Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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von Wahrnehmung und Begrifflichkeit mache. Mir entgeht ein philosophisch entscheidendes Moment an dem anderen menschlichen Lebewesen. Denn dessen spezifischer Status besteht gerade darin, dass er im klassischen Sinn weder ein SubjektSubjekt noch ein Objekt ist.

      Noch etwas ist wesentlich für das Verständnis des Anderen bei LévinasLévinas, Emmanuel: Dieser Andere ist keine InstanzInstanz, die mir als ein kompaktes, in sich geschlossenes SubjektSubjekt entgegentritt. Der Andere ist integraler Bestandteil meiner SelbstSelbst, aber nicht im Sinn des psychoanalytischen Denkens, das das Andere als etwas Non-Personales wie bei KristevaKristeva, Julia im UnbewusstseinUnbewusstsein meiner selbst verankert (→ Kapitel 3). Der Andere ist, wie wir noch sehen werden, eine personale Instanz, die in der Begegnung mit einem anderen MenschenMensch gleichsam aktualisiert und inszeniert wird. Auf dieser „intersubjektiven“ Ebene löst sich das klassische Subjekt ebenso auf wie die traditionelle, auf die antike griechischegriechisch Philosophie zurückgehende Denkform von Subjekt und ObjektObjekt, von Eigenem und Fremdem gleichsam auf. Das Subjekt ist bei Lévinas ein immer schon durch den Anderen fragmentiertes, dem Anderen Unterworfenes. Dies ist gleichzeitig die zweite Bedeutung des lateinischenlateinisch Wortes subjectum: das Unterworfene.

      Das fragmentierte SubjektSubjekt unterscheidet sich aber auch prinzipiell von jenem HybridHybrid, von jener HeterogenitätHeterogenität, die wir aus den gegenwärtigen Kulturwissenschaften kennen. Es befindet sich niemals im Zustand des Selbst. Es ist keine Mischung im Sinne des Sowohl-als-Auch und es ist auch nicht ein Weder-Noch. Demgegenüber ist Heterogenität nicht zuletzt das Ergebnis einer spezifisch kulturellen Mischung von Eigenem und Fremdem mit der durchaus radikalen Tendenz, dass sich die GrenzenGrenze und Unterschiede zwischen Eigenem und Fremdem verwischen. Lévinas zufolge ist jedes, auch das (vermeintlich) homogen(st)e kulturelle Subjekt immer schon durch die Figur des Anderen gebrochen, das heißt fragmentiert und wenn man so will heterogen, bedeutet doch das griechischegriechisch Wort heteros der Andere.

      FragmentierungFragmentierung und AsymmetrieAsymmetrie, wie sie in der Angewiesenheit des Selben auf den Anderen gegeben ist, schließen Kränkung und Chance mit ein. Keines der Subjekte hat diese Beziehung unter Kontrolle und keines von ihnen hat im Grunde genommen eine Wahl. Aber aus dieser peinlichen Situation der AbhängigkeitAbhängigkeit, die unseren Wunsch nach SelbstSelbst- und Allmächtigkeit dementiert, resultiert auch die Möglichkeit der ÖffnungÖffnung zu dem, was uns konstituiert, ‚fremdbestimmt‘. Damit verschiebt sich freilich auch, mit vergleichendem Blick auf SartreSartre, Jean-Paul, die Bedingungen der Möglichkeit von FreiheitFreiheit (Kapitel 2). Denn Freiheit ist nur in der innerhalb der durch die Alteritätsrelation gegebenen Bedingungen möglich. Freiheit ist das AntwortenAntwort auf eine Anforderung, die an mich ergangen ist. Es sind drei miteinander verbundene Elemente, die die Beziehung zum Anderen bestimmen, wobei die Folie der (geschlechtlichen) LiebeLiebe immer wieder zum Vorschein kommt. Die Beschaffenheit der Liebe in unserer Wahrnehmung und emotionalen ErfahrungErfahrung wird in der frühen Abhandlung von 1947 zum Modell von AlteritätAlterität. PhänomenologiePhänomenologie meint hier eine lebensweltliche Erfahrung einer bestimmten intersubjektiven Konstellation:

      1 Die Konfiguration des Anderen ist gleichsam in mich eingeschrieben. Das bedeutet aber nicht, dass er mich besitzt oder ich ihn. Die RelationRelation zu ihm ist keine, die im Begriff des Besitzes aufgeht. Der Besitz widerspricht im Kern des Status des Anderen: „Wenn man den anderen besitzenBesitzen, ergreifen und erkennen könnte, wäre er nicht der andere. Besitzen, ErkennenErkennen, Ergreifen sind Synonyme des Könnens.“5 Nun wird auch deutlich, warum die Annäherung zweier sich liebender MenschenMensch so wichtig ist und weshalb dieses Dritte, jenseits von Erkennen und EkstaseEkstase, von Besitzen und Verlieren, von so entscheidender Bedeutung ist. Denn mit ihr kommen Momente der Zärtlichkeit und der BerührungBerührung ins SpielSpiel, sie bedeuten, je nachdem, wie man es sehen möchte, entweder den Verzicht auf Inbesitznahme oder die resignative Einsicht, dass ich den Anderen weder real noch symbolisch zu meinem EigentumEigentum machen kann. Kein KoitusKoitus in dieser WeltWelt vermag letztendlich eine Überwindung der prinzipiellen GrenzeGrenze, die mich vom anderen trennt. Diese Relation bildet die Voraussetzung für die geschlechtliche LiebeLiebe. Es ist die Annäherung, die mir vor Augen führt, dass der Andere sich immer entzieht und niemals endgültig greifbar ist, in diesem Sinne immer fremdfremd bleibt.

