Gerhard Langer

Midrasch


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haggadischen Midraschim: Die „departmental analysis“ stellt einen Ansatz dar, bei dem mehrere Midraschim, die dasselbe biblische Buch auslegen, als Korpus untersucht werden: Die erhaltenen Texte werden nach formalen Kriterien in Kategorien unterteilt, beschrieben, die Sekundärliteratur referiert (vgl. Schäfers Editionen von Hechalot-Literatur und Reegs Midrasch von den zehn Märtyrern, Lerners Beitrag zu den Estermidraschim).

      2005 erschien die von Jacob Neusner und Alan Avery-Peck herausgegebene Encyclopedia of MidrashEncyclopedia of Midrash. Die zwei Bände umfassen 56 Artikel, die allgemeine Themen (mündliche Tora, Liturgie etc.), dem rabbinischen Midrasch vergleichbare Phänomene in der jüdischen und christlichen Literatur, die rabbinische Lektüre biblischer Bücher sowie die Theologie der klassischen Midraschim behandeln.

      2011 erschien in Israel eine Einführung in Midraschliteratur von Anat Reizel (Hebr.).

      |12|Ein Klassiker im deutsch- und englischsprachigen Raum ist Günter Stembergers Einleitung in Talmud und MidraschEinleitung in Talmud und Midrasch, die im dritten Teil eine konzise Darstellung der meisten Midraschim und die dazugehörige vermutlich ausführlichste Bibliographie enthält. Vom selben Autor erschien 1989 ein Buch zu Midrasch, das nach einer kurzen Einführung zahlreiche Textbeispiele anführt und kommentiert, die entweder repräsentativ für die drei klassischen Midrasch-Gattungen – d.h. die halachischen, exegetischen und homiletischen Midraschim – sind oder eine literarische Form wie die nacherzählte Bibel, wie sie in späteren Werken der rabbinischen Literatur verwendet wird, illustrieren. Die 2010 erschienenen zwei Sammelbände Judaica MinoraJudaica Minora enthalten einige Artikel Stembergers mit Bezügen zum Midrasch. Ebenfalls zahlreich sind die Beispiele in Jacob Neusners What is Midrash?What is Midrash? und A Midrash Reader.

      Ende 2013 brachten Michael Fishbane und Joanna Weinberg eine Sammlung wichtiger Beiträge zum Thema Midrasch unter dem Titel Midrash UnboundMidrash Unbound heraus. In vier Teilen, die von den Anfängen bis zum modernen Chabad-Chassidismus chronologisch fortschreiten, wird das Phänomen Midrasch in seiner Bandbreite im historischen Wandel ausführlich beleuchtet.

      5. Midraschdefinitionen jüngerer Zeit

      In der Forschung der letzten Jahrzehnte findet sich eine ganze Reihe von Interpretationen und DefinitionenInterpretationen und Definitionen von Midrasch, die nicht selten als Widerschein wissenschaftlicher Zeitströmungen zu lesen sind (vgl. den Überblick bei Bakhos, Matters; Grohmann, Aneignung, S. 107–129). In der Vielzahl der Definitionen ist zu bemerken, dass manche sich stärker auf die literarische Struktur, andere mehr auf die aktualisierende Funktion, nicht selten gepaart mit der Bedeutung für die religiös-kulturelle Entwicklung des Judentums konzentrieren. Im Folgenden seien einige Ansätze kurz beschrieben. Gewisse Übereinstimmung herrscht in der Funktion des Midrasch für die Gemeinde und die GottesbeziehungFunktion des Midrasch für die Gemeinde und die Gottesbeziehung. Diese wurde bereits von Renée Bloch (Midrash) oder Roger Le Déaut (A-propos) betont. Auch Addison Wright (Literary Genre) hob die Bedeutung von Midrasch als religiöse Schrift hervor. Großen Einfluss übte Isaak HeinemannIsaak Heinemann (Darche ha-Aggada) mit seiner maßgeblich betonten Funktion der Haggada als „schöpferische Geschichtsschreibung“ und „schöpferische Philologie“ aus. Daran orientiert formuliert Ithamar GruenwaldIthamar Gruenwald, dass Midrasch den Versuch darstelle, „Schrift als die normative Konstante des Judentums zu behaupten“ (Midrash, S. 6), über Brüche und Krisen hinweg |13|und als intellektuelle Herausforderung, die Mut und religiöse Sensibilität verlangt. In seinem Bemühen, die „mentale Haltung oder Disposition“ zu beschreiben, die er mit dem Stichwort „midrashic condition“ verbindet, greift er auf Heinemanns Konzept zurück und spricht davon, dass nicht der bloße Akt des Verstehens zähle, sondern die Schaffung von Bedeutung, die mit den Bibelversen verbunden sei. Gruenwald gesteht den Midraschautoren großen Spielraum in der Macht über den Text zu, die jedoch durch die Tradition beschränkt sei, die auf die göttliche Inspiration der Schrift und grundlegende moralische Haltungen sowie die Bedeutung des Kultes Wert lege.

