Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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verbunden. Die Bedeutung von EinsamkeitEinsamkeit verschiebt sich also in dieser Denkweise. Es gibt kein absolutes Allein-bei-sich-SeinSein, sondern immer ist unsere relative Einsamkeit von einem Horizont umgeben, der von der EpiphanieEpiphanie des Anderen, seiner StimmeStimme und seines Antlitzes bestimmt und geprägt ist.

      Dieser Befund ist dem Autor von Die ZeitZeit und der Andere zufolge keine soziologische Analyse, die zeigt, wie Zeit in einer GesellschaftGesellschaft „zerlegt und angeordnet wird“. Es handelt sich vielmehr um eine FormForm von OntologieOntologie, die Zeit vor dem Hintergrund eines Alteritätsverhältnisses behandelt, bei der EinsamkeitEinsamkeit und KollektivitätKollektivität nicht einfach Begriffe der PsychologiePsychologie sind. In der Zeit in diesem Sinn wird Einsamkeit „überschritten“. Schon gleich zu Anfang spricht Lévinas aus, was dieses Übersteigen nicht ist:

       Es ist kein ErkennenErkennen, denn durch das Erkennen wird das ObjektObjekt vom SubjektSubjekt vereinnahmt und verschwindet.

       Es ist keine EkstaseEkstase, denn in der Ekstase wird das SubjektSubjekt vom ObjektObjekt vereinnahmt und verschwindet.

      Die Beziehung zum Anderen ist etwas, das nicht auf die AuflösungAuflösung des Anderen oder auch auf die Neutralisierung meiner selbst abzielt. Es ist kein Verhältnis, das auf dem Bewusstsein beruht und das auch nichts Mystisches in sich birgt. Denn durch die abstrakte ErkenntnisErkenntnis wird der Andere zu einem Gegenstand verdinglicht und durch die EkstaseEkstase verliere ich mich samt dem Anderen in einer EinheitEinheit, in der es kein Ich und keinen Anderen gibt. Die existentielle RelationRelation, auf die LévinasLévinas, Emmanuel in dem Text zusteuert und die weder soziologisch noch psychologisch zu bestimmen sei, ist zunächst einmal eine, die weder rational noch irrational, sondern etwas Drittes ist.

      Lévinas wendet sich also gegen das Denken einer am Ende dialektischDialektik wiederhergestellten EinheitEinheit im Sinne HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich (→ Kapitel 2). Vielmehr geht es ihm um einen „PluralismusPluralismus, der nicht in einer Einheit fusioniert“. Es gehe darum, „mit ParmenidesParmenides zu brechen“.2 Die IdeeIdee, die Unterscheidung des Parmenides von SeinSein und NichtsNichts zu revidieren, findet sich, wie wir gesehen haben, bereits bei KojèveKojève, Alexandre und seinem GleichnisGleichnis vom Goldring (→ Kapitel 2.5.). In diesem wird die RelationRelation als drittes Element ins SpielSpiel gebracht. Aber Lévinas zielt ganz offenkundig noch auf ein anderes Moment, nämlich auf ein Sein, das immer schon in Erwartung auf ein Anderes existiert:

      Die ZukunftZukunft, das ist das andere. Das Verhältnis zur Zukunft, das ist das eigentliche Verhältnis zum anderen. Von ZeitZeit zu sprechen in einem SubjektSubjekt allein, von einer rein persönlichen Dauer zu sprechen, scheint uns unmöglich.3

      Die ZukunftZukunft ist das Andere und es ist zugleich die ZeitZeit des Anderen. Die Zeit setzt Lévinas zufolge immer schon eine SubjektSubjekt-Subjekt-Konstellation voraus. Es gehört zur menschlichen Grundsituation, dass der MenschMensch allein, aber ontisch nicht einsamEinsamkeit ist:

      Die Situation des Von-Angesicht-zu-Angesicht wäre der eigentliche Vollzug der ZeitZeit: das Übergreifen der GegenwartGegenwart auf die ZukunftZukunft ist nicht die Tat eines einsamenEinsamkeit SubjektsSubjekt, sondern das intersubjektive Verhältnis. Die Bedingung der Zeitlichkeit liegt im Verhältnis zwischen menschlichen Wesen oder in der GeschichteGeschichte.4

      4.4. Die ErotikErotik des geschlechtlichen Paares als Modell von AlteritätAlterität

      Wie LévinasLévinas, Emmanuel in einem Vorwort zur Neuausgabe des Textes im Jahre 1979 schreibt, greift die frühe Abhandlung zu einem illustrativen Modell, das das Verhältnis zum Anderen veranschaulichen soll. Diese Beziehung sei weder bloß gegenständliche ErkenntnisErkenntnis noch unio mystica und soll deshalb am Beispiel der VerbindungVerbindung des MannesMann zur Anderen, zur FrauFrau, erläutert werden. Das Vorwort differenziert zugleich den ursprünglichen Ansatz, wenn es heißt: „Der Begriff der transzendenten Anderheit – jener Anderheit, von der die ZeitZeit eröffnet wird – wird zuerst gesucht im Austrag von einer Inhalts-Anderheit, im Ausgang von der WeiblichkeitWeiblichkeit.“ Diese AlteritätAlterität ist semantischer NaturNatur, die mit Mann und Frau jeweils ein Prädikat hat. „Weiblichkeit“ erscheine in dem Text von 1947, heißt es rückblickend und selbstkritisch, als „eine Qualität, die von allen anderen Qualitäten unterschieden ist“. Die GeschlechterdifferenzGeschlechterdifferenz sei eine „formale Struktur“.1 Diese Struktur ist, wie wir sehen werden, erotischErotik und zugleich meta-erotisch. Denn die exemplarische Situation, die Lévinas beschreibt, ist gleichsam eine angehaltene. Nicht die Vereinigung ist dabei entscheidend, sondern die Annäherung, die ihr vorausgeht.

