht eine positive Umwertung, eine jubilatorische Annahme des Nächtlichen, Erotischen und – an dieser Stelle kommt auch der Gender-Aspekt zum Tragen – Weiblichen erfolgt: „Abwärts wende ich mich zu der heiligen, unaussprechlich geheimnisvollen Nacht.“1 Und an einer späteren Stelle heißt es im Gestus religiöser Verzückung:
Preis der Weltkönigin, der hohen Verkünderin heiliger Welten, der Pflegerin seliger LiebeLiebe – sie sendet mir dich – zarte Geliebte – liebliche Sonne der NachtNacht, – nun wach ich – denn ich bin Dein und Mein – du hast mir die Nacht zum LebenLeben verkündet – mich zum MenschenMensch gemacht – zehre mit Geisterglut meinen Leib, daß ich luftig mit dir inniger mich mische und dann ewig die Brautnacht währt.2
Jene literarische und kulturelle BewegungBewegung, die das Fremde in Gestalt des Romantischen in sich trägt, ist auch deshalb eine RomantikRomantik, weil sie eine des Fremden ist, das in dem kunstvoll arrangierten Poem des NovalisNovalis ekstatischEkstase überhöht wird. Die positive Umdeutung ist untrennbar mit dem Unbekannten verbunden. Wenn das fremdefremd Andere zum Geheimnis wird, dann büßt es seinen Schrecken ein und wird zu einer EinladungEinladung in eine andere verheißungsvolle WeltWelt, die hier unübersehbar religiös und erotischErotik aufgeladen ist. Das Andere der VernunftVernunft ist das Leibliche, das Medium, das sich zum Anderen hin öffnet.
Aufschlussreich an der Textstelle ist, wie sich das fremdefremd Andere, die WeltWelt des nächtlich-UnbewusstenUnbewusste, mit der konfiguralen Person der Anderen, der romantisch überhöhten FrauFrau, verbindet. Diese erscheint hier nicht als Allegorie nächtlichen Schreckens, sondern nächtlicher Verheißung und Entzückung – ein Gegenbild zu FüsslisFüssli, Johann Heinrich Nachtmahr und zu HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich Schreckensbild unserer inneren FremdheitFremdheit. Im BildBild der ewigen Brautnacht taucht – jenseits des erotischenErotik Versprechens und der Vermischung – noch ein anderes Motiv auf, nämlich die hier durch das ‚Medium‘ des Leiblichen vollzogene LiebeLiebe. Die Liebe ist deshalb eine ‚ErkenntnisErkenntnis‘ des Anderen, weil sie den Status des Fremden, des Unbewussten wie des Gegenübers, nachhaltig verändert, indem sie das Fremde und Andere zwar nicht ‚aufhebt‘, aber vertraut macht. Im Medium des literarischen Textes wird dieses Andere in seinen beiden Aspekten – Schrecken und Verheißung – gezeigt und bearbeitet.