Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


Скачать книгу

diesem Zusammenhang fallen unter anderen auch die Namen von Georg SimmelSimmel, Georg (1858–1918),2 Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra (1864–1944), Werner SombartSombart, Werner (1863–1941) und Alfred SchützSchütz, Alfred (1899–1959). Sie gelten als zentrale Stichwortgeber in einer Disziplin, für die das Thema nicht nur wie geschaffen schien, sondern auch durch die die Figur eine bedeutsame kulturanthropologische Weitung erfuhr.

      Der Text von Georg SimmelSimmel, Georg, der neben Karl MarxMarx, Karl und Alfred WeberWeber, Samuel als einer der Mitbegründer der deutschendeutsch SoziologieSoziologie gilt, steht dabei zeitlich am Anfang, erschien er doch bereits im Jahre 1908. Mit der Figur des Fremden hat sich Simmel, der nicht zuletzt auch als Theoretiker des Geldes, der Mode und der GeschlechterGeschlecht hervorgetreten ist, Horst StengerStenger, Horst zufolge „immer wieder beschäftigt, mit Fremdheitserfahrungen kaum, jedenfalls nicht mit einem deutlich konturierten systematischen Interesse“.3 Diese Ansicht ist weit verbreitet und zugleich erstaunlich, schon deshalb, weil sie die systematische Absicht hinter der essayistischen FormForm übersieht. Mit Simmels kultursoziologischem ‚Gründungstext‘ über den Fremden liegt nämlich eine schwergewichtige und äußerst verdichtete Abhandlung vor, die sowohl die Figur und Funktion des Fremden als auch dessen ErfahrungenErfahrung in Augenschein nimmt. Woran sich die aktuelle Soziologie reibt, ist womöglich jene unsystematische, ‚essayistische‘ Verfahrensweise eines ihrer Gründungsväter. Dabei bleibt außer Acht, welche reflexive, analytische Leistung und welche Plastizität durch diese kreisende und assoziative Denkbewegung möglich sind. Gerade im Hinblick auf ein überaus komplexes und paradoxes PhänomenPhänomen wie FremdheitFremdheit kann dieses Verfahren neue Bedeutungskontexte eröffnen.

      Zentrale TheseThese bei SimmelSimmel, Georg ist, dass sich FremdheitFremdheit als eine soziale Beziehung und Position begreifen lässt. Dieses Alteritätskategorie ist demzufolge keine substanzielle Eigenschaft, sondern relational und darüber hinaus kontextabhängig. Ähnlich wie in den Texten von Alfred SchützSchütz, Alfred und Robert Ezra ParkPark, Robert Ezra4 kommt dabei auch die Binnenperspektive des Fremden, also die FremdheitserfahrungFremdheitserfahrung zur SpracheSprache. Wie wir gesehen haben, macht es in Hinblick auf das Thema dieses Buches einen erheblichen Unterschied, ob man diese aus der subjektiven Perspektive des- und derjenigen, der/die die ErfahrungErfahrung von Fremdheit und die damit verbundene Zuschreibung von außenAußen erfährt, erlebt, oder ob man diese aus einer Außenperspektive darstellt.

      SimmelsSimmel, Georg zentraler Text über den Fremden findet sich in einem Werk, das auf GrundGrund seines Titels ein systematisches Vorgehen suggeriert: SoziologieSoziologie. Untersuchungen über die FormenForm der VergesellschaftungVergesellschaftung. Bei genauerem Hinsehen erweist sich dieses Werk aber als überaus heterogenHeterogenität und enthält viele Themen, die Simmel in knappen, essayistisch behandelten Texten behandelt hat: Streit und Geheimnis, Raum und Erbamt (Vererbung eines herrscherlichen Amtes), Schmuck und Adel, Treue und Dankbarkeit, soziale Stratifikation, IndividualismusIndividualismus und GruppeGruppe. Zusammengehalten wird das Buch durch eine systematische methodische Fragestellung, in der die Soziologie als eine Wissenschaft von der Vergesellschaftung begriffen wird. Dieser prozessual gedachte Vorgang wird dabei sowohl im Lichte der SozialisationSozialisation wie auch der KulturalisationKulturalisation definiert. Was Simmel thematisiert und ihn für die gegenwärtige KulturanalyseKulturanalyse attraktiv macht, ist der Umstand, dass soziale und kulturelle PhänomenePhänomen hier immer im Zusammenhang mit Beziehungen und Positionierungen untersucht werden.

      Der knappe, überaus dichte Text über den Fremden findet sich im neunten und vorletzten Kapitel des Buches. Es ist der dritte Exkurs im RahmenRahmen von SimmelsSimmel, Georg Überlegungen zu Raum und Räumlichkeit. Raum versteht Simmel dabei nicht in einem vornehmlich physischen oder territorialen Sinn, sondern als ein soziokulturelles Gestaltungsprinzip. Der Raum ist nur dann ein menschlicher Raum, wenn er bestimmte soziale und kulturelle Funktionen erfüllt, wenn er von MenschenMensch nach ganz bestimmten Regeln bewohnt und benutzt wird. Der Raum ist ein wesentlicher Faktor dessen, was menschliche KulturKultur und GesellschaftGesellschaft möglich macht und plastisch verdichtet.