      Uneinigkeit herrscht darüber, ob Midrasch eher Ein literarisches Genre oder eine Methode des Textzugangesein literarisches Genre oder eine Methode des Textzuganges ist. Addison WrightAddison Wrights Definition geht von einem literarischen Genre aus, das aktualisierende Bedeutung hat. Schrifttext und Kommentar müssen dabei getrennt sein:

      Als Name einer literarischen Gattung bezeichnet das Wort Midrasch eine Komposition, die einen Schrifttext der Vergangenheit verstehbar, gebrauchsfähig und relevant für die religiösen Bedürfnisse einer späteren Generation zu machen sucht. Es ist so eine Literatur über eine Literatur […]. Ein Midrasch ist immer explizit oder implizit in den Kontext des biblischen Texts gestellt, den er kommentiert. (Literary Genre, S. 143)

      Midrasch ist demnach Auslegung von Schrift um der Schrift willen. Das Genre Midrasch beschränkt sich nach Wright aber nicht nur auf jüdische Texte, sondern kann beispielsweise auch auf pagane ägyptische Prophetentexte mit ähnlicher Struktur angewendet werden. Auch christliche Rezeption der hebräischen Bibel lässt er als Midrasch gelten. Andere Schriften, die Text und Kommentar aus seiner Sicht zu wenig trennen, schließt er jedoch vom Genre Midrasch aus.

      Lieve TeugelsLieve Teugels diskutiert in ihrem Buch Bible and Midrash: The Story of „The Wooing of Rebekah“ (Gen. 24) (vgl. auch ihren Beitrag Midrash in the Bible) Ansätze von Addison Wright, Robert Le Déaut, Daniel Boyarin, Michael Fishbane, Jacob Neusner und Gary Porton und stützt sich auf die formanalytische Definition Arnold GoldbergArnold Goldbergs, die sie übernimmt und erweitert. Goldberg hatte in mehreren Aufsätzen unterstrichen, dass der Begriff Midrasch ausschließlich für die rabbinische Literatur zu verwenden sei und von seiner Form bestimmt werden müsse. Demnach ist Midrasch immer Erläuterung des zitierten Bibeltextes, des Lemmas (Lemma der Offenbarungsschrift). Der Midraschsatz besteht aus Lemma, der Operation und dem Ergebnis (Dictum), schematisch „L“ „on“ → „D“ oder „D“ ← „on“ „L“. Im Midraschschriften vorkommende Formen wie Maschal oder Maʿase (dazu mehr unter VI) |14|sind kein Midrasch, wohl aber tritt Midrasch in Mischna oder den Talmudim auf.

      Teugels diskutiert auch die kritischen Ergänzungen Goldbergs durch Philip Alexanders Hinweis auf die „Methoden“ (Midrash and the Gospels) und sieht neben den formalen Kriterien für Midrasch ein Alleinstellungsmerkmal in der Mündlichkeit der Überlieferung und der Annahme der göttlichen Offenbarung. Midrasch ist ihrer Definition nach beschränkt auf „rabbinische Interpretation von Schrift, welche die lemmatische Form trägt“„rabbinische Interpretation von Schrift, welche die lemmatische Form trägt“ (Bible and Midrash, S. 168).

      Und weiter:

      Nach der Diskussion über die Natur des rabbinischen Midrasch möchte ich die Verwendung des Begriffes „Midrasch“ für jegliche Literatur außerhalb des rabbinischen Korpus zu verhindern suchen. Mein Hauptgrund besteht darin, dass es besser ist, gleichwertige aber unterschiedliche Dinge zu vergleichen, als sie alle auf einen Haufen zu werfen und damit zu enden, dass man nichts mehr zum Vergleichen hat. Wenn wir Bibelauslegung innerhalb der Schrift (innerbiblische Exegese), die Auslegung des Alten Testaments im Neuen Testament, die Bibelauslegung in Qumran, in der Literatur des Zweiten Tempels, bei Philo etc., all diese unterschiedlichen Arten von Bibelauslegung getrennt betrachten, haben wir etwas zu vergleichen. Wenn wir alle diese Formen der Bibelauslegung „Midrasch“ nennen, machen wir die Dinge unklar. (Bible and Midrash, S. 169)

      Dieses pragmatische Argument hat einiges für sich und wurde z.B. 2006 vom „international research project for the study of the Rewritten Bible“ übernommen. Erkki Koskenniemi und Pekka Lindqvist halten im ersten Band der akademischen Reihe Studies in Rewritten BibleStudies in Rewritten Bible fest,

      dass das Wort Midrasch für frühe jüdische Exegese verwendet oder besser auf rabbinische Exegese beschränkt werden soll, dabei z.B. der kompakten Definition von Lieve Teugels folgend. (S. 18)

      Die Goldbergschülerin Rivka UlmerRivka Ulmer hat 2006 in einem Beitrag mit dem Titel The Boundaries of the Rabbinic Genre Midrash ebenfalls jegliche Verwendung des Begriffes Midrasch außerhalb des rabbinischen Kontextes abgelehnt. Midraschim seien „nachbiblisch und auf den biblischen Text […] bezogen, bedienen sich