Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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der sowohl KapitalismusKapitalismus als auch KommunismusKommunismus als fremde, ergo jüdische ProdukteProdukt begreift, ist ein erschreckendes Beispiel dafür. Immer ist es der MenschMensch, der von außen kommt, durch den das Übel in die eigeneEigentum HeimatHeimat geschleust wird.

      Insofern gerät der Fremde potentiell in jene Position, die der französische Literaturwissenschaftler und Anthropologe René GirardGirard, René als „SündenbockSündenbock“ bezeichnet hat. Wenn eine GesellschaftGesellschaft in eine KriseKrise – PestPest, HungersnotHungersnot, WirtschaftskriseWirtschaftskrise, verlorener KriegKrieg – gerät, wird von der betroffenen Bevölkerung nach einem Schuldigen gesucht. Wie Girard am Beispiel der Pest zeigt, sind es an der Wende zur NeuzeitNeuzeit in EuropaEuropa die Fremden im Eigenen, die ‚jüdischen Brunnenvergifter‘, die diese Funktion übernehmen müssen. Ihre schiere Existenz erklärt scheinbar den Ausbruch der Krise und ihre reale wie symbolische Vernichtung verspricht einen Ausweg aus ihr.11 In gewisser Weise lässt sich also auch sagen, dass Fremde produzierbar sind. In Freuds Terminologie heißt das, dass der Fremde jene Figur ist, an der sich die kollektive AggressionAggression einer sozialen Entität – einer überschaubaren vormodernen GemeinschaftGemeinschaft, aber auch einer abstrakten modernenmodern Gesellschaft – entlädt. Von einer MagieMagie der GewaltGewalt spricht Girard in diesem Zusammenhang: Der Gewalt wird die Kraft zugesprochen, reinigend und klärend zu wirken.12 Sigmund FreudFreud, Sigmund wiederum beschreibt, wie die Aggression nach AußenAußen im Sinne einer Triebentladung im Inneren funktioniert. Die strukturell gewalttätige KonstitutionKonstitution des Fremden schweißt die Einheimischen zu einer geschlossenen GruppeGruppe zusammen. Freud formuliert das ganz lapidar: „Es ist immer möglich, eine größere Menge von MenschenMensch in LiebeLiebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben.“13

      Schauen wir uns nun an, wie SimmelSimmel, Georg das Verhältnis von Bekannten und Fremden vergleicht. Diese RelationenRelation unterscheiden sich signifikant voneinander. Zu den Fremden, die nur ganz allgemeine Qualitäten mit der einheimischen GruppeGruppe und ihrer KulturKultur gemeinsam haben, zu diesen Heimatlosen, unterhält die einheimische Gruppe ein höchst abstraktes, emotional schwaches GemeinschaftsgefühlGemeinschaftsgefühl. „JeJe größer die AbweichungAbweichung“, schreibt der französische Kulturtheoretiker René GirardGirard, René, „um so größer das Risiko der VerfolgungVerfolgung“. 14 Hinzuzufügen ist, dass sich diese Abweichungen potentiell durch Bündelung – soziale, ethischeEthik und sexuelle Unterschiede – aufladen.

      Demgegenüber ist unser Verhältnis zu bekannten MenschenMensch durch VerbundenheitVerbundenheit und durch eine „Gleichheit von spezifischen Differenzen“ charakterisiert. Dieser Einklang baut sich gegen das Allgemeine auf: Die Verbundenheit etabliert potentiell ein Wir-GefühlWir-Gefühl gegen die Anderen.

      Jenes Gemeinsame selbst vielmehr wird in seiner Wirkung auf das Verhältnis dadurch wesentlich bestimmt, ob es nur zwischen den Elementen eben dieses besteht und so, nach innen zwar allgemein, nach außenAußen aber spezifisch und unvergleichlich ist – oder ob es für die Empfindung der Elemente selbst ihnen nur gemeinsam ist, weil es überhaupt einer GruppeGruppe oder einem Typus oder der MenschheitMenschheit gemeinsam ist.15

      Im Hinblick auf den Fremden konstatiert SimmelSimmel, Georg eine eigentümliche Mischung aus NäheNähe und Ferne, oder eine Affekthaltung aus Kühle und Wärme, aus Unbeteiligtheit und Beteiligtheit:

      Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheit nationalernational oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemein menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und uns hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden.16

      Das Moment der nahen FremdheitFremdheit hat auch in der erotischenErotik Beziehung eine Bedeutung: Die Fremdheit bildet den Reiz, an dem sich das BegehrenBegierde entzündet. Inzestuöse Beziehungen beziehen ihren Reiz von kulturellen Verboten, aber sie tragen das Problem möglicherweise fehlender Fremdheit zwischen den Partnern in sich.17 Insofern ließe sich sagen, dass alle langwährenden Beziehungen tendenziell ‚inzestuös‘, das heißt symbiotisch werden. Zur KriseKrise intimerintim Beziehungen kommt es nicht zuletzt dann, wenn das Gefühl der Einzigartigkeit der eigenenEigentum LiebeLiebe wie die des geliebten MenschenMensch verschwindet. Die Partner werden einander fremdfremd, weil sie sich zu nahe gekommen sind. Dahinter lauert die FrageFrage, ob ‚unsere‘ Beziehung wirklich so einzigartig ist, wie es unsere romantische VerliebtheitVerliebtheit nahelegt hat: Ist das Zweien Gemeinsame nicht am Ende doch eines, das nicht bloß ihnen gemeinsam ist?18

