Wolfgang Müller-Funk

Theorien des Fremden


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Michel gehört, wie wir noch sehen werden, zu jener zweiten GenerationGeneration französischer Nachkriegsphilosophen, die unter Berufung auf Karl MarxMarx, Karl und Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich die idealistische GeistGeist-Philosophie HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich und insbesondere seine DialektikDialektik und seinen Systemgedanken zu unterminieren trachten. In der Antrittsvorlesung würdigt der frisch berufene Epistemologe Foucault Jean HippolyteHippolyte, Jean, den Lehrer, Vorgänger und FreundFreund, der mit seiner ÜbersetzungÜbersetzung von Hegels PhänomenologiePhänomenologie zu einem neuen Verständnis des deutschendeutsch Philosophen beigetragen habe. Aus diesem GrundGrund werde seine französische Übertragung auch von „jenen Deutschen“ „konsultiert“, „um seine ‚deutsche Version‘ besser zu verstehen“.4 Hippolyte habe das „Hegelsche SystemSystem“ nicht als ein „beruhigendes Universum“, sondern vielmehr als „das äußerste Wagnis der Philosophie“ begriffen.5

      Wenn in der oben zitierten ironischen Passage vom Anrennen gegen die Hegelsche List die Rede ist, so handelt es sich dabei um eine Anspielung auf dessen Philosophie der GeschichteGeschichte. In dieser erweist sich die VernunftVernunft durch eben jene List, die sich die BegehrenBegierde des Einzelnen zunutze macht, als die dominierende MachtMacht des historischen Prozesses, auch wenn dabei der Einzelne bzw. das Besondere zu Schaden kommen.6 Diese DialektikDialektik ist, wenn auch unausgesprochen, in der Auseinandersetzung zwischen HerrHerr und KnechtKnecht anwesendAnwesenheit: Zwar wird der Unterlegene als Knecht marginalisiert, doch dient das zugleich dem Fortschritt der Geschichte in Gestalt des triumphierenden SelbstbewusstseinsSelbstbewusstsein. Die Gegenwärtigkeit und Aktualität des „gespenstischen SchattensSchatten“ von HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich zeigt sich nicht zuletzt in den SpurenSpur, die seine Überlegungen in den philosophischen Alteritätsdiskursen unserer Tage hinterlassen haben. Exemplarisch soll dies anhand der in der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, unter Bezugnahme auf einflussreiche Philosophen wie Alexandre KojèveKojève, Alexandre und Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul, gezeigt werden.

      2.2. Die Entdeckung des Anderen im postkolonialen FrankreichFrankreich

      Dass das Thema des Anderen und des Fremden und seine diversen Ausformungen so aktuell sind, ja sich geradezu aufdrängen, hat mit geschichtlichen Bedingungen zu tun, die im ersten einleitenden Kapitel umrissen wurden: Sie werden unter den Begriff einer GlobalisierungGlobalisierung gefasst, die politische, ökonomische, aber auch kulturelle Effekte zeitigt und die als ein Langzeitprozess zu verstehen ist. Diese Entwicklung ist ohne den Komplex der Eroberung der sog. Neuen WeltWelt und die daran anknüpfenden Kolonialisierungswellen undenkbar. Der KolonialismusKolonialismus ist die maßgebliche Ursache dafür, dass die Begegnung mit fremdenfremd KulturenKultur von einer kulturellen Schieflage, von einem asymmetrischenAsymmetrie Verhältnis geprägt ist, in der brutale Machtausübung, militärische ExpansionExpansion, Ausbeutung und menschliche Geringschätzung Hand in Hand gegangen sind. In diesem Zusammenhang kann erwähnt werden, dass zwei bedeutende französische Autoren, der Dichter Albert CamusCamus, Albert und der Philosoph Jacques DerridaDerrida, Jacques, aus Algerien stammen und beide den unermesslich blutig verlaufenen Prozess der kolonialen Befreiung hautnah miterlebt haben. Camus’ Der Fremde und Derridas Überlegungen zur AlteritätAlterität nähren sich nicht zuletzt aus dieser historischen ErfahrungErfahrung.1

      Dieser realgeschichtlichen Entwicklung steht, komplementär und kontrastiv, eine Wende der okzidentalen philosophischen DiskurseDiskurs gegenüber. In dieser spielt die Figur des/der Anderen bzw. des/der Fremden eine zentrale Rolle, da sie die Allmacht des Ichs in FrageFrage stellt. Exemplarisch hierfür ist die Entwicklung der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, die in diesem Abschnitt vor allem Vincent DescombesDescombes, Vincent folgend skizziert werden soll.

      DescombesDescombes, Vincent unterscheidet in seinem Überblickswerk, das den programmatischen Titel Le même et l’autre (Das Selbe und das Andere. Fünfundvierzig Jahre Philosophie in FrankreichFrankreich 1933–1978) trägt, zwei Perioden der französischen Philosophie. Die eine umfasst die GenerationGeneration jener, die nach 1900 geboren sind und deren Wirksamkeit sich auf die Jahre 1930 bis 1960 konzentriert. Diese fasst er mit der Formel von den drei H: HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich, HusserlHusserl, Edmund, HeideggerHeidegger, Martin. Diese drei deutschsprachigen Philosophen bilden Descombes zufolge die fixen Bezugsgrößen für die ältere Generation, also für Jean-Paul SartreSartre, Jean-Paul (1905–1980), Alexandre KojèveKojève, Alexandre (1902–1968), Jean HippolyteHippolyte, Jean (1907–1968), Emmanuel LévinasLévinas, Emmanuel (1906–1995) und Maurice Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice (1908–1961).

