Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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den fatalen politischen Kontext dar, in den HeideggerHeidegger, Martin selbst sein Werk zwischen 1933 und 1945 gestellt hat.4

      Die nachfolgende, kommentierende Lektüre von LévinasLévinas, Emmanuel Werk stützt sich vor allem auf die folgenden Texte, die hier kurz skizziert sind. Es sind Texte von Lévinas und von Jacques DerridaDerrida, Jacques, der sich mehrfach zum Werk des Philosophen auf eine sehr textnahe und zugleich pointierte Weise geäußert hat:

       Die ZeitZeit und der Andere (Le Temps et l ’Autre, 1946/47) umfasst ursprünglich vier Vorlesungen, die Emmanuel Lévinas 1946/47 am Collège Philosophique im Quartier Latin gehalten hat. Der Text wurde 1948 als Aufsatz publiziert, erschien aber erst 1979 in Buchform auf Französisch und 1984 in deutscherdeutsch ÜbersetzungÜbersetzung.

       Ich und TotalitätTotalität erschien 1954 in der Revue de Métaphysique et de Morale, 1991 als Teil einer Essay-Sammlung Entre nous. Essais sur le penser-à-l’autre (bei Grasset), 1995 auf Deutsch unter dem Titel Zwischen uns. Versuche über das Denken an den Anderen.

       DerridasDerrida, Jacques wichtiger Aufsatz GewaltGewalt und Metaphysik. Essay über das Denken Emmanuel Lévinas wurde 1967 auf Französisch und 1972 auf Deutsch veröffentlicht.

       DerridasDerrida, Jacques Nachruf Adieu. Nachruf auf Emmanuel Lévinas erschien 1997 in FrankreichFrankreich, zwei Jahre später in DeutschlandDeutschland. Es handelt sich um zwei Reden, die eine vom 07.12.1996, eine posthume Hommage, die zweite ist Derridas Totenrede auf dem Friedhof Pantin vom 27.12.1995.

      Der Kommentar von Jacques DerridaDerrida, Jacques wurde aus zwei Gründen im vorliegenden Textkorpus berücksichtigt: Zum einen stellt er einen konzisen und hilfreichen Kommentar dar, der das Denken von Lévinas erschließt. Zum anderen macht er auf die philosophische Tragweite seines Konzeptes aufmerksam, ohne das die DekonstruktionDekonstruktion und ihre Auffassung von AlteritätAlterität nur schwer denkbar wären. Obwohl Lévinas’ Philosophie in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren entstanden ist, setzt die intensive Diskussion seines Werkes verspätet ein: Für die Entdeckung seiner Texte war nicht zuletzt dieser über hundertseitige Essay von Derrida aus dem Jahr 1967 verantwortlich. Derrida, der Lévinas dreißig Jahre später, in seiner Grabrede auf den älteren Philosophen, als „FreundFreund“ und „Lehrmeister“ bezeichnet,5 sieht die Bedeutung von LévinasLévinas, Emmanuel’ Denken darin, dass es offensiv und kritisch auf die KriseKrise der europäischen Philosophie – im Spannungsfeld zwischen HusserlHusserl, Edmund und HeideggerHeidegger, Martin – reagiert. Er erwähnt dabei insbesondere drei Punkte: erstens, dass Lévinas das philosophische Denken vom griechischengriechisch UrsprungUrsprung her kritisch hinterfragt; zweitens dessen ArchäologieArchäologie, die den „Raum der TranszendenzTranszendenz und jenen der Metaphysik“ neu bestimmt und öffnet, sowie das, was Derrida als HeteronomisierungHeteronomisierung der EthikEthik bezeichnet. Diese Ethik ist existenziell, aber sie kann, weil sie an den anderen geknüpft ist, nicht autonomAutonomie oder selbstbestimmt sein. Damit steht sie im Gegensatz zu klassischen Konzepten wie etwa jenen der AufklärungAufklärung oder des deutschendeutsch Idealismus. Vielmehr ist sie heteronomHeteronomie, also fremdbestimmt. Die IdeeIdee der Heteronomie nimmt nun ihren Ausgangspunkt von der FrageFrage nach dem Anderen. Derrida drückt dies durchaus pathetisch aus, wenn er schreibt:

      In dieser Tiefe bringt uns das Denken von Emmanuel Lévinas zum Erzittern. Auf dem GrundGrund der Trockenheit, in der wachsenden Wüstenei, läßt uns dieses Denken, das nicht länger mehr Denken des SeinsSein und der Phänomenalität sein will, von einer unglaublichen EntmotivierungEntmotivierung und BesitzaufgabeBesitzaufgabe träumen.6

      Die letzten beiden Termini sind im Zusammenhang mit der EntmächtigungEntmächtigung des autonomenAutonomie SelbstSelbst, das sich selbst setzt, zu verstehen. Die philosophische RelationRelation, die Lévinas zwischen dem Selbst und dem Anderen konstituiert, läuft, wie das Präfix ent- nahelegt, auf einen Entzug hinaus. Die Motivierung erfolgt von einem Gegenüber, nicht von mir. Sofern der Andere mich konstituiert, kann nicht länger vom Selbstbesitz die Rede sein. In seinem Kommentar wird deutlich, dass diese neue Konstellation, die nichts mehr mit dem traditionellen HumanismusHumanismus zu tun hat, positiv gesehen wird, als ein TraumTraum.

