Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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denen er sagt, daß Coppola sie dem Nathanael gestohlen hat. Dieser wird von einem neuerlichen Wahnsinnsanfall ergriffen, in dessen Delirium sich die Reminiszenz an den TodTod des VatersVater mit dem frischen Eindruck verbindet: „Hui – hui – hui! – Feuerkreis – Feuerkreis! Dreh’ dich Feuerkreis – lustig – lustig! Holzpüppchen hui, schön Holzpüppchen dreh’ dich –.“ Damit wirft er sich auf den Professor, den angeblichen Vater Olimpias, und will ihn erwürgen.

      Aus langer, schwerer KrankheitKrankheit erwacht, scheint Nathanael endlich genesen. Er gedenkt, seine wiedergefundene Braut zu heiraten. Sie ziehen beide durch die Stadt, auf deren Markt der hohe Ratsturm seinen Riesenschatten wirft. Das Mädchen schlägt ihrem Bräutigam vor, auf den Turm zu steigen, während der das PaarPaar begleitende Bruder unten bleibt. Oben zieht eine merkwürdige Erscheinung von etwas, was sich auf der Straße heranbewegt, die Aufmerksamkeit Claras an sich. Nathanael betrachtet dasselbe Ding durch Coppolas Perspektiv, das er in seiner Tasche findet, wird neuerlich vom Wahnsinn ergriffen, und mit den Worten: „Holzpüppchen, dreh’ dich“, will er das Mädchen in die Tiefe schleudern. Der durch ihr Geschrei herbeigeholte Bruder rettet sie und eilt mit ihr herab. Oben läuft der Rasende mit dem Ausruf herum: Feuerkreis, dreh’ dich, dessen Herkunft wir ja verstehen. Unter den MenschenMensch, die sich unten ansammeln, ragt der Advokat Coppelius hervor, der plötzlich wieder erschienen ist. Wir dürfen annehmen, daß es der Anblick seiner Annäherung war, der den Wahnsinn bei Nathanael zum Ausbruch brachte. ManMan, Paul de will hinauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, aber Coppelius lacht: „Wartet nur, der kommt schon herunter von selbst.“ Nathanael bleibt plötzlich stehen, wird des Coppelius’ gewahr und wirft sich mit dem gellenden Schrei: „Ja! Sköne Oke – Sköne Oke“ über das Geländer herab. Sowie er mit zerschmettertem Kopf auf dem Straßenpflaster liegt, ist der SandmannSandmann im Gewühl verschwunden.14

      Freud liest zwei Texte, die Meistererzählung von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A. und den Kommentar von JentschJentsch, Ernst, dem er seine eigeneEigentum Lektüre gegenüberstellt. Dabei geht es darum, Jentschs’ TheseThese, wonach das UnheimlicheUnheimliche, das mit dem Unbekannten einhergehe, umzukehren. Im Unheimlichen, so konstatiert Freud an späterer Stelle seines Aufsatzes, steckt immer schon ein bekanntes Moment, etwas, das vergessen oder verdrängt worden ist.

      JentschJentsch, Ernst hatte das UnheimlicheUnheimliche, das in Hoffmanns Der SandmannSandmann, nicht zuletzt unter dem Eindruck von Offenbachs Oper Hoffmanns Erzählungen, insbesondere im Motiv der belebt erscheinenden PuppePuppe Olimpia gesehen. Dem widerspricht Freud einigermaßen vehement. Freuds alternative und exemplarische Lektüre konzentriert sich auf die folgenden vier Punkte:

      1 Das Motiv der PuppePuppe, die ein menschliches Lebewesen vortäuscht, ist nicht das einzige unheimlicheunheimlich Motiv.

      2 Diese Täuschung wird durch die satirische AuflösungAuflösung geschwächt.

      3 Das UnheimlicheUnheimliche, das kommt vielmehr durch die Konfiguration des unheimlichenunheimlich Fremden, der mit dem SandmannSandmann identifiziert wird, zentral ins SpielSpiel.

      4 In Freuds Deutung fallen letztendlich fremdfremd und vertraut wieder zusammen, da er psychoanalytisch im SandmannSandmann die AngstAngst vor dem VaterVater erkennt: „[…] sowie man für den Sandmann den gefürchteten Vater einsetzt, von dem man die Kastration erwartet.“15

      Sigmund FreudsFreud, Sigmund Abhandlung ist ein klassisches Beispiel für IntertextualitätIntertextualität, in diesem Fall für einen reziproken Textbezug zwischen einem literarischen Text und einer wissenschaftlichen Abhandlung. Intertextualität inkludiert, dass sich durch die wechselseitige Bezugnahme beide Texte verändern. In diesem Zusammenhang bedeutet das Zitat, einen Text in einen fremdenfremd Kontext zu stellen und ihm damit eine neue Bedeutung zu geben: Der Text des ‚Spätromantikers‘ wird zu einem illustrativen psychoanalytischen PrätextPrätext, während umgekehrt Freuds Abhandlung in die Nachbarschaft zur RomantikRomantik gerät.

