‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘ […]. Freud […] lehrt, die FremdheitFremdheit in uns selbst aufzuspüren. Das ist vielleicht die einzige Art, sie draußen nicht zu verfolgen. Dem KosmopolitismusKosmopolitismus der Stoiker, der universalistischen IntegrationIntegration durch die ReligionReligion folgt bei Freud der Mut, uns selbst als desintegriert zu benennen, auf daß wir die Fremden nicht mehr integrieren und noch weniger verfolgen, sondern sie in dieses Unheimliche, diese Fremdheit aufnehmen, die ebenso ihre wie unsere ist.4
So hat also auch der Fremde ein NarrativNarrativ, das er mit allen Fremden, d.h. allen MenschenMensch dieser WeltWelt, teilt. Dass wir uns fremdfremd sind, erscheint dabei als eine condition humaine, der sich der psychoanalytische DiskursDiskurs auf paradoxe Weise stellt, hebt doch diese post-humanistische Einsicht die FremdheitFremdheit keineswegs auf. Das UnheimlicheUnheimliche, das steckt auch die GrenzenGrenze der von ihm geschaffenen Möglichkeit der SelbstSelbst-Einsicht. Zugleich begreift sich die PsychoanalysePsychoanalyse im Hinblick auf den Umgang mit dem Anderen und Unbekannten nicht nur als eine Lebenspraxis, sondern zugleich auch als eine EthikEthik. Denn die Einsicht, dass das Fremde ein Teil meiner selbst ist, eröffnet die Möglichkeit mit dem greifbaren, realen Fremden in einer offenen Weise umzugehen. Bei der Begegnung mit Fremden bin ich immer selbst im SpielSpiel. Von einer neuen PolitikPolitik des „KosmopolitismusKosmopolitismus“ spricht KristevaKristeva, Julia an einer Stelle, bei dem die „SolidaritätSolidarität der Menschen in dem Bewußtsein ihres Unbewußten gründet“.5 Der historische Kosmopolitismus gründet in der AufklärungAufklärung des 18. Jahrhunderts, jener, den Kristeva vorschlägt, in einer bestimmten FormForm eines transkulturellentranskulturell ModernismusModernismus, im RahmenRahmen dessen sich der Mensch seiner eigenenEigentum prinzipiellen Fremdheit in Gestalt seines eigenen Anderen, seines UnbewusstenUnbewusste, bewusst wird.
Was sowohl Freuds Text als auch KristevasKristeva, Julia Kommentar zu diesem interessanterweise nicht thematisieren, ist, dass beide teuflische Gestalten in Hoffmanns Erzählung Der SandmannSandmann tatsächlich kulturell Fremde sind. Von dem einen heißt es an einer Stelle, dass er nicht wirklich ein echter Deutscher sei,6 was ja auch durch den mittelalterlich anmutenden, lateinischenlateinisch Namen noch akzentuiert wird, während Coppola mit allen xenophoben Zuschreibungen belegt ist, die dem Fremden, hier dem Italiener, gelten: Er spricht ein lächerliches Deutsch, er ist aufgeblasen, marktschreierisch und hat, übrigens im Gegensatz zu Coppelius, betrügerische Merkmale.7 Coppelius’ Wiederkehr als Coppola trägt parodistische Züge. Kurzum, Coppola ist, wie übrigens auch sein ebenfalls italienischer Spalanzani, ein Hochstapler und Schwindler.8
Wie E.T.A. Hoffmann so bedient sich auch der österreichische Romancier Joseph RothRoth, Joseph der Figur eines dämonischen falschen MenschenMensch, eines nomadisierenden Fremden. In diesem Fall ist der teuflische Manipulator menschlicher Beziehungen ein Ungar, vermutlich ein ‚Zigeuner‘, namens Jenö Lakatos, der überall in der epischen WeltWelt des Autors Zwietracht und Unfrieden stiftet.9 In dieser Entstellung werden alle dunklen menschlichen Seiten auf den Anderen, den Fremden projiziert. So führt uns Hoffmanns Text, der letztendlich die Grundlage für Freuds und KristevasKristeva, Julia Reflexionen bildet, alle drei Dimensionen des Fremden und Alteritären (→ Kapitel 1) vor Augen: Er oder sie ist ein Anderer unserer selbst, ein DoppelgängerDoppelgänger, er ist ein Unbekannter (wir erfahren nichts über Coppelius und Coppola) und er gehört auch nicht zur vertrauten eigenenEigentum, ‚nationalennational‘ KulturKultur. Der Fremde ist ein AusländerAusländer, eben ein Italiener. XenophobieXenophobie ist in der Argumentation Kristevas der Tatsache zuzuschreiben, dass das UnbewussteUnbewusste keinen Platz in unserem Bewusstsein hat, aber auf paradoxe Weise doch haben könnte, als eine SpurSpur, als Symptom, als ProjektionProjektion.
