Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


Скачать книгу

oben wiedergegebene Nacherzählung unternimmt Freud sodann eine Deutung des Olimpia-Komplexes. Dieser gründet in der Annahme der IdentitätIdentität von Nathanael und Olimpia. Olimpia sei „ein von Nathanael losgelöster Komplex“, der in der „zwanghaften LiebeLiebe zur Olimpia ihren Ausdruck“19 finde. Diese Liebe sei ausschließlich eine „narzißtische“ und entfremde ihn von seinem „realen Liebesobjekt“.20 Die RelationRelation zu dem gedoppelten VaterVater interpretiert der Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse als eine FixierungFixierung, die die Liebe zur FrauFrau, Clara, die zugleich das Realitätsprinzip verkörpert, unmöglich macht. Darin besteht die kastrierende Funktion des bösen Vaters.

      Das ins Phantastische gesteigerte UnheimlicheUnheimliche, das ist demnach die Entstellung eines peinlich Vertrauten, nicht von etwas Unbekanntem. Sie ist zum einen die Folge einer Verdrängung, die in der Begegnung mit Coppola, dem zuweilen satirisch beschriebenen DoppelgängerDoppelgänger des teuflischen Coppelius, zutage tritt. Sie folgt der LogikLogik der Wiederkehr des VerdrängtenVerdrängte. Sie ist natürlich auch das Werk der literarischen Fiktion, die eine andere WeltWelt schafft, in der „für die Dauer unserer Hingegebenheit“21 möglich ist, was in der erlebten Welt unmöglich ist. So ist nicht ganz klar, ob die Erlebnisse des Studenten als real zu begreifen sind. Am Ende jedoch wird laut Freud deutlich, „daß der Optiker Coppola wirklich der Advokat Coppelius und also auch der SandmannSandmann ist“.22 Der böse VaterVater ist demnach mit magischen Kräften ausgestattet, um den eher zarten Muttersohn zu verderben.23

      Dass Freud eine eindeutige Lösung des Falls bevorzugt, hat auch damit zu tun, dass die psychoanalytische Lesart das UnheimlicheUnheimliche, das auflöst und es auf ein vergessenes und verdrängtes Ganzes zurückführen möchte. Das Unheimliche ist eigentlich per definitionem aufklärungsresistent, aber die psychoanalytische FormForm einer zweiten AufklärungAufklärung liefert den Schlüssel, das Geheimnis des Unheimlichen ans Licht zu fördern. Wenn Freud also letztendlich von der Existenz von Coppola (coppa ist die Augenhöhle) und dessen IdentitätIdentität mit Coppelius (der Name leitet sich übrigens von copella: Probiertiegel ab) ausgeht, dann verweist die Erinnerung, die Nathanael im ersten Brief an seinen FreundFreund mitteilt, auf ein reales traumatisches Geschehen, das um Kastrationsdrohung und sexuellen Missbrauch kreist.24

      Hoffmanns Erzählung selbst bietet alternative Deutungen an. Aus dem Blickwinkel der Braut handelt es sich um phantastische und eingebildete ÄngsteAngst, denen der Geliebte widerstehen sollte. Deshalb auch bittet Clara ihren Geliebten inständig, die Spukgestalten seiner PhantasiePhantasie aus seinem Inneren zu verbannen und die GeschichteGeschichte von der Wiederkehr des unheimlichenunheimlich Coppelius in Gestalt von Coppola, die er in seinem Brief mitgeteilt hat, zu verbrennen.

      Überhaupt enthält Hoffmanns Text eine ganze Reihe von scheinbar unwichtigen Details, so etwa jenes, dass der Brief des Studenten versehentlich in die Hände seiner Braut gelangt, oder dass das Haus, in dem Nathanael wohnt, wie von Zauberhand niederbrennt, wodurch er nun in das Haus übersiedelt, in dem die mysteriöse Schönheit Olimpia wohnt. Deren Namen ist ähnlich und doch andersAndersheit als die Stadt der antiken griechischengriechisch Sommerspiele und – damit verbunden – der Berg der griechischen Götter, der Olymp. Verwirrend ist auch, dass am Ende nicht etwa der Optiker Coppola auftritt, sondern der Alchemisten-FreundFreund des VatersVater aus der Kinderzeit. Gerade die VerschiebungVerschiebung Olimpia/Olympia ließe sich doch im Sinne einer verzerrenden Traumarbeit deuten, die dem Text Hoffmanns zugrunde liegt. Es ist erstaunlich, dass dieser Sachverhalt dem professionellen Traumdeuter Freud entgangen ist. So schildert Hoffmanns Erzählung nicht etwa nur unheimlicheunheimlich Begebenheiten und Ähnlichkeiten, sondern ist selbst als Gesamttext insofern traumhaft, traumatisch und unheimlich, als sich in ihm nichts endgültig klärt. So wissen doch die Umgebung Nathanaels und der namenlose Erzähler, der sich nach den drei Briefen zu Eingang des Textes zu Wort meldet, nicht mehr als die Figuren, die in dem unheimlichen Geschehen agieren. Im Gegensatz zu Freud müsste eine genauere Lesart des Textes davon ausgehen, dass sich dieser nicht auflösen lässt.