      Der Fremde wird dabei nicht durch bestimmte ‚essentialistischeessentialistisch‘ Eigenschaften, sondern durch seine PositionierungPositionierung in einem gegebenen soziokulturellen Raum bestimmt. Jede Veränderung dieses Raumes kann die jeweilige Position von MenschenMensch verändern. Wenn sich ein sprachlich, ethnischEthnie oder religiös zunächst heterogenerHeterogenität Raum tendenziell homogenisiert (wie das im Fall der europäischen Nationsbildungen der Fall war und ist), dann werden Menschen, ohne dass sie sich selbst geändert haben, plötzlich Fremde, zumindest aber Marginalisierte, die sich am RandRand einer symbolischen RaumRaum (symbolisch)ordnung oder gar außerhalbAußerhalb von ihr befinden. Umgekehrt ist es natürlich ebenfalls denkbar, dass Menschen in einem gegebenen Raum ihre deplatzierte Position aufgeben und sich plötzlich in einer anderen, günstigeren sozialen Position befinden.

      SimmelsSimmel, Georg Ausführungen über den Fremden sind also von vornherein in eine Theorie des Spatialen eingebettet. Diese geht davon aus, dass sich, systemtheoretisch gesprochen, in modernenmodern GesellschaftenGesellschaft verschiedene Dimensionen des Räumlichen ausdifferenzieren. Er unterscheidet zwischen physischen, sozialen, symbolischen und imaginären Räumen. Darüber hinaus betont Simmel den engen Zusammenhang zwischen dem Raum und seinen Beschränkungen: Konstitutives Bestimmungsmerkmal des Raumes ist seine GrenzeGrenze. Fremde sind MenschenMensch, die sich außerhalbAußerhalb oder an den Rändern eines gegebenen sozialen und symbolischen Feldes befinden. Nicht zuletzt denkt Simmel dieses Makrophänomen raumzeitlich, das heißt als einen bewegten modus vivendi. Dieser Punkt ist für sein Verständnis des Fremden ganz entscheidend. Denn ähnlich wie bei Chamisso (→ Kapitel 3.3.) sind Fremde für ihn Menschen, die nicht in verfestigte Raumordnungen passen.

      SimmelsSimmel, Georg Text akzentuiert in seinem Konzept des Fremden das Moment der BewegungBewegung: Fremde MenschenMensch sind dadurch charakterisiert, dass sie wandern: Sie zeichnen sich durch eine „Gelöstheit von jedem gegebenen RaumpunktRaumpunkt“ aus und stehen damit im Gegensatz zu jenen Fixierungen, die für das PhänomenPhänomen des Raumes charakteristisch sind.

      Der und die Fremde verkörpern also die EinheitEinheit beider Bestimmungen. Er und sie sind nicht im Raum fixiert und befinden sich zugleich im Status innerer wie äußerer Beweglichkeit. Generell gesprochen ist das Verhältnis zum Raum zum einen die notwendige Bedingung, zum anderen aber das „SymbolSymbol“ des „Verhältnisses zu MenschenMensch“. Auf die Figur des und der Fremden umgelegt, bedeutet dies, dass fremdefremd Menschen ihr Verhältnis zu den Räumen, in die sie einwandern, ex negativo bestimmen. Dies geschieht durchaus unfreiwillig: Flucht vor gewaltpolitischer VerfolgungVerfolgung, KriegKrieg oder Vertreibung sind klassische FormenForm von krasser Fremdbestimmung. In dem Raum, den sie neu betreten, sind sie oft durch den Abstand zu den von anderen, den Einheimischen, bewohnten Gefilden bestimmt und befinden sich auch symbolisch außerhalbAußerhalb dieser. Ihnen wird von den Lokalen ein Platz zumeist am RandeRand zugewiesen.

      Bisher haben wir das Fremde unter anderem aus kognitiver Perspektive (das Unbekannte), als Kategorie der DifferenzDifferenz, als ProduktProdukt systematischer psychisch-affektiver Verdrängung, als Gegensatz zur ‚HeimatHeimat‘ und in vielen weiteren Konstellationen kennengelernt. SimmelSimmel, Georg thematisiert das Fremde indes als eine höchst widerspruchsvolle Erscheinung, in der Kategorien wie NäheNähe und Ferne eine zentrale Rolle spielen.

      Der SoziologeSoziologe unterscheidet in seinem Essay die permanenten von den potenziellen WanderndenWandernde. Erstere führen ein nomadisches LebenLeben, die anderen haben oftmals provisorisch an einem OrtOrt angesiedelt, sind aber ihrer ganzen Haltung nach mobil. Die ÜbergängeÜbergang sind dabei fließend und wir dürfen auch nicht vergessen, dass die Räume, von denen die Rede ist, nicht nur physisch-reale, sondern auch symbolische und virtuelle sind. Beide Typen gehören „von vornherein“ nicht in die räumliche OrdnungOrdnung, in der sie sich befinden. Vor allem für die MenschenMensch, die sich nach ihrer Wanderung niederlassen und eingerichtet haben, ist dies markant. Sie sind einst in diesen Raum gekommen und trugen Qualitäten in ihn hinein, die nicht aus diesem stammen und stammen können:

      Die EinheitEinheit von NäheNähe und Entferntheit, die jegliches Verhältnis zwischen MenschenMensch enthält, ist hier zu einer, am kürzesten