Gerhard Langer

Midrasch


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nach der Bibelchronologie (Genesis – Ester) – eine umfassende Midrasch-Kompilation vor. In den letzten Jahrzehnten des 19. und in den ersten des 20. Jahrhunderts bemühen sich Salomon Buber, David Z. Hoffmann und Hayyim S. Horovitz um die Rekonstruktion nicht erhaltener Midraschim auf der Grundlage mittelalterlicher Texte (u.a. MHG, Jalqut). Deutsche Übersetzungen der klassischen Midraschim besorgt in dieser Zeit August Wünsche mit den fünf |2|Bänden seiner Bibliotheca Rabbinica (1880–1885) sowie mit den fünf Bänden kleinerer Midraschim, die unter dem Titel Aus Israels Lehrhallen zwischen 1907 und 1910 erscheinen.

      2. Die neueren Entwicklungen

      Die Erforschung von Midrasch ist seit ungefähr 1970 durch Interdisziplinäre Methodologieninterdisziplinäre Methodologien und Fragestellungen charakterisiert, die das Verhältnis zwischen Text und Intertexten und soziohistorischen oder kulturellen Kontexten untersuchen. Pionierarbeit leistete in diese Richtung Jacob Neusner. In Development of a Legend trägt er die Traditionen von einer und über eine „Gründungsfigur“ der rabbinischen Bewegung, Jochanan ben Zakkai, in tannaitischen und amoräischen Quellen – d.h. nicht nur Midrasch-Kompilationen – zusammen und analysiert diese nach Kategorien, die der talmudischen Literatur eigen sind. Midrasch wird jetzt weniger als geschichtliche Quelle gelesen; die Untersuchung der rabbinischen Korpora oder Dokumente könne, so Neusner, höchstens zu einer approximativen Beschreibung der Weltanschauung, der Ideologie, der Mentalität der Rabbinen beitragen. Allerdings mehren sich in jüngerer Zeit erneut Ansätze, die rabbinischen Äußerungen wieder enger an die Personen zu binden und als authentisch zu betrachten.

      Die literaturtheoretische Reflexion der 1970er und 1980er Jahre, kollektiv als New CriticismNew Criticism bezeichnet, übte großen Einfluss auf die Erforschung der rabbinischen Literatur in Amerika, Europa und Israel aus. Bei diesem textimmanenten Zugang zu Midrasch wird die rabbinische Literatur nicht (mehr) auf ihre historischen Kontexte und Entstehungsbedingungen befragt. Historische Fakten aus diesen Texten zu gewinnen verliert an Relevanz, sobald man anfängt, sie als didaktische Fiktionen zu betrachten, die bestenfalls Informationen über die Situation der rabbinischen Erzähler hergeben können. Ein wichtiges Beispiel dieser Übernahme von Methodologien anderer Disziplinen ist der Sammelband, den Hartman und Budick mit dem Titel Midrash and LiteratureMidrash and Literature 1986 herausgaben. Hier wird auf die Vorgeschichte des Midrasch in der innerbiblischen Exegese (vgl. die Beiträge von Geoffrey Hartman und Michael Fishbane) sowie auf das Weiterleben der Formen und Themen der rabbinischen Exegese in der Literatur der Neuzeit und in der Gegenwart verwiesen. Vier zentrale Aufsätze – von Joseph Heinemann, Judah Goldin, James Kugel und David Stern – befassen sich mit Midraschim der klassischen Periode. Etliche ähnliche kollektive Unternehmungen sind seitdem erschienen, darunter The Midrashic ImaginationThe Midrashic Imagination, eine Festschrift für Yonah Fraenkel mit |3|älteren Beiträgen, die hauptsächlich von israelischen Forschern stammen.

      Der Gedanke, dass Midrasch nicht auf die rabbinische Periode zu beschränken ist, steht im Zentrum von Susan Handelmans Monografie The Slayers of Moses. Es handelt sich dabei um eine Geschichte der Hermeneutik von den griechischen Anfängen bis ins 20. Jahrhundert, die die hermeneutischen Prinzipien des klassischen Midrasch als immer da gewesene darstellt. Diese interpretiert Handelman als wirkungsvolle Herausforderung der griechisch-christlichen hermeneutischen Traditionen, insbesondere in den philosophischen und literaturkritischen Arbeiten jüdischer post-moderner Denker wie Jacques Derrida und Harold Bloom.

      Daniel Boyarins Grundlagenwerk Intertextuality and the Reading of MidrashIntertextuality and the Reading of Midrash gehört zu dieser Phase der textimmanenten Lektüre von Midrasch als Literatur. Anhand einer Reihe von intensiven Analysen ausgewählter Passagen aus der Mechilta illustriert Boyarin die intertextuelle Arbeit des Midrasch, ihre charakteristischen Formen – die Verwendung von Belegversen aus anderen Büchern der Bibel bzw. aus anderen Teilen des Kanons, die Polyphonie der Meinungen der Rabbinen in Bezug auf einen unklaren Vers, die Erzählung von Meschalim/Gleichnissen als explizite Auslegung.