      Die Konklusion ist wohl, dass erfolgreiche erotischeErotik Beziehungen solche sind, in denen ein Spannungsverhältnis von Nah und Fern bestehen bleibt, in dem die ErfahrungErfahrung von NäheNähe und Ferne aufrechterhalten wird (vgl. die Analyse der Zärtlichkeit bei LévinasLévinas, Emmanuel → Kapitel 4). Im Falle ethnischerEthnie Unterschiede in intimenintim Beziehungen überlagern sich zwei verschiedene Fremdheiten, das mag das Gefühl der Einzigartigkeit verstärken, bietet aber wohl keine SicherheitSicherheit gegen den Verlust des „Einzigartigkeitsgefühls“, die SimmelSimmel, Georg für die intime Beziehung als konstitutiv ansieht.

      SimmelSimmel, Georg erwähnt indes noch eine andere Konzeption des Fremden, in der jedwede Gemeinsamkeit ausgeschlossenAusschluss ist. Er erläutert dies am griechischengriechisch Begriff des ‚BarbarenBarbar‘, einer traditionellen Bezeichnung der antiken Griechen für alle anderen fremdsprachigen Völker. Den ‚barbaroi‘ werden all die generellen Eigenschaften abgesprochen, die man mit den MenschenMensch der eigenenEigentum KulturKultur teilt und die man für sich reklamiert: all die Werte, SittenSitten und Gepflogenheiten, die für selbstverständlich gelten. Diese Beziehung zum Fremden ist die „Nicht-Beziehung“. Das ist politisch gesprochen die Position des Rassisten gegenüber reichen oder auch armen Minderheiten, gegenüber kolonialisierten außereuropäischen Völkern oder gegenüber Nachbarvölkern, die man beherrscht. Die Nicht-Gemeinsamkeit wird zum entscheidenden Element unserer Nicht-Beziehung zum Fremden, der nah und fern zugleich ist. Der Fremde wird auch nicht in seiner Individualität und seiner sozialen Stellung wahrgenommen, sondern als bestimmter kultureller Typus behandelt. Beispiele dafür sind die mittelalterliche JudensteuerJudensteuer und die Nürnberger RassengesetzeNürnberger Rassengesetze des NationalsozialismusNationalsozialismus.

      SimmelSimmel, Georg konstatiert zu Ende seiner kurzen Abhandlung eine Zunahme des Fremden als Folge des Überganges von blut- und stammesverwandtschaftlich organisierten GemeinschaftenGemeinschaft zu abstrakteren Gebilden. Ausdrücklich erwähnt er dabei das kulturelle Gebot der ExogamieExogamie, die Vorschrift, Fremde zu heiraten, das heißt MenschenMensch, die außerhalbAußerhalb des Familienverbandes stehen.

      Charakteristika der GlobalisierungGlobalisierung gehören letztendlich in den Phänomenbereich des ‚Exogamen‘, also des Austausches und der VerbindungVerbindung mit immer Fernerem: Es kommt zu einer Zunahme von Wanderbewegungen und, damit verbunden, von FremdheitFremdheit. Die Beziehung von Nahem und Fernem verändert sich und überlagert sich. NäheNähe verschwindet nicht, wird aber relativ und relational, das heißt, sie ist nunmehr Teil einer WechselwirkungWechselwirkung, die sich aus der Polarität von nah und fern, bekannt und fremdfremd, ergibt.

      Mit SimmelSimmel, Georg und seiner Philosophie des Geldes kann man auch daran denken, wie das abstrakte und immer virtueller werdende Tauschmedium GeldGeld die Raum-Koordinaten verschiebt. Es komprimiert gleichsam die global gewordene MenschheitMenschheit und weckt AngstAngst vor dem Verlust von ‚IdentitätIdentität‘, deren kulturelle KonstruktionKonstruktion ohne Bekanntheit und VertrautheitVertrautheit undenkbar ist. Kurzum besteht die Sorge, ‚HeimatHeimat‘, inklusive der mit diesem Begriff einhergehenden Affekte (ZugehörigkeitZugehörigkeit, StolzStolz, PathosPathos, Glücksgefühl), zu verlieren. Es gibt gerade in den hochentwickelten kapitalistischen GesellschaftenGesellschaft, die ohne die tiefgreifenden kulturellen Wirkungen des Geldes undenkbar sind, die Bereitschaft breiter Schichten in der Bevölkerung, gegen das abstrakt Fremde des Geldes und des KapitalsKapital Sturm zu laufen. Zuweilen lugen dahinter die alten stereotypen Feindbilder hervor: Der AntisemitismusAntisemitismus und generell jedwede Fremdenfeindlichkeit richten sich gegen ethnischeEthnie oder soziale GruppenGruppe, gegen innere und äußere FeindeFeind, die nicht selten mit dem Medium des Geldes verbunden sind und Verschwörungstheorien