      Lévinas räumt im Hinblick auf die formale Struktur dieser Beziehung zum Anderen ein, dass das, was er hinsichtlich der „WeiblichkeitWeiblichkeit“ gesagt habe, möglicherweise auch für die „MännlichkeitMännlichkeit“ gilt. Beide Qualitäten stehen demnach für den Unterschied der GeschlechterGeschlecht. In einem nächsten Schritt macht er deutlich, dass es ihm um den „Begriff des Paares als eines von jeder numerischen ZweiheitZweiheit Unterschiedenen“ geht. In diesem Zusammenhang kommt der Begriff der EpiphanieEpiphanie ins SpielSpiel, eine Erscheinung, in der etwas zutage tritt, sich ‚offenbart‘. Er spricht davon, dass die „außergewöhnliche Epiphanie des Antlitzes – dieser abstrakten und keuschen NacktheitNacktheit –, […] sich von den sexuellen Unterschieden ablöst, die jedoch für die ErotikErotik wesentlich ist […]. Durch Erotik und LibidoLibido tritt die MenschheitMenschheit in die GemeinschaftGemeinschaft zu zweit ein.“2 Weder die Prädikation im Sinne einer Zuschreibung von männlichmännlich oder weiblichweiblich noch die FrageFrage der sexuellen Orientierung des Paares spielen für diese formale Struktur eine Rolle. In der ÖffnungÖffnung des MenschenMensch hin zum Anderen, die die Grundvoraussetzung für das PaarPaar bildet, tritt die formale Struktur unserer Beziehung zum Anderen zutage.

      In diesem ersten wichtigen und bahnbrechenden Werk untersucht Lévinas die Befindlichkeit des SubjektsSubjekt auch im Hinblick auf PhänomenePhänomen wie ArbeitArbeit, LeidenLeiden, GenussGenuss und TodTod, aber gleichwohl ist es der ErosEros, an dem AlteritätAlterität, „Anderheit“, vorgeführt wird. Die ErotikErotik im Sinne LévinasLévinas, Emmanuel ist eben weder eine AneignungAneignung wie die ErkenntnisErkenntnis noch eine EkstaseEkstase wie zum Beispiel der sexuelle Akt. Lévinas spricht zwar an mehreren Stellen von einer „DialektikDialektik des Verhältnisses zum anderen“, aber damit ist keine Dialektik gemeint, die eine EinheitEinheit zwischen dem Selben und dem Anderen herstellt. Die EinsamkeitEinsamkeit, von der Lévinas spricht, ist Beziehung zum bzw. mit dem Anderen, dessen gleichzeitige An- und AbwesenheitAbwesenheit. Das wird in dem kontrastiven Verhältnis von Einsamkeit und KollektivitätKollektivität sinnfällig: „Das Subjekt ist allein, weil es eines ist. […] Die Einsamkeit ist also nicht nur Verzweiflung und Preisgegebenensein, sondern auch Stärke, StolzStolz und Souveränität.“3 Die Einsamkeit hat hier ein Moment, das, wie der Begriff Stolz zeigt, die AnwesenheitAnwesenheit des Anderen als unhintergehbaren und nicht aufhebbaren Horizont voraussetzt. Oder andersAndersheit formuliert: Die Einsamkeit im Sinne des Allein-SeinsSein ist ein Modus unseres Verhältnisses zum Anderen. Und nicht umgekehrt. Denn die Gemeinsamkeit ist keine Addition der Einsamkeit zweier Subjekte. Im Unterschied zum sozialen Alltagsleben, das oftmals auf ReziprozitätReziprozität beruht, ist der „intersubjektive Raum nicht symmetrisch.“4

      Es ist kein Zufall, dass der Text diesen Befund so akzentuiert. Denn damit setzt er eine unverkennbare DifferenzDifferenz zu anderen philosophischen Konzepten, etwa den dialogischen Theorien von Gabriel MarcelMarcel, Gabriel und Martin BuberBuber, Martin, in dem Ich und Du vis-à-vis einander gegenüberstehen. Auch die Alteritätskonzepte von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und SartreSartre, Jean-Paul basieren auf der IdeeIdee dieser ReziprozitätReziprozität. Als gleichberechtigte potentielle Selbstbewusstseine, als jeweiliges SelbstbewusstseinSelbstbewusstsein an sich, treten sie sich bei Hegel gegenüber. Die Ungleichheit zwischen beiden ist eine a posteriori, eine nachherige, denn sie ergibt sich aus dem KampfKampf auf LebenLeben und TodTod und seinem Resultat, aus Sieg und Niederlage und aus der Schonung des Unterlegenen. Aber auch Sartres Beschreibung von Ich und Anderem beruht auf der Wechselseitigkeit: Denn so wie ich durch den Anderen zum ObjektObjekt und mir selbst entfremdet werde, so wird der Andere sich