Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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haben. Sie waren in den Augen der Täter einfach keine ‚Menschen‘.

      Das KonzentrationslagerKonzentrationslager und die mit ihm verwandten Vernichtungsmaschinerien verdanken sich nicht zuletzt dem perversen Kalkül, den anderen MenschenMensch auf eine rein biologische Existenz herabzudrücken, die jener entspricht, die in einer dominantenDominanz Denktradition mit dem TierTier, der biologischen Sache, verbunden ist. Eine FormForm von AlteritätAlterität ist hier im SpielSpiel, die andersAndersheit als die von Lévinas entfaltete, auf eine radikale ExklusionExklusion hinausläuft. In diesem Sinne funktioniert die Gegenüberstellung von Mensch und Tier, wobei sich das Attribut des Nicht-Menschlichen, also Tierischen, auch auf Menschengruppen ausweiten lässt.9

      Damit koinzidiert – nicht bei Lévinas, wohl aber in einer gar nicht so subkutanen okzidentalen TraditionTradition – eine DistanzDistanz, die sich etwa im Blick des weiblichenweiblich Gegenübers manifestiert. Das fremdefremd GesichtGesicht des – vorgeblich und inszenierten – ganz anderen Lebewesens FrauFrau schaut irgendwohin, es sieht mich nicht an, es steht metonymisch für den männlichenmännlich Blick als kostbares ObjektObjekt bereit (so grell imaginiert die Malerei der Jahrhundertwende das Weibliche, so konsequent philosophiert Otto WeiningerWeininger, Otto über „das Weib als die bejahte SexualitätSexualität des MannesMann“10). Man kann dies bis heute an der Parfüm- und Lingeriewerbung auf Litfaßsäulen studieren. Das Problematische ist nicht, dass die Frauen sich entblößt zeigen (eine solche Kritik ließe sich der Prüderie zeihen), sondern dass ihnen jenes Element abgeht, dass den Blick zu einem ‚menschlichen‘ macht: dass er eine Beziehung zum Anderen stiftet. Das hat aber auch damit zu tun, dass sie virtuell andauernd angestarrt und begehrlich fixiert werden, worauf sich nicht ‚antworten‘ lässt. Das macht ihre merkwürdige narzisstische EinsamkeitEinsamkeit und Melancholie aus. Mehrere Motive überlagern sich dabei: das Geheimnis, die AbwesenheitAbwesenheit, das Wissen ein Objekt des eigenenEigentum wie des männlichen Blicks zu sein; Objekt zu sein, heißt aber auch, keinen eigenen Blick werfen zu dürfen.

      LévinasLévinas, Emmanuel Werk richtet sich übrigens nicht gegen ErotikErotik und Sinnlichkeit. Über das Genießen schreibt er: „Jedes Genießen ist auch Empfinden, das heißt ErkennenErkennen, und Licht“.11 Es insistiert aber darauf, dass der MenschMensch nur über den Umweg über den Anderen Zugang zu sich selbst zu finden vermag. Dieses asymmetrischeAsymmetrie Prinzip ist reziprok. Diese existenzielle Grundsituation wird in all jenen rassistischen oder sexistischen Diskursen systematisch unterlaufen, die den Anderen exklusiv und ausgrenzend positionieren, in der AngstAngst, ansonsten durch den anderen deplatziert zu werden. RassismusRassismus und Sexismus sind, von welcher Position auch immer, Angst vor jener HeteronomieHeteronomie, die zwischen dem SelbstSelbst und dem Anderen im SpielSpiel ist.

      5. Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard: FremdheitFremdheit in der ModerneModerne

      5.1. Überblick und Einführung

      Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard (Jahrgang 1934) ist der wohl wichtigste lebende Vertreter der deutschsprachigen PhänomenologiePhänomenologie, einer der heute vielleicht am meisten unterschätzten und zugleich maßgeblichsten nicht-szientistischen Strömung der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Ihr Begründer, der ÖsterreichÖsterreicher Edmund HusserlHusserl, Edmund, hat sie – was Hans BlumenbergBlumenberg, Hans auch wiederholt betont hat – unter die programmatische Formel des Neuanfangs gebracht.1 Damit fördert die Phänomenologie ein Thema zu Tage, das in der abendländischen Philosophie stets unterbelichtet gewesen ist: die FremdheitFremdheit.2

      Die von HusserlHusserl, Edmund geprägten Formeln wie „Zurück zu den Dingen“ oder der viel versprechende Begriff „Lebenswelt“ zeugen von der kulturellen Energie eines Unterfangens, dass noch einmal mit dem Philosophieren beginnen möchte. Dieser von Husserl initiierte Neuanfang schließt sowohl das Vergessen wie das Erinnern mit ein. Die PhänomenologiePhänomenologie versteht sich als eine philosophische Richtung, die das abendländische Denken erneuern möchte und das Feld des Philosophischen in ein neues Licht zu tauchen versucht. Ganz offenkundig war dieser Neuansatz der Philosophie, wie er von Husserl vorgeschlagen wurde, für HeideggerHeidegger, Martin nicht radikal genug. Seine radikalisierte Version der Phänomenologie möchte die abendländische Philosophie seit PlatonPlaton destruieren. Aber auch der StrukturalismusStrukturalismus der Nachkriegszeit und die mit ihm einhergehende Wende zu einem neuen Verständnis der SpracheSprache, das diese nicht länger als ein passives Medium begreift, betont das Moment des Bruchs mit der TraditionTradition.