      David Sterns Studie Midrash and TheoryMidrash and Theory widmet sich in einer Reihe von Essays der Verbindung von Midrasch und modernen Literaturtheorien, um zu eruieren, wie diese ein geeignetes Instrumentarium für die Lektüre von Midrasch bieten, die nach zentralen Aspekten wie der inhärenten Polysemie des Bibeltextes, den literarischen Formen, welche die Midrasch-Hermeneutik verwendet, dem Wesen einer Midrasch-Gattung u.a. fragt.

      Die europäische Midrasch-Forschung ist durch die Arbeiten von Arnold GoldbergArnold Goldberg geprägt. Die von ihm vorgeschlagene exegetische Terminologie (citem, questem u.a.) hat sich jedoch nur begrenzt durchgesetzt. Er und seine Schülerinnen und Schüler in der so genannten Frankfurter Schule analysieren Midrasch-Werke zwar als Literatur, aber mit einem streng synchronen und strukturalistischen Ansatz, der formanalytischen Methode. Dabei werden die literarischen Formen und ihre Funktionen innerhalb des unmittelbaren Kontexts beschrieben. In zahlreichen Aufsätzen befasste sich Goldberg mit den Formen der so genannten homiletischen Midraschim (vgl. Gesammelte Schriften II). Lieve Teugels verwendet die formanalytische Methode u.a. in ihrer Studie der Midrasch-Traditionen zu Gen 24.

      Goldbergs Formanalyse wurde von Philip S. Alexander um die Frage nach der Midrasch-Methode, d.h. dessen Hermeneutik und Schriftverständnis, erweitert. Auch in Alexander SamelyAlexander Samelys Untersuchung |4|der Funktion von Midrasch in der Mischna wirkt Goldberg weiter. Nicht nur mit kleineren Einheiten, sondern mit den meisten strukturell relevanten literarischen Merkmalen der antiken jüdischen Literatur, inklusive Midrasch, befasste sich ein an den Universitäten von Manchester und Durham abgeschlossenes Forschungsprojekt, an dem Alexander und Samely beteiligt waren (Samely, Profiling).

      Midrasch als LiteraturMidrasch als Literatur fasste in dieser Zeit nicht nur in Amerika und Europa, sondern auch in Israel Fuß. Wichtige Beispiele dafür stellen die Beiträge des Erzählforschers Dov NoyDov Noy sowie die literarhistorisch ausgerichteten Arbeiten von Joseph HeinemannJoseph Heinemann und Yonah FraenkelYonah Fraenkel dar. Unbedingt zu erwähnen sind auch die Arbeiten von Joshua LevinsonJoshua Levinson. Yonah Fraenkels Darche ha-Aggada we-hamidrasch, nicht zu verwechseln mit der grundlegenden Arbeit von Isaak Heinemann, Darche ha-Aggada, klassifiziert und beschreibt Inhalt, Formen und hermeneutische Techniken von midraschischen und haggadischen Quellen aus der klassischen Periode, d.h. vom 1. Jh. v.Z. bis ins 6. Jh. n.Z. Diese Literatur, die als Produkt der rabbinischen Akademie (bet ha-midrasch) entstanden sein soll, die von Rabbinen für ihre Schüler konzipiert wurde, wird Fraenkels literaturwissenschaftlicher Analyse unterzogen. Fraenkel plädiert für eine Lektüre der rabbinischen Erzählungen, die ausschließlich auf deren Ästhetik fokussiert: Rabbinische Erzählungen sollen als kurze und geschlossene Kunstwerke angesehen werden, nicht als Darstellungen von Institutionen oder Praktiken. Fraenkel vergleicht Midrasch mit Spiel: wie im Spiel handelt Midrasch von Welten, die parallel zur und ähnlich der realen Welt existieren, in denen aber eigene Regeln herrschen, die in der realen Welt nicht gelten. In Bezug auf die Funktion von Midrasch beobachtet Fraenkel, dass es weniger auf Exegese als auf die Vermittlung von theologischen oder ethischen Konzepten ankomme.

      Zwei Monografien haben sich eingehend mit einer Gattung, die in der Spannung zwischen Interpretation und Erzählung besteht, befasst: der exegetischen Erzählung. Ofra Meirs The Exegetical NarrativeThe Exegetical Narrative und Joshua Levinsons The Twice-Told TaleThe Twice-Told Tale. Letzterer bedient sich eines veritablen literatur- und kulturwissenschaftlichen theoretischen Arsenals, das Erzählforschung, klassische Narratologie, biblische Erzähltheorie, Strukturalismus, New Historicism und Marxismus, Reader Response-Theorien, die Studien zur Folklore und wichtige Arbeiten zu den biblischen Erzählungen umfasst. Die exegetische Erzählung ist nach Levinson durch die intensive Begegnung zwischen dem biblischen Text und der rabbinischen Kultur bestimmt und hilft sowohl die im Schrifttext eruierten Probleme als auch jene der aktuellen kulturellen Entwicklung in der rabbinischen |5|Welt zu lösen. Im Kern entspricht dies der von Foucault in der Ordnung des Diskurses formulierten These zum Thema Kommentar:

      Aber andererseits hat der Kommentar, welche Methoden er auch anwenden mag, nur die Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal sagen,