      2 Zur Beziehung zum Anderen, die sich in der LiebeLiebe zeigt, gehört auch, dass die Beziehung nicht von mir geschaffen wurde. Zur VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen gehört ganz konsequent, dass ich auf den Anderen antworte bzw. die Beziehung mit annehme (oder auch nicht): „Die Liebe ist nicht eine Möglichkeit, sie verdankt sich nicht unserer Initiative, sie ist ohne GrundGrund, sie überfällt uns und verwundet uns und dennoch überlebt in ihr das Ich.“6

      3 Die Konfiguration des Anderen entzieht sich mir. Das jeweils andere GeschlechtGeschlecht entzieht sich mir gerade deshalb, weil es das andere ist. An dieser Stelle wird deutlich, dass es nicht nur die Paarbildung, sondern auch die sexuelle DifferenzDifferenz ist, die bei LévinasLévinas, Emmanuel’ OntologieOntologie des Anderen im SpielSpiel ist. Wovon er sich entschieden und prinzipiell absetzt, ist ein Geschlechtermodell, das wie in PlatonsPlaton Symposion davon ausgeht, dass MannMann und FrauFrau komplementär seien und ihre Beziehung eine ursprüngliche EinheitEinheit wiederherstellt. Die LiebeLiebe ist in keinem Fall ein Verschmelzen, sondern sie spitzt die AlteritätAlterität, gerade im gelingenden Fall der Liebe, als menschliche Grundkonstellation zu:Der Unterschied der GeschlechterGeschlecht ist auch keine DualitätDualität zweier komplementärer Bezugspunkte, denn zwei komplementäre Bezugspunkte setzen ein präexistentes Ganzes voraus. Zu sagen, daß die geschlechtliche Dualität ein ganzes voraussetze, hieße von vornherein die LiebeLiebe als Verschmelzen zu setzen. Die Leidenschaftlichkeit der Liebe besteht jedoch in einer unüberwindlichen Dualität des Seienden. Es ist ein Verhältnis zu dem, das sich für immer entzieht. Das Verhältnis neutralisiert nicht ipso facto die AndersheitAndersheit, sondern bewahrt sie. Die Leidenschaftlichkeit der Wollust besteht darin, zu zweit zu sein. Das andere als anderes ist hier nicht ein ObjektObjekt, das das unsrige wird oder das wir wird; es zieht sich im Gegenteil in sein Geheimnis zurück.7

      Verworfen werden hier die zwei verwandten, aber nicht identischen Denkfiguren, KomplementaritätKomplementarität und SyntheseSynthese. Beide basieren auf der IdeeIdee, dass die herzustellende EinheitEinheit eine ursprüngliche Ganzheit wieder herstellt. Einen solchen UrsprungUrsprung gibt es bei LévinasLévinas, Emmanuel jedoch nicht, vielmehr befinden wir uns immer schon in einer Beziehung zum Anderen, die wir insofern nicht selbst geschaffen haben, als der Andere uns ja immer schon zuvor gekommen ist. Weil sich der Andere stets entzieht, kann die LiebeLiebe überleben. Wenn es so etwas wie ein Ganzes gibt, so, paradox gesprochen, dann nur in Gestalt einer unaufhebbaren AlteritätAlterität. Überhaupt ließe sich sagen, dass die FormForm, in der Lévinas Alterität denkt, eine paradoxe ist: Liebe ist das Eingeständnis, dass wir ohne den Anderen nicht – wenigstens nicht in einem emphatischen Sinne – leben können.

      Die FrageFrage bleibt indes, ob die LiebeLiebe wirklich die einzige und vorgängige Beziehung zum Anderen darstellt. Aber es wäre vorschnell, Lévinas eines kosmischen Optimismus zu bezichtigen. In der Liebe zeigt sich vielmehr die Möglichkeit unseres alteritärenAlterität In-der-WeltWelt-SeinsSein. Zweifelsohne ist auch für Lévinas die GewaltGewalt eine Möglichkeit in der Beziehung zum Anderen, die indes nicht imstande ist, dessen SchattenSchatten abzuwerfen.

      4.5. Die VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen

      Kommen wir noch einmal auf die zentrale Aussage der Lévinasschen Alteritäts-Philosophie, auf die VorgängigkeitVorgängigkeit des Anderen, auf die Tatsache, dass er uns immer zuvorkommt, zu sprechen: Wie zeigt und wie manifestiert sich diese AnwesenheitAnwesenheit des Anderen in mir? Um LévinasLévinas, Emmanuel’ Denkweise zu verstehen, sei noch einmal auf das, was DerridaDerrida, Jacques als „DislokationDislokation des griechischengriechisch LogosLogos“ bezeichnet hat, verwiesen. Diese Dislokation, diese Dezentrierung bzw. VerschiebungVerschiebung, wird aus einer Perspektive vorgenommen, die geistesgeschichtlich betrachtet unverzichtbarer Teil der okzidentalen TraditionTradition ist, nämlich die personale Gottesvorstellung im JudentumJudentum und den aus ihm hervorgegangenen ReligionenReligion. Lévinas’ Philosophie ist insofern säkularisiertes Judentum (und bis zu einem gewissen Grade auch ChristentumChristentum),