      Die zweite Periode wird von der GenerationGeneration der zwischen 1915 und 1930 geborenen Philosophen repräsentiert, die dann ab den 1960er Jahren bestimmend wird und die sich an den Meistern des Zweifels orientieren. Bei letzteren handelt es sich wieder um deutschdeutschsprachige Denker: Karl MarxMarx, Karl (1818–1883), Friedrich NietzscheNietzsche, Friedrich (1844–1900) und Sigmund FreudFreud, Sigmund (1856–1939). Sie stellen wichtige Bezugsgrößen für den theoretischen DiskursDiskurs nach 1960 dar. DescombesDescombes, Vincent bezieht sich hierbei auf Theoretiker wie zum Beispiel Michel FoucaultFoucault, Michel (1926–1984), Roland BarthesBarthes, Roland (1915–1980) oder Jacques DerridaDerrida, Jacques (1930–2004).

      Auffällig ist, wie gesagt, die DominanzDominanz deutschsprachiger Meisterdenker in diesem DiskursDiskurs. DescombesDescombes, Vincent kommt in diesem Zusammenhang auf das Problem der ÜbersetzungÜbersetzung zu sprechen. So wurde zum Beispiel HegelsHegel, Georg Wilhelm Friedrich PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist erst 1947 durch Jean Hipppolyte vollständig übersetzt und bis in die 1970er Jahre war das Hauptwerk HeideggersHeidegger, Martin SeinSein und ZeitZeit auf Französisch nicht zugänglich. Das Fehlen einer kanonisierten Übersetzung eröffnete freilich einen interpretatorischen und kontextuellen Spielraum und ermöglichte so großzügige Adaptionen. Kultureller TransferTransfer bedeutet immer auch die widersprüchliche, manchmal paradoxe Einfügung des Fremden in den eigenenEigentum Kontext. Dadurch verändert sich beides, das Eigene sowie das Fremde.

      Die an sich erstaunliche RückkehrRückkehr zu HegelHegel, Georg Wilhelm Friedrich und damit verbunden seine Neu-Interpretation als „Avantgarde-Autor“ lassen sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Ein wesentliches Moment ist das wieder erwachte Interesse am Hegel-Schüler MarxMarx, Karl (der später eine anti-hegelianische, nämlich strukturalistische Lesart durch Louis AlthusserAlthusser, Louis, einen Autor der zweiten Periode der französischen NachkriegsphilosophieFranzösische Nachkriegsphilosophie, erfuhr2) und seinem Verständnis von geschichtlichem Handeln und vom Primat der Praxis (vgl. seine FeuerbachFeuerbach, Ludwig-TheseThesen als Kritik an der Philosophie).3 Ein anderer GrundGrund ist die Neubewertung speziell der PhänomenologiePhänomenologie des GeistesGeist durch den russisch-französischen Philosophen Alexandre KojèveKojève, Alexandre.4 In diesem Zusammenhang erfahren die Hegelsche DialektikDialektik und die ihr zugrunde liegende Triade (These – AntitheseAntithese – SyntheseSynthese) eine überraschende Aufwertung. Diese Philosophie wird, andersAndersheit als bei PlatonPlaton, nicht mehr als Modus des DialogsDialog (das Abwägen des Für und Wider und die IntegrationIntegration bzw. Synthetisierung der beiden konträr erscheinenden Positionen), sondern als die maßgebliche, dynamische FormForm des historischen Entwicklungsprozesses selbst begriffen. Die Hegelsche Version der Dialektik wird, wie DescombesDescombes, Vincent hervorhebt, als Korrektiv zum Kantianischen RationalismusRationalismus verstanden. In diesem Sinne betrachtet etwa Merleau-PontyMerleau-Ponty, Maurice Hegel als einen Vorgänger von Freud und NietzscheNietzsche, Friedrich.5 Dieser hat in Kojèves Deutung die Forderung nach einer „konkreten“, nicht-idealistischen Philosophie, die den „unvernünftigen UrsprungUrsprung der VernunftVernunft“ zum Thema macht, ins ZentrumZentrum gerückt.6 Bei Merleau-Ponty wird, wie später bei SartreSartre, Jean-Paul, Hegels Idealismus in eine ‚realistische‘ Philosophie integriert, in der das Primat der Vernunft kritisch hinterfragt wird (→ Kapitel 2.6.). Die moralische Last dieses Hegelianismus, in der die EthikEthik ein blinder Fleck ist, wird freilich auch schon von Kojève – Ausgangspunkt sind die Verbrechen des StalinismusStalinismus7 – thematisiert: „Der Erfolg spricht das Verbrechen los.“8

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