innerbiblische Auslegung, Rewritten |34|Bible, aber auch künstlerische Zeugnisse wie Synagogenmosaike, Nachdichtungen etc. einschließt (vgl. beispielhaft Englard, Mosaics as Midrash). So wird Midrasch mitunter gleichbedeutend mit aktualisierender Auslegung und kreativer Weiterentwicklung verstanden. Der Religionspsychologe Mordechai Rotenberg (The Trance of Terror) etwa hat 2006 Midrasch in einem Prinzip des „See it and renew it“ verortet und dem miqdash gegenübergestellt, also einem von Ritualen und Zeremonien durchsetzten Bedürfnis des Menschen („See this and sanctify it“). Rotenberg sieht das Midraschprinzip als Grundlage einer demokratischen Gesellschaft, die ohne es zugrunde gehen würde.
Von einer beliebigen Verwendung von Midrasch ist abzuraten. Ein offeneres Verständnis von Midrasch könnte allerdings dadurch entstehen, dass man die Trägergruppe nicht auf die Rabbinen beschränkt, und indem man stärker die formalen Elemente oder die hermeneutischen Grundlagen/Vorgehensweisen in den Mittelpunkt stellt.
Eine solche weitere Definition von Midrasch ließe sich so illustrieren:
Bibeltext | ⇒ | hermeneutisches System (Schriftverständnis, Auslegungstechniken) | +/oder | formale Struktur | = | Midrasch |
Eine Möglichkeit wäre, dieses offenere System zur Unterscheidung vom eigentlichen rabbinischen Midrasch als midraschisch zu bezeichnen.
In diesem Sinne findet man bereits in der Bibel eine Reihe von hermeneutischen Vorgängen, die für das Genre Midrasch typisch sind und midraschisch genannt werden können.
5. Midrasch in/aus Palästina
Midrasch hat seine örtliche Heimat vor allem im antiken Palästina. In BabylonienBabylonien wurde ebenfalls auf dem Gebiet des Midrasch gearbeitet und palästinisches Material verarbeitet, es entstand aber keine eigene Kategorie Midrasch. Vielmehr wurden Midrasch enthaltende Materialien in den babylonischen Talmud integriert. Halachische Entscheidungen werden auch im Bavli häufig mit diesem Material untermauert, vor allem, wenn Bibelstellen die in der Mischna ohne Bibelbezug gebotenen Entscheidungen festigen sollen.
|35|Haggadische Schriftauslegung taucht in vielfältiger Form auf, mitunter in kürzeren Abschnitten, nicht selten aber auch in der Form von umfassenderen und zusammenhängenden Auslegungen. Hier liegen den Redaktoren mit großer Wahrscheinlichkeit eigenständige Quellen (mündlich und schriftlich) vor. Neben Übernahmen (mit späteren Überarbeitungen) aus palästinischen Quellen sind vor allem die babylonischen „Eigenproduktionen“ von Interesse. Eine solche größere Einheit, die Dagmar Börner-Klein (babylonische Auslegung) und Eliezer Segal (Esther Midrash) intensiv untersucht haben, ist die Auslegung der Ester-Geschichte in bMegilla 10b-17a, eine andere der von Stemberger analysierte Abschnitt in bSota 9b-14a (vgl. dazu auch Langer, Ester-Midrasch; Diaspora; Drama). Ähnliches gilt auch für andere Texte wie bSchabbat 86b-89a, einen Midrasch zur Gabe der Tora oder für den apokalyptischen Abschnitt ab bSanhedrin 97a.
Eine eigene Midraschsammlung, die sehr wahrscheinlich im 9. Jh. in Babylonien entstand und damit eine große Ausnahme bleibt, ist Pitron Tora, eine Sammlung von Auslegungen zu Lev-Dtn. Sie ist auch deshalb von Interesse, weil sie Interpretationen von Benjamin al-Nahawandi, einem Karäer, zitiert.
Auch die so genannten Scheiltot, eine in gaonäischer Zeit entstehende Gattung im Frage- und-Antwortstil, enthalten viel midraschisches Material. Midrasch ist also keineswegs unbekannt und Teil der babylonischen Traditionsliteratur. Die Frage, warum es praktisch keine eigene Midraschliteratur zu größeren Einheiten oder zu gesamten biblischen Büchern zu geben scheint, ist schwer zu beantworten. Man könnte es rein als redaktionelle Entscheidung betrachten, möglicherweise darin begründet, dass man zu wenig größere Midraschkomplexe – über die eben genannten hinaus – hatte, die man selbständig hätte „publizieren“ können. Liegt dies an der anderen Struktur der rabbinischen Studien in Babylonien? Oder an der stärkeren Betonung der schon viel entwickelteren Halacha? Wieweit kennt man schon die palästinischen Midraschim und findet, dass man wenig darüber hinaus braucht? Hier steht zweifellos noch Forschung aus.
