Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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beschreitet die PsychoanalysePsychoanalyse rund einhundert Jahre später einen anderen Weg, das Unbewusste zu ergründen. Sie versucht die SpurenSpur, die dieses ungeachtet aller ‚Verdrängungen‘ hinterlässt, (körperliche Symptome, TraumTraum), zu lesen.

      Es ist eine romantische Erzählung, die die Brücke zur PsychoanalysePsychoanalyse des Fremden schlägt, nämlich Hoffmanns kunstvoller und vieldeutiger Text Der SandmannSandmann. Ihn macht Sigmund FreudFreud, Sigmund zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum UnheimlichenUnheimliche, das, während die LacanLacan, Jacques-Schülerin Julia KristevaKristeva, Julia insofern über Freud hinausgeht, als sie Hoffmanns Text und Freuds Kommentar in eine genuin psychoanalytische Theorie des Fremden integriert. Mit AdelbertChamisso, Adalbert von von Chamissos Erzählung des heimatlosen und unbekanntenunbekannt Peter Schlemihl betreten wir noch ein anderes romantisches Gelände. Aber insgesamt befinden wir uns in diesem Kapitel im Bereich jener zweiten Phänomenlage von AndersheitAndersheit, die konnotativ mit dem Fremdem, völlig Andersartigen, Unbekannten, Mysteriösen und Unheimlichen verquickt ist.

      3.2. Das UnheimlicheUnheimliche, das als Fremdes und Vertrautes. Freuds Lektüre von E.T.A. HoffmannHoffmann, E.T.A.

      Inwiefern hat das Thema des UnheimlichenUnheimliche, das mit dem vielschichtigen Makro-PhänomenPhänomen des Alteritären zu tun? Der Terminus enthält, wenn auch scheinbar in negierter FormForm, den semantischen Kern ‚heim/Heim‘, auf den sich jene HeimatHeimat bezieht, die nicht selten als Gegenstück zur Fremde begriffen wird. Wer nicht zu Hause ist, der befindet sich in der Fremde. Aber wie verhält es sich nun mit dem Unheimlichen? Ganz offenkundig ist es mit dem Fremden nicht gleichzusetzen, hat aber mit dem Phänomenkomplex des Befremdlichen und der FremdheitFremdheit einiges gemein.1

      Um das UnheimlicheUnheimliche, das in seiner schillernden Bedeutungsvielfalt zu erkunden, gibt es Sigmund FreudFreud, Sigmund, dem Begründer der PsychoanalysePsychoanalyse, zufolge zwei Möglichkeiten: Man kann sich etymologisch nach den verschiedenen Bedeutungen von unheimlichunheimlich aber auch heimlichheimlich umsehen, aber es ist auch denkbar, all jene Situationen zu ergründen, in denen jenes Unheimliche auftritt: „Ich will gleich verraten, daß beide Wege zum nämlichen Ergebnis führen, das Unheimliche sei jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zurückgeht.“2 Insofern gehört das Unheimliche nicht nur zum Komplex des Fremden, sondern auch zum Komplex des Vertrauten, das z.B. fremdfremd wird. In seiner kurzen Abhandlung Das Unheimliche (1919) wird Freud, wie er selbst schreibt, beide Wege beschreiten, den etymologischen und den ‚phänomenalen‘.

      Freud bezeichnet das „UnheimlicheUnheimliche, das“ als eine Kategorie, die ein Randgebiet der ÄsthetikÄsthetik darstellt, aber für die PsychologiePsychologie von enormem Interesse ist. Damit akzentuiert er einen markanten Gegensatz zwischen PsychoanalysePsychoanalyse und Ästhetik. Die Psychoanalyse arbeite nämlich, so Freud, in „anderen Schichten des Seelenlebens“3 als jene. Umgekehrt scheint sich die traditionelle RegelRegelästhetik, die sich vornehmlich auf die Beschäftigung mit dem Schönen konzentriert hat, nicht sonderlich für PhänomenePhänomen des Unheimlichen zu interessieren. Aus diesem GrundGrund sei es, als Kreuzungspunkt des Ästhetischen und des Psychischen, in der Ästhetik unterbelichtet geblieben. In seiner knappen Abhandlung verweist der Begründer der Psychoanalyse auf die Studie von E. JentschJentsch, Ernst Zur Psychologie des Unheimlichen (1906), die schon Grundlage von E.T.A. HoffmannsHoffmann, E.T.A. Text und auch Offenbachs Operette Hoffmanns Erzählungen war. Jentschs SchriftSchrift hat Freud also ganz offenkundig den Hinweis auf die Meistererzählung des Unheimlichen, E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der SandmannSandmann (1817), entnommen. Nebenbei bemerkt verwendet Hoffmann selbst den Begriff des Unheimlichen in der fast gleichzeitig entstandenen Novelle Das Majorat.4 Eine strategisch wichtige Rolle für den Text über das Unheimliche und Fremde spielt aber, wie wir noch sehen werden, auch die Studie seines Schülers Otto RankRank, Otto über den DoppelgängerDoppelgänger (→ Kapitel 12).

      Die Bedeutung des deutschendeutsch Wortes unheimlichunheimlich ist – wie Freud, der die Nachschlagewerke seiner ZeitZeit zur Hand nimmt, ausführt – überaus komplex und widersprüchlich. Aber bevor der Autor auf die Etymologie des deutschen Ausdrucks unheimlich eingeht, nimmt er einen Umweg, indem er nach fremdsprachigen Pendants zum Wort Ausschau hält:

      Latein: locus suspectus, intempestus

      Altgriechisch: xénos5

      Französisch: inquiétant, sinistre, lugubre, mal à son aise

      Spanisch: sospechoso, de mal aguëro

      Das Italienische und Portugiesische verwenden Umschreibungen, während das Arabische und das Hebräische unheimlichunheimlich als dämonisch oder schaurig übersetzen. Das altgriechische Wort xenos bezeichnet indes in seiner primären Bedeutung den Fremden oder als to xenon das Fremde (als neutrales Substantiv) und macht somit schon auf den Zusammenhang von fremdfremd und unheimlich aufmerksam.

      Das deutschedeutsch Wort leitet sich indes negativ von Heim ab, jenem Wort, das auch der HeimatHeimat zugrunde liegt. Der Heimatbegriff ist für gewöhnlich der Gegenbegriff zur Fremde, und zwar unter beiden perspektivischen Blickwinkeln: Aus der eigenenEigentum Perspektive bin ich in der Fremde, der MenschMensch in der DiasporaDiaspora, im ExilExil. Aus der Perspektive des und der Anderen ist er/sie ist ein/e Fremde/r, weil er/sie sich nicht in seiner/ihrer Heimat befindet und weil er/sie hier nicht zu Hause ist.

      Was aber bedeutet das Wort heimlichheimlich? Ganz offenkundig hat es, Freud zufolge, mehrere Bedeutungsnuancen und KonnotationenKonnotation:

      1 Bedeutung: heimlichheimlich = heimelig, zum Hause gehörig, nicht fremdfremd, vertraut, zahm, traut, traulich (lat. familiaris)

      2 Bedeutung: versteckt, verborgen gehalten, „so dass man Andere nicht davon oder darum wissen lassen, es ihnen verbergen will“.6

      In seinem etymologischen Streifzug ist im Hinblick auf die erste Bedeutung ein gewisser manipulativer Trick unübersehbar,7 findet sich doch weder im Grimmschen WörterbuchGrimmsches Wörterbuch8 und schon gar nicht in den Lexika unserer Tage9 eine Bedeutungszuschreibung, die das Heimliche über den Umweg des Heimeligen mit dem Heimisch-Vertrauten in eins setzen würde. Kurzum, das Wort ‚heimlichheimlich‘ hat von Anfang an jene ‚entstellte‘ Bedeutung, die es zum Gegenpol des verflixt ähnlichen Wortes ‚heimisch‘ oder ‚heimelig‘ macht. Es ließe sich also allenfalls sagen, dass das Wort eigentlich auf GrundGrund der LogikLogik des Deutschen diese Bedeutung haben müsste bzw. könnte. Denn die Nachsilbe -lich zeigt eine zumeist wertneutrale Adjektivierung an, auch wenn bei Wörtern wie ‚hässlich‘ (HassHass), ‚zierlich‘ (Zier) bzw. ‚lieblich‘ (LiebeLiebe) eine gewisse Bedeutungsverschiebung unübersehbar ist. In diesem Sinne ließe sich sagen – und das käme Freuds Deutung wieder nahe –, dass das Heimliche etwas ist, dass daheim, vor den Augen anderer verborgen, stattfindet.

      In der zweiten Bedeutung fällt die Bedeutung von „heimlichheimlich“ weithin, wenn auch nicht so eindeutig, wie es Freud suggeriert, mit dem „UnheimlichenUnheimliche, das“ zusammen.10 Freud zitiert SchellingSchelling, Friedrich Wilhelm Joseph: „Unheimlich nennt man Alles, was im Geheimnis, im Verborgenen […] bleiben sollte und hervorgetreten ist.“11 Das Heimliche wird zum Unheimlichen: „Wir nennen das unheimlichunheimlich, Sie nennen’s heimlich.“12 (Gutzkow) Der Ausdruck unheimlich durchkreuzt also Freud zufolge – das ist schon ein bedeutsamer und bemerkenswerter Befund – die binäre OppositionOpposition, die mit dem Präfix un angezeigt zu sein scheint. Das Unheimliche ist nicht das Gegenteil von heimlich, weil sich bereits die Bedeutung des Heimlichen entscheidend verschoben hat. Es ist aber auch nicht dasselbe wie das Heimliche. Etwas Störendes, das nicht in das Vertraute und Eigene integriert werden kann, liegt ihm zugrunde. So ist das Unheimliche gewiss nicht etwas, das zum Heim und damit zum symbolischen EigentumEigentum gehört, aber das lässt sich auch für das Heimliche sagen, das ja nicht in die symbolische Ausstattung des Heimes passt und daher verschwiegen werden muss. Das ist genau der Punkt, der Freud an diesem PhänomenPhänomen interessiert.

      Hoffmanns Erzählung beginnt