      Diese produktive ‚SelbstaufgabeSelbstaufgabe‘ der Philosophie vollzieht sich DerridaDerrida, Jacques zufolge auf mehreren Ebenen. Derrida führt dabei folgende Punkte an:

      1 Die DislokationDislokation des griechischengriechisch LogosLogos und damit verbunden der Dislozierung unserer IdentitätIdentität. Das von der jüdischen TraditionTradition inspirierte Denken von Lévinas[…] ruft uns auf, den griechischengriechisch OrtOrt zu verlassen, damit wir auf etwas zugehen, das selbst kein UrsprungUrsprung und kein (den Göttern zu gastlicher) Ort mehr ist, auf eine Respiration, ein prophetisches Wort zu, das nicht nur früher als PlatonPlaton, nicht nur früher als die VorsokratikerVorsokratiker, sondern jenseits allen griechischen Ursprungs gesprochen (gemurmelt: sufflé): ‚das Andere des Griechischen‘ ist.7

      2 Es geht in diesem Denken um die Bestimmung der ursprünglichen Möglichkeiten der Metaphysik und ihre Überführung in eine EthikEthik, die in der Existenz des MenschenMensch gründet und die nicht einfach eine Anwendung philosophischer Prämissen auf das Gebiet von Ethik und MoralMoral ist.

      3 Dieses Denken appelliert an die „ethischeEthik Beziehung“, an ein „gewaltloses Verhältnis zum Unendlichen als dem schlechthin Anderen, zum Fremden“ das allein imstande wäre, den Raum der TranszendenzTranszendenz zu eröffnen und die Metaphysik zu befreien. „Die Ethik ist also die Metaphysik“, „Die MoralMoral ist kein Zweig der Philosophie, sondern Erste Philosophie“.8 DerridaDerrida, Jacques spitzt diesen Punkt zu, wenn er pointierend festhält: „LévinasLévinas, Emmanuel schlägt vor, Offenheit im allgemeinen von der Gastlichkeit oder vom Empfang her zu denken – und nicht das Gegenteil.“9 Es handelt sich um ein Denken, dass das SeinSein nicht länger als ObjektObjekt vorbestimmt. Lévinas philosophiert jenseits der SubjektSubjekt-Objekt-Korrelation.10

      Um sich die Radikalität des Lévinasschen Ansatzes zu vergegenwärtigen und sich die DifferenzDifferenz zu KojèveKojève, Alexandre und SartreSartre, Jean-Paul vor Augen zu führen, ist es hilfreich, diese drei Momente im Denken des Philosophen in ihrem systematischen Zusammenhang zu fassen. Das fremdefremd Andere bekommt bei Lévinas seinen Auftritt nicht wie bei Sartre, erst nachdem sich das SubjektSubjekt zunächst als Für-sich begriffen hat und als eine Art notwendiges Übel, das zum reflexiven Bewusstsein führt. Vielmehr ist der Andere immer schon vorhanden: Ich bin von Anfang an in mir gespalten und diese VorgängigkeitVorgängigkeit, diese zeitliche Antezendenz des Anderen in mir, ist es, die eine FormForm von EthikEthik eröffnet, in der das Moment des Empfangs die entscheidende Rolle spielt. Vorgängigkeit meint, dass immer schon ein Anderer vor mir da ist, dass ich niemals der oder die erste bin. Es ist, um ein sehr einprägsames Beispiel zu verwenden, immer ein anderer MenschMensch, eine FrauFrau, eine MutterMutter, der ich meine Existenz verdanke. Kein Mensch ist selbstgeboren.

      Die Abkehr vom griechischengriechisch LogosLogos, die VerschiebungVerschiebung der Metaphysik hin zu einer Seinsethik und die Überwindung des klassischen SubjektSubjekt-ObjektObjekt-Denkens bedingen einander. Sie haben ihren gemeinsamen OrtOrt in der Art und Weise, wie Lévinas die Konfiguration des Anderen begreift.

      4.3. LévinasLévinas, Emmanuel erster programmatischer Text Die ZeitZeit und der Andere

      Der Titel der ersten SchriftSchrift von Lévinas, Die ZeitZeit und der Andere, ist natürlich auch eine Replik auf HeideggersHeidegger, Martin SeinSein und Zeit, in der, wie schon SartreSartre, Jean-Paul kritisch konstatiert hat (Kapitel 2.6.), der Andere vornehmlich (negativ) als jenes ManMan, Paul de vorkommt, das dem einzelnen als eine unpersönliche und einförmige gesellschaftliche MachtMacht entgegentritt und das sich zufällig in der gemessenen Zeit (im Unterschied zur subjektiven Zeit) manifestiert.

      ZeitZeit gründet auf der Beziehung zum Anderen. Letztere sowie die zeitliche RelationRelation werden in dieser Philosophie eng geführt: „Das Ziel dieser Vorlesungen besteht darin zu zeigen, daß die Zeit nicht das Faktum eines isolierten und einsamenEinsamkeit Subjektes, sondern