Der palästinische TalmudDer palästinische Talmud wiederum weist viele Parallelen mit den eigenständigen Midraschwerken auf. So hat Ezra Zion Melammed (Halachic Midrashim) rund 1300 Zitate allein aus den halachischen Midraschim im Jeruschalmi nachgewiesen. Die relative Mehrheit der Zitate bezieht sich mit rund 450 auf das Buch Levitikus. Auch wenn manche dieser Texte nur sehr kurz sind und daher mitunter schwer zu entscheiden ist, ob es sich um wirkliche Zitate handelt, kann man doch auch für bestimmte Werke eine schriftliche Vorlage annehmen, wie dies etwa Stemberger für Sifra (Sifra – Tosefta – |36|Yerushalmi) nachzuweisen versucht. Er untersucht ausführlich die 36 Parallelen zwischen Sifra und jJoma und kommt zum Schluss, dass den Redaktoren des Jeruschalmi eine schriftliche Version des Midrasch Sifra zur Verfügung stand, die sie wörtlich zitierten oder frei zusammenfassten (Sifra-Tosefta-Yerushalmi, S. 566).
Darüber hinaus werden mehr als 1100 mehrheitlich haggadische und meist kurze Midraschim im Namen amoräischer Rabbinen zitiert. Hans-Jürgen Becker (Relationship; Sammelwerke) hat ausführlich die Querbezüge zwischen BerR und dem Jeruschalmi untersucht, Moscovitz (Relationship) Bezüge zwischen WaR und Jeruschalmi, Lerner (Ruth) solche zwischen RutR und Jeruschalmi. In jedem Fall ist hier immer mit einer längeren und komplizierteren Entwicklungsgeschichte zu rechnen als mit einfachem „Abschreiben“ in die eine oder andere Richtung.
6. Zusammenfassung
Der Begriff darasch entwickelt und verändert sich im Laufe der Zeit bereits innerhalb der Bibel von einem Befragen Gottes durch einen Propheten, Seher etc. zu einer Haltung eines Frommen hin zu einem Instruieren, Erläutern und Vermitteln von Tora und wandelt sich vor allem in rabbinischer Zeit zu einer hermeneutischen Durchdringung und Auslegung von Schrift. Sitz im Leben des Midrasch ist dann vor allem das Lehrhaus. Midrasch stellt einen eigenständigen Lehr- und Lernstoff dar. Erst im Mittelalter wird der Kontext der Predigt bedeutend (derascha).
Wie im Forschungsbericht erwähnt, betonen neuere Definitionen den „schöpferischen“ Charakter von Midrasch (Heinemann), die mit ihm verbundene Aktualisierung von Schrift, definieren ihn als eine Hermeneutik (Boyarin), bei der die Begegnung des (rabbinischen) Lesers mit einem für ihn normativen Text im Mittelpunkt stehe; als interpretatives Verfahren (Kugel), als an klare Formen gebundene rabbinische Interpretation von Schrift (Goldberg, Teugels, Ulmer). Gary Porton bietet eine der am häufigsten zitierten Definitionen von Midrasch, die eine gute Basis für eine tragfähige Beschreibung darstellt.
Vor allem aus Joshua Levinsons Studien lässt sich erheben, dass es keinen Widerspruch zwischen einer historisch-kontextuellen und einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung von Midrasch geben muss. Texte sind nicht einfach Ergebnis eines soziokulturellen Kontextes, sie wirken auch auf diesen ein und verändern ihn.
Neben strengen und ausschließlich auf die rabbinische Literatur beschränkten Begriffsbestimmungen von Midrasch finden sich auch |37|Meinungen, die Midrasch offener definieren. Mit Timothy Lim (Origins), der einen ausführlichen Überblick über Midraschdefinitionen bringt, ist vor einer Inflation des Begriffes Midrasch zu warnen:
Erwähnt man „Midrasch“ heute, kommt einem sofort ein ganzes Arsenal an Einsprüchen in den Sinn. Er ist überverwendet worden in einer Weise, dass er inzwischen wenig mehr bedeutet als ein sexy Synonym für Exegese. (Origins, S. 611)
In jedem Fall verbietet sich eine zu allgemeine Definition z.B. als aktualisierende Bibelauslegung. Midrasch ist aus einem hermeneutischen Bezugsrahmen erwachsen. Dazu gehört das besondere Verständnis der Schrift als über die Zeit hin gültige „Textwelt“, Zeugnis göttlicher Offenbarung und damit Mittel zur Kommunikation mit Gott.
Im Midrasch wird die Bibel als bleibende Grundlage der GottesbeziehungBibel als bleibende Grundlage der Gottesbeziehung, der Erkenntnis, der Weltsicht, erfahrbar gemacht, werden Lücken geschlossen, Fragen geklärt, wird ein Dialog eröffnet. Diese Kommunikation muss offen bleiben und stellt sich nicht der Frage nach der „einen“, „wahren“