      Mit letzterem steht die PhänomenologiePhänomenologie in einem produktiven Spannungsverhältnis, denn sie bezieht sich, andersAndersheit als der linguistisch erfüllte StrukturalismusStrukturalismus, auf vorsprachliche „Dinge“, die unerreichbar erscheinen: auf die Innenlage des MenschenMensch oder den Binnenraum des Leiblichen. Dabei handelt es sich um jene Lebenswelt, die uns nur in symbolischen FormenForm zugänglich ist und die doch ErfahrungenErfahrung generiert, die mit dem liminalen PhänomenPhänomen zusammenhängen. Im Gegensatz dazu gehen konstruktivistische Strömungen davon aus, dass symbolische Limes, IdentitätenIdentität und Differenzen stets gesetzt sind. In diesem Zusammenhang kennen sie keine prinzipiellen oder unübersteigbaren Beschränkungen. Denn die GrenzenGrenze werden stets in KulturenKultur durch Symbolordnungen geschaffen.

      Zur Besonderheit der von HusserlHusserl, Edmund begründeten Denkschule gehört auch, dass sie Schüler hervorgebracht hat, die das Werk des Begründers teilweise in den SchattenSchatten stellen: HeideggerHeidegger, Martin mit seiner Existenzanalyse und seiner HumanismusHumanismus-Kritik, Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice, dessen Philosophie der Wahrnehmung, des Leiblichen noch immer Teil eines gegenwärtigen philosophischen DiskursesDiskurs ist, gleichsam in zweiter Reihe die Existenzanalyse Binswangers, SartresSartre, Jean-Paul Existentialismus oder der Posthumanismus von Karl JaspersJaspers, Karl und Jan PatočkaPatočka, Jan. Aber damit ist die historische Reichweite der PhänomenologiePhänomenologie nicht erschöpft. So hat sie die französische NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie der GenerationGeneration der um 1900 und dann um 1930 geborenen Denker nachhaltig beeinflusst (→ Kapitel 2). Auch die philosophischen Werke von Hannah ArendtArendt, Hannah, Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel (Kapitel 4), Hans-Georg Gadamer und auch Hans BlumenbergBlumenberg, Hans sind ohne Kenntnis des phänomenologischen Diskurses nur schwer zu begreifen.

      Wenn man sich das umfangreiche Werk von Bernhard WaldenfelsWaldenfels, Bernhard genauer ansieht, insbesondere Werke wie In den Netzen der Lebenswelt (1985), PhänomenologiePhänomenologie in FrankreichFrankreich (1983/1987), OrdnungOrdnung im Zwielicht (1987), Studien zur Phänomenologie des Fremden (2 Bde., 1997/1998), Der Stachel des Fremden (1990), dann kreist es um hauptsächlich zwei Themen: nämlich um den TransferTransfer zwischen deutschendeutsch und französischen Denktraditionen (als deren Mediator man Waldenfels in verschiedenen, mittlerweile historisch gewordenen Kontroversen sehen kann) sowie, damit verbunden, um das Thema des Fremden. Das Fremde ist der narrative Plot, um den die Phänomenologie kreist, der rote Faden, der ihre DiskurseDiskurs eigentümlich charakterisiert. Es handelt sich um jenes Fremde, das für Waldenfels etwa in MörikesMörike, Eduard Peregrina-Gedicht oder in CamusCamus, Albert’ L’Etranger seinen prominenten Auftritt hat.

      Das Fremde kommt bei WaldenfelsWaldenfels, Bernhard in mehreren Versionen, Nuancen zu Wort, wobei die Bedeutungen von AndersheitAndersheit und FremdheitFremdheit immer wieder verschwimmen:

      1 Die FremdheitFremdheit im Eigenen in mir selbst: Meine Reden, meine Taten und mein Empfinden sind niemals „völlig mein“ und unter meiner völligen Kontrolle.

      2 Das Eigene und das Fremde befinden sich in einem asymmetrischenAsymmetrie Verhältnis zueinander. Das SelbstSelbst entsteht durch Abgrenzung und befindet sich damit auf der einen, das Fremde, das Andere, indes auf der anderen Seite.

      3 Das Fremde ist nicht zuletzt das Intransparente und Unverfügbare, das nicht hierarchisch ist. Die AlteritätenAlterität überlagern sich, wie WaldenfelsWaldenfels, Bernhard am Beispiel eines „arabischen Epileptikers“ erläutert, der einem europäischen Psychiater unter Umständen trotz seiner DifferenzDifferenz weniger fremdfremd sein mag als ein „arabischer Normaler, obwohl er als Kranker eine spezifische FormForm der FremdheitFremdheit behält“.3

      4 Das