Gerhard Langer

Midrasch


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Babyloniens bis 11. Jh.

      Midrasch basiert auf dem rabbinischen Verständnis von Schrift und Tora. Wie ist dies zu verstehen?

      Dreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am SinaiDreh- und Angelpunkt ist die Gabe der Tora am Sinai. In SifDev § 313 zu Dtn 32,10 heißt es über die Offenbarung:

      „Er gab ihm Einsicht (jevonenehu)“ – durch den Dekalog. Das lehrt: Als das Wort aus dem Mund des Heiligen, gepriesen sei er, kam, sahen es die Israeliten und verstanden es und wussten, wieviel Midrasch in ihm ist, wieviel Halacha, wieviele Schlüsse vom Leichteren auf das Schwerere und wieviele Analogieschlüsse.

      Die Einsicht (bina), von der im Bibeltext die Rede ist, verweist nach rabbinischer Ansicht bereits auf die die darin enthaltene Auslegung. Der Text ist Träger von Bedeutung, die entschlüsselt, erarbeitet werden muss. Der Dekalog fungiert als paradigmatischer Text, der Sinai als paradigmatischer MomentSinai als paradigmatischer Moment in Bezug auf Midrasch. „Paradoxerweise entfaltet sich das göttliche Wort durch menschliche Rede. Als exegetischer Akt und Vorgang ist diese menschliche Rede Midrasch“ (Fishbane, Midrash, S. 14). Fishbane verwendet in diesem Zusammenhang die von de Saussure stammende Unterscheidung von langue und parole, um die Bedeutung des aktualisierenden Sprechakts (parole) des Midrasch für die kanonisierte langue der Tora zu verdeutlichen.

      Die Rabbinen sehen die Tora als ein komplexes Bezugssystem an. Günter Stemberger formulierte es einmal so:

      Rabbinische Tradition hat durch die Jahrhunderte an der These festgehalten, dass die am Sinai geoffenbarte Tora auch schon die spätere Auslegung mitenthält, das traditionelle Verständnis also schon mit dem Bibeltext mitgegeben |22|ist und an dessen Autorität teilhat, eine Auffassung, die gerade innerhalb orthodoxer Kreise des Judentums Auslegungsunterschiede oft zu Grundsatzfragen werden läßt. Jedenfalls ist damit grundgelegt, daß die auf den Buchstaben genau abgegrenzte Tora vom Sinai unendliche Bedeutungsfülle hat, die Tora unendlich erneuerungsfähig ist und ihr doch nie Neues hinzugefügt werden kann. Der liturgische Dichter Jannai (6. Jh.) hat es in einer Qerova zu Ex 34,27 prägnant formuliert: „Nichts in ihr wird erneuert – und wenn erneuert wurde, so ist es gar nichts Neues“. Oder in der Wendung des Ben Bag Bag: „Drehe und wende sie; denn alles ist in ihr“ (mAv 5,21). (Verständnis der Tora, S. 4)

      Die Bibel kann gedreht und gewendet werden, alles ist in ihr. Sie ist ein Bezugssystem, in dem alle Bereiche miteinander in Beziehung stehen und daher auch für die Auslegung verwendet werden können. Hierzu ist das Stichwort der Intertextualität wichtig, das noch oft begegnen wird.

      Der Bibeltext ist in hebräischer SpracheSprache überliefert. Sie ist die Sprache der Schöpfung und der Offenbarung. Auslegung kann sich daher nicht nur auf Inhalte beziehen, sondern nicht zuletzt auf die sprachliche Äußerung und Form. Worte und Sätze können als Buchstabenkombinationen verstanden werden, die neu arrangiert wiederum eine Fülle von Auslegungen in sich bergen.

      Auch wenn die Völker der Welt (vor allem die Christen) über den Bibeltext Zugang zur Offenbarung gewonnen haben, bleibt nach rabbinischer Ansicht die Besonderheit Israels in der Spezialoffenbarung der so genannten mündlichen Tora. Unter dem Kapitel Hermeneutik wird ausführlicher über das Offenbarungsverständnis und die hermeneutischen Grundsätze der Rabbinen gehandelt. Es mag hier genügen, den Referenzrahmen kurz aufgezeigt zu haben. Er besteht in der Gruppe der Rabbinen, einem autoritativen Bibeltext und einem Verständnis von Offenbarung, das es ermöglicht, alle Teile dieser Bibel miteinander in Beziehung zu setzen und auszulegen. Die Notwendigkeit der Auslegung, aber auch ihre in den Tiefenschichten des Textes verborgene Bedeutung, ist Bestandteil der Offenbarung.

      Midrasch ermöglicht die dauerhafte Gültigkeit der Offenbarung, „ist primär religiöse Betätigung, ewiger Dialog Israels mit seinem Gott“ (Stemberger, Midrasch, S. 26).

