unendliche Gewimmel der Kommentare ist vom Traum einer maskierten Wiederholung durchdrungen: an einem Horizont steht vielleicht nur das, was an seinem Ausgangspunkt stand – das bloße Rezitieren. Der Kommentar bannt den Zufall des Diskurses, indem er ihm gewisse Zugeständnisse macht: er erlaubt zwar, etwas anderes als den Text selbst zu sagen, aber unter der Voraussetzung, daß der Text selbst gesagt und in gewisser Weise vollendet wurde. (S. 19–20)
Neu und alt werden verbunden. Der Kommentar gewinnt seine Bedeutung gerade durch seine Verbindung zum autoritativen Text. Nicht zufällig nannte Levinson sein Buch im Hebräischen ha-sippur sche-lo suppar, die „nicht erzählte Geschichte“, was an Foucaults „was eigentlich niemals gesagt worden ist“ erinnern soll. Levinsons Studien zeigen ein Doppeltes. Zum einen sind sie ein Plädoyer für eine Sicht auf rabbinische Texte im Kontext literaturwissenschaftlicher Theorien, um die komplexen Aspekte des Zusammenspiels von biblischem Text und rabbinischer Erzählung zu begreifen; zum anderen erwächst daraus kein Widerspruch zu einer Betrachtung der rabbinischen Erzählung als Ausdruck der konkreten Lebenswelt der Rabbinen, ihrer Probleme und historischen Bedingungen.
Als Gegenbewegung zum New Criticism entwickelten sich in der neueren Midrasch-Forschung Tendenzen, die dem New HistoricismNew Historicism verwandt sind. In diesem Zusammenhang werden Midrasch-Texte als Teil größerer soziokultureller Diskurse oder Praxissysteme erneut in einen historischen Kontext gesetzt, betrachtet und untersucht. Es lassen sich dabei thematische bzw. methodologische Schwerpunkte unterscheiden, wie einige ausgewählte Monografien oder Sammelbände illustrieren, auf die im Folgenden eingegangen wird. So bietet Jeffrey Rubenstein in seinen Talmudic StoriesTalmudic Stories nicht nur genaueste close readings von sechs talmudischen Erzählungen, sondern auch Überlegungen zur Kultur, die sie hervorbrachte. Eine dieser Erzählungen, bAvoda Zara 2a–3b, die er als homiletical story (in Ofra Meirs Terminologie „sippur darschani“) bezeichnet, ist eine literarische Form, die häufig in Midrasch-Kompilationen vorkommt.
Aus der volkskundlichen Erzählforschung stammen die Beiträge einiger Jerusalemer Wissenschaftler wie Dan Ben Amos, Eli Yassif, Dina Stein und Galit Hasan-Rokem. Letztere verwendet in Web of LifeWeb of |6|Life Kategorien der Erzählforschung für eine kulturwissenschaftlich und feministisch orientierte Lektüre von EkhR. In Tales of the NeighborhoodTales of the Neighborhood befasst sie sich mit rabbinischen Erzählungen, in denen kulturelle Nachbarschaft und literarische Nachbarinnen den Ausgangspunkt für Lektüren bilden, in denen es um die Konzeptualisierung von Alltag, Geschlecht, Grenzen, Identität, Körper u.a. geht.
Der feministische Zugang zu MidraschDer feministische Zugang zu Midrasch befasst sich mit der Darstellung und Konzeption der Frau im rabbinischen Korpus. Spezifische Themen dieser feministischen Lektüren umfassen so genannte „female-male plot structures“, Onomastik (vgl. Ilan, Silencing, Kap. 8), die frauenspezifische (inhärente) Alterität, den Diskurs über die Menstruation, den Körper der Frau (vgl. Fonrobert, Purity, S. 29–39), das Subversive, das Verhältnis der Frauen zur Macht, die Sexualität, die Familie, das Problem der Unfruchtbarkeit, die Genealogie u.a. Die Literatur zu diesen Fragen ist äußerst umfangreich. Es sei in diesem Rahmen nur auf eine Auswahl repräsentativer Publikationen hingewiesen. In Rereading the RabbisRereading the Rabbis geht Judith Hauptmann auf die wichtigsten Themen der rabbinischen Literatur ein, die Frauen als Protagonistinnen haben, u.a. den Sota-Prozess, den Ehevertrag/die Ketubba, die Regelungen in Bezug auf die Menstruation. Als Textgrundlage verwendet Hauptmann vor allem die Mischna und den babylonischen Talmud, vereinzelt aber auch halachische Midraschim. Judith Baskin fokussiert ihre Studie zur Konzeptualisierung der Frau in Midrashic WomenMidrashic Women auf haggadische Quellen aus Talmud und Midrasch.