      Freuds Text über das UnheimlicheUnheimliche, das ist bzw. enthält keine vollständige Interpretation der romantischen Textur Hoffmanns, vielmehr dient der Text des spätromantischen Autors als Folie und Illustrationsmaterial für die eigeneEigentum Theoriebildung; unübersehbar enthält er indes zugleich eine Lesart der Erzählung. Diese basiert auf der von Freud behaupteten etymologischen Aufspaltung der Bedeutung des Unheimlichen, das nun mit SchellingSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph und der gesamten romantischen TraditionTradition als etwas gedeutet wird, das eigentlich ein Geheimnis bleiben sollte. In psychoanalytischer Diktion bedeutet das: Es handelt sich beim Unheimlichen um eine FormForm der Verdrängung.

      In seiner ArbeitArbeit am Text entwickelt Freud eine Art von Typologie des UnheimlichenUnheimliche, das (→ Kapitel 12), in der es um die Figur des DoppelgängersDoppelgänger, der WiederholungWiederholung des Gleichartigen und um den Glauben an die Wirksamkeit magischer Mächte geht. So gründet sich das Unheimliche einerseits auf infantilen Phantasien, andererseits aber auch auf späteren Entwicklungen und Phasen der menschlichen OntogeneseOntogenese. Beiden Varianten ist gemeinsam, dass sie, menschheitsgeschichtlich betrachtet, Figuren und Bildungen aus „überwundenen seelischen Urzeiten“, in denen die MenschenMensch an MagieMagie und fremdefremd Mächte glauben, darstellen und diese zugleich reproduzieren.16 Überdies kann das Unheimliche im alltäglichen Erleben wie auch als fiktionales Konstrukt etwa in LiteraturLiteratur (oder FilmFilm) auftreten, wobei das Phantastische damit spielt, ob das Dargestellte ‚RealitätRealität‘ oder ‚Fiktion‘ ist.

      Das UnheimlicheUnheimliche, das, das Hoffmanns Text zur SpracheSprache bringt, versinnbildlicht für Freud das Drama der Kindheit und ist somit Teil des „Familienromans“. In dessen ZentrumZentrum steht das ambivalenteAmbivalenz und ödipale Verhältnis zur VaterVater-ImagoVater-Imago. Dabei kommt es zur Aufspaltung in einen guten und in einen bösen Vater: den eigentlichen, früh verstorbenen Vater und den dämonischen Coppelius, den „SandmannSandmann“, der Nathanael droht, ihm die Augen auszureißen. Diese realen oder phantastischen Geschehen wiederholen sich Freud zufolge insofern, als Nathanael viele Jahre nach den traumatischen Kindheitserlebnissen, die im TodTod des geliebten, für das KindKind aber unzugänglichen Vaters kulminieren, dem Brillenhändler Coppola begegnet. In jenem, und darin besteht das Unheimliche im Text, glaubt er den Alchemisten aus seiner Kindheit, Coppelius, wiederzuerkennen, den er für den Tod des Vaters verantwortlich macht und an dem er aufgrund des suggerierten Mordes zunächst Rache üben will. Coppola wird somit zum Wiedergänger einer bedrohlichen Gestalt aus der Kindheit, die mit elementarem Schrecken verknüpft ist. Nicht umsonst trägt diese düstere Person in Hoffmanns Erzählung – das stellt Freuds Deutung hintan – die Charakterzüge des TeufelsTeufel.

      So wie Coppelius, der mit dem VaterVater magische Experimente unternimmt, so hat auch Coppola einen Gefährten, einen Professor für Mechanik namens Spalanzani. Diese beiden unheimlichenunheimlich Gestalten – wobei Spalanzani eher eine satirische als eine dämonisch-teuflische Gestalt ist – sind Freuds Deutung zufolge die unheimlichen Wiedergänger der kindlich ödipalen Situation, die von der Kastrationsangst bestimmt ist. Sie wird durch das von dem bösen Vater angedrohten Ausreißen der Augen virulent.

      Einen Teil seiner eigenwilligen Interpretation hat Freud merkwürdigerweise in die Fußnote ‚verschoben‘. Dort ist davon die Rede, dass die ambivalenteAmbivalenz Position des Sohnes zum VaterVater eine „in zwei Gegensätze zerlegte Vaterimago“ bewirke. Und weiter heißt es dann:

      Das von der Verdrängung am stärksten betroffene Stück des Komplexes, der Todeswunsch gegen den bösen VaterVater, findet seine Darstellung in dem TodTod des guten Vaters, der dem Coppelius zur Last gelegt wird. Diesem Väterpaar entsprechen in den späteren Lebensgeschichte des Studenten Professor Spalanzani und der Optiker Coppola, der Professor an sich eine Figur der Vaterreihe, Coppola als identisch mit dem Advokaten Coppelius erkannt.17

      In Freuds Deutung, in der Spalanzani und Coppola als „Reinkarnationen von Nathanaels Väterpaar“18 fungieren, ist die mechanische Erzeugung des weiblichenweiblich AutomatenAutomat nur die Fortsetzung jener alchemistischen Tätigkeit seines VatersVater und in ihr wiederholt sich jene Kastration, die auch schon im ersten traumhaften Tableau zentral im SpielSpiel war. Allerdings ist Freuds AnalogieAnalogie schief, verkörpert doch der gauklerische und betrügerische Prahler Spalanzani nicht wirklich ein