      3. Eine kurze Begriffsgeschichte von darasch/Midrasch

      Der mit dem Stichwort Daraschdarasch verbundene Dialog mit Gott beginnt bereits in der Bibel. Wie Gerleman/Ruprecht (drš) zeigen, macht die Bedeutung des Begriffes darasch schon hier eine Entwicklung durch. In profaner Verwendung meint er zumeist ein sich |23|Erkundigen nach der Beschaffenheit einer Sache, aber auch das Streben und Trachten (vgl. z.B. Jes 1,17; 16,5; Am 5,14; Est 10,3) und sich um etwas Kümmern (vgl. Jer 30,14; Ps 142,5; Spr 31,13; 1 Chr 13,3). In der wesentlich häufigeren Verwendung im religiösen Kontext bedeutet darasch ein Fordern von Blut (z.B. Gen 9,5), eines Gelübdes (Dtn 23,22), Opfers (Ez 20,40) u.ä., vor allem aber die Befragung GottesBefragung Gottes durch einen Gottesmann, Seher, Propheten (u.a. in 1 Sam 9,9; 1 Kön 14,5; 22,7; 2 Kön 22,13). Auch fremde Götter oder Totengeister werden befragt (Dtn 18,11; Jes 8,19; 19,3; 2 Kön 1,2). Gerleman/Ruprecht konstatieren eine Veränderung der Bedeutung in der Exilszeit zu einem „Habitus des Frommen“ (Sp. 464). Dieser entsteht aus der Entwicklung von der aufgrund einer Notlage notwendigen Befragung, der Klage des Einzelnen (vgl. u.a. Ps 22,27; 34,5; 69,33; 77,3) und des Volkes (vgl. Jes 58,2) hin zu einem Habitus des sich an Gott Haltens. „Dieser Übergang ist vollzogen in der deuteronomistischen Theologie, wo Umkehr und neues Halten der Gebote auf Seiten des Menschen Voraussetzung wurde für Gottes Hören der Klage (vgl. z.B. 1 Sam 7,3–4; ferner Dtn 4,29; Jes 55,6f.; 58; Jer 29,13; 2 Chr 15,2 und 4)“ (Sp. 465–466). Diese Haltung steht in einem Gegensatz zum Götzendienst (Jes 65,1.10; Jer 8,2; Zef 1,6 u.a.). darasch wird geradezu zum Synonym für „die Gebote halten“ oder „den Willen Gottes erfüllen“ (1 Chr 22,19; 2 Chr 14,6; 31,21; Ps 14,2; 119,2.10). „An einigen späten Stellen können sogar die Gebote Objekt von drš sein (Ps 119,45.155; 1 Chr 28,8), in der späten Glosse Jes 34,16 sogar »die Schrift«“ (Sp. 466). Im letztgenannten Text geht es aber offensichtlich um mehr als nur ein Befolgen der Schrift, sie muss befragt werden, womit wieder der Aspekt der Gottesbefragung auftritt, der am Anfang der Bedeutungsgeschichte von darasch stand. Die Schrift ist Gegenstand der göttlichen Offenbarung. Die Befragung, ursprünglich vermittelt durch einen Propheten und direkt an Gott gerichtet, geschieht hier mittels der Lektüre und Analyse der Schrift. Dies ist noch kein Midrasch im späteren rabbinischen Sinn, wohl aber ein Schritt dorthin.

      In biblischer Zeit und während der Epoche des Zweiten Tempels tritt der Begriff darasch nicht in einem hermeneutischen Sinn, also als Auslegung von Schrift auf (vgl. dazu Mandel, Legal Midrash). Vielmehr ist es vor allem der Aspekt der Lehre, der im Vordergrund steht. Unter darasch ist zumeist eine (oft öffentliche) Instruktion von RechtInstruktion von Recht gemeint. In diesem Zusammenhang ist an die Institution des Schreibers, des Sofer, zu erinnern, die mit dem akkadischen tapschurru bzw. aramäischen safar in Verbindung gebracht werden kann, was Personen bezeichnet, die sich mit göttlichen Omina beschäftigten oder auch als Übersetzer/Vermittler tätig waren. In diesem Sinne ist |24|auch der jüdische Sofer als Übersetzer und Vermittler der göttlichen Botschaft zu deuten. In Einklang mit dieser Erkenntnis muss man Esr 7,10 wohl so übersetzen: „Denn Esra war von ganzem Herzen darauf aus, die Tora JHWHs zu vermitteln (li-drosch) und danach zu handeln und sie als Satzung und Recht in Israel zu lehren“. Bei Tora ist dabei eher von einem vorausgehenden autoritativen Text auszugehen als nur von mündlicher Übereinkunft. Die Vermittlung ist natürlich gleichzeitig eine Interpretation, eine Über-Setzung.

      Zweimal verwenden die ChronikbücherChronikbücher den Ausdruck Midrasch. In 2 Chr 13,22 ist davon die Rede, dass die „übrige Geschichte Abijas, sein Leben und seine Reden im Midrasch des Propheten Iddo aufgezeichnet sind“. 2 Chr 24,27 heißt es über König Joasch: „Weitere Nachrichten über seine Söhne, über die vielen Prophetensprüche gegen ihn und über die Wiederherstellung des Hauses Gottes sind aufgezeichnet im Midrasch zum Buch der Könige. Sein Sohn Amazja wurde König an seiner Stelle.“ Beide Male wird ein schriftliches Dokument als eine Sammlung von prophetischen Beschreibungen der jeweiligen Zeitepoche suggeriert, das mit großer Wahrscheinlichkeit von den Chronisten erfunden wurde, um ihre eigene „Wiedergabe“ der Geschichte als aus prophetischem Munde kommend zu etablieren.

      Im umfangreichen Textkorpus aus QumranTextkorpus aus Qumran tritt darasch in vielen Belegen auf, die hier nicht alle wiedergegeben werden können (vgl. dazu Maier, daraš,