Die Studien von Tal IlanTal Ilan zeigen, wie man u.a. aus rabbinischen Quellen historische Informationen zu einzelnen Frauenfiguren (wie der Frau von Rabbi Aqiva oder der Königin Schlomtzion/Salome Alexandra) und ihren geschichtlichen Kontexten sowie zu den Rollen der Frauen in der sozio-ökonomischen, politischen, intellektuellen und religiösen Geschichte des Zweiten Tempels und der rabbinischen Periode gewinnen kann, um eine Geschichte der Frauen zu schreiben. Was die verwerteten Midrasch-Quellen angeht, liegt Ilans Fokus auf halachischen Dokumenten, obwohl haggadische Quellen in Midraschim nicht ausgeschlossen werden. In Mine and Yours: Retrieving Women’s History from Rabbinic Literature (Kap. 4 und 5) handelt sie über die Kontexte, in denen Frauen in halachischen Midraschim konstruiert werden, sowie über die spezifische Sprache, die verwendet wird, um Rollen und Funktionen der Frauen auszudrücken. Interessant ist die Erkenntnis Ilans, dass Namen, die midraschisch ausgelegt werden, ein Hinweis dafür seien, dass die Namen erfunden sind. Kapitel 5 von Silencing the Queen zeigt die Verfahren, mit denen Frauen u.a. in halachischen |7|Midraschim zum Schweigen gebracht bzw. diskreditiert werden.
Naomi GraetzNaomi Graetz ist Autorin von zwei feministischen Monografien zu Midrasch-Quellen. Im Zentrum von Unlocking the Garden (vgl. in diesem Buch Kap. XIII.7) stehen Figuren als Metonymien für soziokulturelle Institutionen (Patriarchat, Ehe, Unfruchtbarkeit). Mit S/he created them: feminist retellings of Biblical stories liefert Graetz ein Beispiel von „zeitgenössischem Midrasch“, indem sie biblische Erzählungen mit einer weiblichen Stimme ergänzt und neu erzählt.
Die textuelle Konstruktion von Sexualität bildet einen weiteren Schwerpunkt der kulturpoetologischen Studien zu Midrasch und zur rabbinischen Literatur im Allgemeinen, wobei der Babylonische Talmud die erste Textgrundlage darstellt. Einige wichtige Beispiele umfassen zwei Werke von Daniel Boyarin – Carnal Israel: Reading Sex in Talmudic Culture und Unheroic Conduct: The Rise of Heterosexuality and the Invention of the Jewish Man – sowie Michael Satlows Tasting the Dish: Rabbinic Rhetorics of Sexuality, das vor allem tannaitische Midraschim und Talmudim behandelt. Gwyn Kessler veröffentlichte 2009 eine Monografie zur haggadischen Embryologie, in der sie Erzählungen über den Fötus in Midrasch-Kompilationen auswertet.
Aktuelle Studien sind nicht zuletzt komparatistisch ausgerichtetAktuelle Studien sind nicht zuletzt komparatistisch ausgerichtet, wobei rabbinische Auslegungspraktiken und -tendenzen im größeren Kontext (Judentum, Christentum und Islam) betrachtet und die Möglichkeit einer kulturellen Wechselwirkung analysiert werden (vgl. u.a. Visotzky, Midrash, Christian Exegesis and Hellenistic Hermeneutic und Stern, Ancient Jewish Interpretation of the Song of Songs in Comparative Context; Hirshman, Rivalry).
Jüngere Aufsätze, Monografien und Sammelbände wie die von Shaye Cohen (u.a. Beginnings, z.B. S. 293–298), Philip Alexander (Quid Athenis), Catherine Hezser (Rabbinic Law; Interfaces; Chrie), Lee I. Levine (Judaism and Hellenism), Pieter van der Horst (Hellenism), John Collins und Gregory Sterling (Hellenism) oder Carol Bakhos (Ancient Judaism) haben neuere Erkenntnisse in Bezug auf Hermeneutik und RechtHermeneutik und Recht in der rabbinischen Literatur im Rahmen der griechisch-römischen Welt erbracht.
Eine Reihe von Arbeiten von Daniel BoyarinDaniel Boyarin hat die Diskussion massiv angeregt, inwieweit rabbinische Literatur durch das aufkommende Christentum beeinflusst sei bzw. darauf reagiere. Dazu gehören Thesen wie die einer Grauzone zwischen jüdischen und christlichen Gruppen in den ersten Jahrhunderten (Jewish Gospels; Borderlines/Abgrenzungen), von der Beeinflussung jüdischer Martyriumsvorstellungen durch christliche Märtyrertexte (Dying for |8|God), von der schrittweisen Herausbildung einer jüdischen Orthodoxie als Reaktion auf die christliche etc. Für Boyarin findet eine entscheidende Auseinandersetzung zwischen Judentum und Christentum in der Behandlung des Themas der göttlichen Einheit oder Zweiheit (Binitarianismus; vgl. dazu auch die Arbeit von Segal, Two Powers) statt. Die Rabbinen reagierten auf die Logostheologie, die vor allem in den Targumim begegnende Rede von der Memra (personifiziertes Wort Gottes) und die Engelverehrung und damit auf die theologische Bedeutung von Jesus als Heilsbringer in göttlicher Position. Boyarins Thesen radikalisieren sich zusehends, wenn er viele Entwicklungen des rabbinischen Judentums fast ausschließlich als Antwort auf das Christentum betrachtet. Die jüdische Rede von der Minut (Apostasie) ist dann Ergebnis der christlichen Häresiedebatte, die Erzählungen von der Gründung Javnes als neues rabbinisches Zentrum nach der Tempelzerstörung entsprächen einer Reaktion auf die Beschreibung der mit dem Konzil von Nicäa verbundenen christlichen Selbstdefinition durch den Kirchenvater Athanasius. Neben Boyarin ist hier auch Seth SchwartzSeth Schwartz zu erwähnen, der ebenfalls von christlichem Einfluss auf die Entwicklung des rabbinischen Judentums