      Umgekehrt ist Nathanael freilich felsenfest von der Wahrheit seiner GeschichteGeschichte überzeugt. Mit Freud ließe sich sagen, dass AngstAngst- und Kastrationsvorstellungen eine psychische „RealitätRealität“ darstellen, eine ‚subjektive‘ WirklichkeitWirklichkeit, die die PsychoanalysePsychoanalyse als eine neue Disziplin ernst zu nehmen hat, übrigens an diesem Punkt ganz ähnlich wie die romantische PsychologiePsychologie. Insofern nimmt die psychoanalytische Interpretation des Fremden eine dritte Position ein, die die binäre OppositionOpposition zwischen dem allzu engen aufklärerischen RationalismusRationalismus und einem ‚romantischen‘ Irrationalismus auflöst.

      Das wird auch deutlich, wenn Freud mutmaßt, „daß der Dichter uns selbst durch die Brille oder das Perspektiv des dämonischen Optikers schauen lassen will, ja daß er vielleicht in höchsteigener Person durch solch ein Instrument geguckt hat“.25 Damit rückt das optische Instrument in die NäheNähe einer manipulativen Gerätschaft, die das Bekannte verzerrt und unkenntlich macht. Das Gerät, das in Hoffmanns Text zum Einsatz kommt, ist nicht identisch mit dem methodischen Instrumentarium der PsychoanalysePsychoanalyse, die die dunklen Kräfte nicht einfach verbannen und verbieten möchte wie Clara; die ‚Optik‘ der Psychoanalyse möchte durch den Blick in das Glas des Dramas gewahr werden, das sich ‚hinter‘ dem vordergründig sichtbaren Spuk abspielt. Was Nathanael sieht, hat auch dann Gewicht, wenn es ein reines Phantasiegebilde ist. Insofern markiert die psychoanalytische Sicht, womöglich über Freud hinaus, auf die WeltWelt in Hoffmanns Text eine dritte Perspektive jenseits jener von Nathanael und von Clara.

      3.3. Fremde sind wir uns selbst: Julia KristevaKristeva, Julia

      Was als unheimlichunheimlich auftritt, erweist sich am Ende als das Andere meiner selbst, dem ich ausgeliefert bin. Diese Figur des verdrängten Eigenen findet sich im Titel des Buches der französischen Psychoanalytikerin, Feministin und Poststrukturalistin Julia KristevaKristeva, Julia Etrangers à nous-mêmes (Fremde sind wir uns selbst). Äußerer Anlass für ihr Buch war die bereits in den 1980er Jahren in FrankreichFrankreich aufflammende Fremdenfeindlichkeit, die zur Gründung von SOS Racisme führte, einer Einrichtung, die wiederum Pate für SOS Mitmensch in ÖsterreichÖsterreich stand. Darüber hinaus stellt Kristevas Abhandlung einen Kommentar zu Freuds Text über das UnheimlicheUnheimliche, das dar, und zwar genau vor dem Hintergrund einer kollektiven politischen AggressionAggression gegen Fremde, gegen ausländischeausländisch MenschenMensch, die im Falle Frankreichs zumeist aus den ehemaligen Kolonialgebieten nach Frankreich kommen.

      Das hässliche oder auch das romantisch verklärte AntlitzAntlitz des Fremden ist laut KristevaKristeva, Julia verzerrtes Abbild des verdeckten Eigenen und ist demnach das Ergebnis der entstellenden ArbeitArbeit der ProjektionProjektion, die ihre Ursache in unserer eigenenEigentum GespaltenheitGespaltenheit hat. Mit dem französischen Psychoanalytiker Jacques LacanLacan, Jacques gesprochen manifestiert sich diese, wie bereits ausgeführt, in der Unterscheidung von einem JeJe und einem moimoi. Diese drückt sich beispielsweise in den Figuren der Ich-TeilungIch-Teilung oder Ich-VerdopplungIch-Verdopplung aus. Damit greift Lacan einen Befund auf, der, wie wir gesehen haben, in Freuds Abhandlung über das UnheimlicheUnheimliche, das mit dem Doppelgängertum verbunden ist.

      Die Interpretation KristevasKristeva, Julia geht von Freuds TheseThese aus, „daß das archaische, narzißtische, noch nicht von der Außenwelt abgegrenzte Ich das in sich als bedrohlich oder unangenehm Empfundene aus sich heraus projiziert und daraus einen fremdenfremd, unheimlichenunheimlich, dämonischen DoppelgängerDoppelgänger macht“.1 In diesem Bereich ist auch das UnheimlicheUnheimliche, das angesiedelt: „Das Unheimliche, das BilderBild vom TodTod, von AutomatenAutomat, von Doppelgängern oder vom weiblichenweiblich GeschlechtGeschlecht auslöst […], ereignet sich, wenn „die GrenzeGrenze zwischen PhantasiePhantasie und WirklichkeitWirklichkeit verwischt wird.“2

      Die Autorin zitiert einen Satz aus einem Gespräch eines KindesKind mit seinem Analytiker. „Ich bin gern ich, ich bin nicht gern ein anderer.“3 Das UnheimlicheUnheimliche, das erweist sich als „Königsweg“, der uns die Zurückweisung des Fremden in uns selbst begreifen lässt:

      In der faszinierten Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes UnheimlichenUnheimliche,