Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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veranlagte Verlobte Clara und deren Bruder beteiligt sind. Die drei kennen sich schon von Kindesbeinen an. An diese brieflichen DialogeDialog schließt sich dann ein Text an, in der die Erzählerrede vorherrscht. Die GeschichteGeschichte nimmt ihren Ausgang von der Begegnung Nathanaels mit einem italienischen Optiker, der ihm magische Augengläser verkauft, mit deren Hilfe er später eine schöne FrauFrau im Haus gegenüber, nämlich die PuppePuppe Olimpia, sieht, in die er sich unsterblich verliebt. Die Begegnung mit dem merkwürdigen Coppola rufen in ihm traumatische Kindheitserinnerungen hervor, in deren ZentrumZentrum der früh verstorbene VaterVater und dessen furchterregender FreundFreund Coppelius stehen. Beide Männer sind zusammen allabendlich in merkwürdige ‚alchemistische Experimente‘ verwickelt gewesen, an denen die KinderKind offenkundig nicht teilhaben sollten, weswegen sie mit der Geschichte vom SandmannSandmann ins Bett geschickt worden sind. Der Sandmann ist hier Teil einer schwarzen Pädagogik und eine böse, dämonische Gestalt, die den unartigen Kindern die Augen ausreißt. Die Gestalt des Sandmanns verschmilzt in der kindlichen Erinnerung mit der des unheimlichenunheimlich Alchimisten, der ebenfalls nach den Augen des Kindes trachtet. Im Augenglashändler Coppola will der Student den Coppelius seiner Kindheit wiedererkannt haben, wobei die Ähnlichkeit des Namens, aber auch gewisse äußerliche Gemeinsamkeiten, von entscheidender Bedeutung sind.

      Clara und ihr Bruder wollen Nathanael diese ‚Hirngespinste‘ ausreden und bitten ihn flehentlich zur VernunftVernunft zu kommen. So fordert ihn seine Verlobte auf, eine phantastische GeschichteGeschichte, die er geschrieben und die das Geschehen der Kindheit zum Gegenstand hat, zu verbrennen. Nathanael verstrickt sich indes immer weiter in die von Coppola und einem italienischen Professor, Spalanzani, dem VaterVater der schönen Olimpia, inszenierten Ereignisse. Die stumme und starre Schönheit, derentwegen der junge MannMann seine rational denkende Verlobte vergessen und verlassen möchte, erweist sich am Ende als eine täuschend echte Nachahmung, als ein AutomatAutomat, für den der Konstrukteur scheinbar echte Augen benötigt. Dies bildet ganz offenkundig die AnalogieAnalogie zu der traumatischen Kindheitssituation mit dem SandmannSandmann. Bei einem Streit zwischen den beiden Fremden – beide sind Italiener – geht die schöne PuppePuppe entzwei.

      Nathanael verfällt in eine schwere psychische KrankheitKrankheit und scheint am Ende doch von den schockartigen – inneren wie äußeren – Ereignissen geheilt zu sein. Er kehrt, scheinbar von seinem Wahn befreit, zu seiner Verlobten zurück. Clara schlägt ihm einen Ausflug in die Stadt und auf den Rathausturm vor. Unter den MenschenMensch, die er vom Turm aus sieht, glaubt er den Advokaten Coppelius zu erkennen, der höhnisch zu ihm hinaufblickt. Er bricht in Raserei aus und versucht, seine Verlobte vom Turm in die Tiefe zu stürzen. Zuletzt aber stürzt er sich selbst in die Tiefe. Aber selbst durch das tragische Ende des jungen Romantikers bleibt das Spannungsverhältnis zwischen PhantasiePhantasie und WirklichkeitWirklichkeit bestehen, auch wenn das Ende die zerstörerische MachtMacht der Phantasie, vor der sich Clara und ihr Bruder immer schon gefürchtet haben, scheinbar bestätigt. Durch die VerschiebungVerschiebung der Erzählperspektive bleibt unklar, ob nur Nathanael oder auch die anderen Figuren jenen mysteriösen Coppelius sehen können, den Hoffmanns Protagonist von Anfang mit Coppola identifiziert hat.

      Unverkennbar ist, wie wir noch sehen werden, die Lesart Freuds durchaus selektiv. Sie greift nämlich ausschließlich jene Aspekte aus dem literarischen Text auf, die für die Entwicklung der eigenenEigentum Theorie des UnheimlichenUnheimliche, das als eines Fremden, das vertraut war, aber verdrängt worden ist, von Relevanz sind:

       Freud erzählt die GeschichteGeschichte vom SandmannSandmann in einem durchgängigen Format, während sie bei Hoffmann multi-perspektivisch ist. Letzterer stellt die Geschichte im ersten Teil nämlich als Brief-Erzählung dar. Freud löscht aber damit die polyphone Struktur des Textes zugunsten einer einzigen Lesart auf.

       Freud erzählt die GeschichteGeschichte zeitlich linear, während sie bei Hoffmann diskontinuierlich erzählt wird (durch die Verwendung von Erinnerungs-Rückblenden).

       Freuds Nacherzählung erzeugt DistanzDistanz, während die Hoffmannsche die Leserschaft in den opaken Raum der Erzählung mit hineinzieht.

      Das führt in Hoffmanns Textur dazu, dass die Erzählung die Leserschaft hinsichtlich des Geschehenen im Unklaren lässt; was geschehen ist, lässt sich nicht auflösen. So weiß die Leserschaft nicht, ob es sich nur um Nathanaels Phantasmagorien handelt und was in seiner Kindheit wirklich passiert ist.13

      Freuds Nacherzählung, die hier als ein eigenerEigentum Text verstanden wird, lässt sich auch als ein Metatext begreifen, der den Text Hoffmanns wiederholt, überschreibt und zugleich abwandelt. Die Unterstreichungen der im Folgenden abgedruckten Version Freuds markieren jene figuralen und dramatischen narrativen Eckpunkte, die den Plot seiner Nacherzählung bilden. Diese wird in voller Länge wiedergegeben, wobei für die Interpretation zentrale Geschehenselemente unterstrichen worden sind:

      Der Student Nathanael, mit dessen Kindheitserinnerungen die phantastische Erzählung anhebt, kann trotz seines Glücks in der GegenwartGegenwart die Erinnerungen nicht bannen, die sich an den rätselhaft erschreckenden TodTod des geliebten VatersVater knüpfen. An gewissen Abenden pflegte die MutterMutter die KinderKind mit der Mahnung zeitig zu Bette zu schicken: Der SandmannSandmann kommt, und wirklich hört das Kind dann jedes Mal den schweren Schritt eines Besuchers, der den Vater für diesen Abend in Anspruch nimmt. Die Mutter, nach dem Sandmann befragt, leugnet dann zwar, dass ein solcher andersAndersheit denn als Redensart existiert, aber eine Kinderfrau weiß greifbarere Auskunft zu geben: „Das ist ein böser MannMann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen, und wirft ihnen Hände voll Sand in die Augen, daß sie lustig zum Kopfe herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen, die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel wie Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“

      Obwohl der kleine Nathanael alt und verständig genug war, um so schauerliche Zutaten zur Figur des Sandmanns abzuweisen, so setzte sich doch die AngstAngst vor diesem selbst in ihm fest. Er beschloß, zu erkunden wie der SandmannSandmann aussehe, und verbarg sich eines Abends, als er wieder erwartet wurde, im Arbeitszimmer des VatersVater. In dem Besucher erkennt er dann den Advokaten Coppelius, eine abstoßende Persönlichkeit, vor der sich die KinderKind zu scheuen pflegten, wenn er gelegentlich als Mittagsgast erschien, und identifiziert nun diesen Coppelius mit dem gefürchteten Sandmann. Für den weiteren Fortgang dieser Szene macht es der Dichter bereits zweifelhaft, ob wir es mit einem ersten Delirium des angstbesessenen Knaben oder mit einem Bericht zu tun haben, der als real in der Darstellungswelt der Erzählung aufzufassen ist. Vater und GastGast machen sich an einem Herd mit flammender Glut zu schaffen, Der kleine Lauscher hört Coppelius rufen: „Augen her, Augen her“, verrät sich durch seinen Aufschrei und wird von Coppelius gepackt, der ihm glutrote Körner aus der Flamme in die Augen streuen will, um sie dann auf den Herd zu werfen. Der Vater bitte die Augen des Kindes frei. Eine tiefe Ohnmacht und lange KrankheitKrankheit beenden das Erlebnis. Wer sich für die rationalistische Deutung des Sandmannes entscheidet, wird in dieser PhantasiePhantasie des Kindes den fortwirkenden Einfluß der Erzählung der Kinderfrau nicht verkennen. Anstatt der Sandkörner sind es glutrote Flammenkörner, die dem Kind in die Augen gestreut werden sollen, in beiden Fällen damit die Augen herausspringen. Bei einem weiteren Besuche des Sandmannes ein Jahr später wird der Vater durch eine Explosion im Arbeitszimmer getötet; der Advokat verschwindet vom OrteOrt, ohne eine SpurSpur zu hinterlassen.

      Diese Schreckgestalt seiner Kinderjahre glaubt nun der Student Nathanael in einem herumziehenden italienischen Optiker Giuseppe Coppola zu erkennen, der ihm in der Universitätsstadt Wettergläser zum Kauf anbietet und nach seiner Ablehnung hinzusetzt: „Ei nix Wetterglas, nix Wetterglas! – hab auch sköne Oke – sköne Oke.“ Das Entsetzen des Studenten wird beschwichtigt, da sich die angebotenen Augen als harmlose Brillen herausstellen; er kauft dem Coppola ein Taschenperspektiv ab und späht mit dessen Hilfe in die gegenüberliegende Wohnung des Professors Spalanzani, wo er dessen schöne, aber rätselhaft wortkarge und unbewegte Tochter Olimpia erblickt. In diese verliebt er sich bald so heftig, daß er seine kluge und nüchterne Braut Clara über sie vergißt. Olimpia ist indes ein AutomatAutomat, an dem Spalanzani das Räderwerk gemacht und dem Coppola – der SandmannSandmann – die Augen eingesetzt hat. Der Student kommt hinzu, wie die beiden Meister sich