Vergleicht man die Fremdheitskonzeption der PsychoanalysePsychoanalyse in der Traditionslinie von Freud zu KristevaKristeva, Julia etwa mit phänomenologischen Zugängen, so wird deutlich, dass das Andere hier nicht so sehr personal gedacht ist, sondern vielmehr eine sub- oder transpersonale InstanzInstanz darstellt. Diese Dimension kommt in Freuds Terminologie als das Es zum Ausdruck. Demgegenüber bevorzugt LacansLacan, Jacques Terminologie die IdeeIdee von einer VerdopplungVerdopplung und Aufspaltung des Ich in zwei Momente, ein bewusstes und ein unbewusstesunbewusst. Ein personales Format erhält das UnbewussteUnbewusste durch den Prozess der ProjektionProjektion auf den Fremden und Anderen. LévinasLévinas, Emmanuel phänomenologische Theorie des Alteritären bevorzugt eine transzendentale EthikEthik im Hinblick auf die Figur des Anderen (→ Kapitel 4), dessen VorgängigkeitVorgängigkeit ich anerkenne, während Freuds Ethik sich auf einem paradoxen Prozess der Selbsterkenntnis gründet. Dieser Vorgang gilt dem eigenenEigentum Fremden, das mir zwar ins Bewusstsein rücken kann, aber nie aufhört fremdfremd zu sein. In dieser Perspektive überschreitet die Psychoanalyse den klassischen HumanismusHumanismus und dessen Selbsterkenntnisappell.
Dem Triangel von FremdheitFremdheit, VertrautheitVertrautheit und Unheimlichkeit ist eine große Bedeutung beizumessen, spielt sich in ihm doch jenes Drama ab, in dem sich laut Freud zeigt,
[…] daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das UnheimlicheUnheimliche, das […]. Wenn dies wirklich die geheime NaturNatur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, daß der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche übergehen läßt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.10
3.4. Exkurs: Adelbert von Chamisso
Chamisso (1781–1838) gehört zum engen Freundeskreis von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.. SeinSein singulär gebliebener, 1813 verfasster Text Peter Schlemihls wundersame Reise enthält eine weitere Facette romantischer Überlegungen zum Thema des Fremden. Was seine Gestaltung des Fremden von jener in Hoffmanns Erzählung unterscheidet, ist die Fokalisierung: Während dort die fremdenfremd Gestalten (Coppelius, Coppola, Spalanzani) aus der heimischen Perspektive beschrieben sind, erzählt Chamisso die GeschichteGeschichte von FremdheitFremdheit aus der Perspektive des Fremden, Schlemihls also. Diese scheinbar nur erzähltechnische DifferenzDifferenz generiert einen gewaltigen theoretischen und ethischenEthik Unterschied. Bei Hoffmann waren die Fremden unheimlichunheimlich, unzugänglich und dunkel, während bei Chamisso die implizite Leserschaft infolge der Erzählsituation EmpathieEmpathie für den traurigen HeldenHeld entwickelt. Er streift auch insofern die Figur des DoppelgängersDoppelgänger, als der SchattenSchatten eine Doublette des SelbstSelbst darstellt. Otto RankRank, Otto zufolge, auf den sich Freuds Studie über das UnheimlicheUnheimliche, das maßgeblich stützt, verweist der Doppelgänger auf die Spaltung von KörperKörper und SeeleSeele.1 Der Schatten, der SpiegelSpiegel oder auch mein (photographisches) Porträt beziehen sich in diesen magischen Vorstellungen auf das DoubleDouble meines Körpers, nämlich meiner Seele. So steht der Verlust des Schattens, eines scheinbar nebensächlichen PhänomensPhänomen, für einen zentralen menschlichen Verlust.
Aber es gibt noch ein anderes Moment in dieser traurig-heiteren GeschichteGeschichte, die mit dem UnheimlichenUnheimliche, das virtuos spielt. Die Hauptfigur ist nämlich ein Seemann, jemand der stets unterwegs und niemals zu Hause ist. Der Fremde wird nicht nur argwöhnisch betrachtet, weil man ihn nicht kennt oder mit negativen Attributen bekennt (er spricht nicht unsere SpracheSprache, er hat ganz andere SittenSitten usw.), sondern auch, weil er in einem existentiellen Sinn heimatlos ist. Er stellt für diejenigen, die in einer steten Umgebung leben, eine Bedrohung dar, könnte er uns doch in den Stand versetzen, selbst in jenen Zustand zu geraten, in dem er sich befindet.
Chamisso war ein aristokratischer EmigrantEmigrant aus FrankreichFrankreich, Botaniker, Polarforscher und Dichter. Dass er als Reisender die ErfahrungErfahrung gemacht hat, heimatlos zu sein, ist biographisch evident, auch wenn dies für das Verständnis des Textes nicht unbedingt von Belang ist. Die Pointe besteht im Falle des Emigranten darin, dass es sich nicht nur um den Verlust der einen HeimatHeimat handelt, der womöglich durch die Erlangung einer zweiten ersetzt und wettgemacht wird. Vielmehr bedeutet dieser in gewisser Weise deren Verlust an sich, das heißt die Einbuße jener scheinbaren Selbstverständlichkeit, die mit Begriffen wie Kindheit, Geborgenheit und Selbstverständlichkeit einhergeht. Die zweite Heimat, die aus dem Durchlaufen von Fremdheitserfahrungen erwächst, gleicht nicht der ersten.