Buchstaben können fatale Folgen haben. Hierzu ein Beispiel aus WaR 19.2//ShirR 5.11.2:
Es steht geschrieben: „Höre Israel, JHWH, unser Gott, ist ein JHWH“. Wenn du das Dalet (von echad = einer) zu einem Resch machst (zu acher = ein anderer), zerstörst du die ganze Welt.
„Du sollst dich nicht niederwerfen vor einem anderen (acher) Gott“ (Ex 34,4). Wenn du das Resch zu einem Dalet machst (zu echad), zerstörst du die Welt.
Es steht geschrieben: „Du sollst meinen heiligen Namen nicht entweihen (jechallelu)“ (Lev 22,2). Wenn du das Chet zu einem He machst (zu jehallelu = preist), zerstörst du die Welt.
„Jedes Leben preist (tehallel) JH“ (Ps 150,6). Wenn du das He zu einem Chet machst (zu techallel = entweihst), zerstörst du die Welt.
Es steht geschrieben: „Sie verleugnen gegenüber (kichaschu ba-) JHWH“ (Jer 5,12). Wenn du das Bet zu einem Kaph machst (= kichaschu ka-JHWH = sie verleugnen wie JHWH), zerstörst du die Welt.
Es steht geschrieben: „Sie haben gegenüber JHWH die Treue gebrochen (ba-JHWH baggadu), sie haben Bastarde geboren“ (Hos 5,7). Wenn du das Bet zu einem Kaph machst (= ka-JHWH baggadu = wie JHWH haben sie die Treue gebrochen), zerstörst du die Welt.
Die Warnung vor der „Verwandlung“ des Dalet (ד) in ein Resch (ר) geht auf die Ähnlichkeit der beiden Buchstaben zurück. Im erstgenannten Fall würde aus dem echad (einer) ein acher (anderer). Weil man ja nur die Konsonanten schreibt, kann man aleph – chet – dalet leicht mit aleph – chet – resch verwechseln. Unsachgemäßer Umgang beim Schreiben oder gar absichtliche Falschschreibung hätten fatale Folgen. Das gleiche gilt auch für die Buchstaben Chet (ח) und He (ה), Kaph (כ) und Bet (ב). Aus einem Preisen würde ein Entweihen, aus einem bösartigen Handeln gegen Gott würde ein schlimmes Handeln Gottes. Änderungen in der Schrift, wie die von der paläohebräischen zur Quadratschrift, werden in rabbinischen Belegen durchaus als von Gott gewollte Entwicklungen dargestellt, die als Reaktion auf Israels Verhalten gelten (tSanhedrin 4.7).
Der scheinbar nach vielen Seiten für die Auslegung offene Text, dessen bloßer Konsonantenbestand ohne Verseinteilung viele Verbindungsmöglichkeiten bietet, wurde nach BerR 36.8 bereits seit Esra (Neh 8,8) festgelegt, und nach bNedarim 37b sind auch „jene Wörter, die man liest, aber nicht schreibt oder schreibt, aber nicht liest, bereits Halacha an Moses vom Sinai“. Bereits Arnold Goldberg hat in seinem Aufsatz Die Schrift der rabbinischen Schriftausleger betont, dass die Schrift
|46|eine genau definierte Menge graphischer Zeichen (ist). Das Artefakt ‚Schrift‘ ist präzise festgelegt und kann keiner Veränderung unterliegen. Dieser bestimmten, endlichen Menge graphischer Zeichen entspricht eine noch offene Menge sprachlicher Zeichen. Die Menge der sprachlichen Zeichen nimmt in der Auslegung zu, weil immer mehr entdeckt wird, was alles sprachliches Zeichen ist. (Goldberg, Die Schrift, S. 14)
Doch nicht jegliche Bestimmung, die von den Rabbinen erlassen wurde, wird gleichzeitig als biblisch verankert betrachtet. Nicht selten wird zwischen einer rabbinischen Anordnung und der biblischen Halacha unterschieden (z.B. bKetubbot 28b in Bezug auf das Zeugnis eines Kindes).
Der biblische Text will jedenfalls in seinen Tiefendimensionen verstanden werden, seine sprachlichen Zeichen müssen identifiziert und gedeutet, seine Widersprüche geklärt, seine Doppelungen aufgelöst, seine vielen Textmarker von der kleinsten bis zur größten Einheit in Auslegung erläutert werden (vgl. dazu Stemberger, Grundzüge rabbinischer Hermeneutik). Der häufig zitierte Talmudabschnitt bSchabbat 88b spricht von den siebzig Zungen, in die sich jedes Wort aus dem Mund Gottes teilte. Dies stützt sich auf Bibelverse wie Ps 62,12 oder Jer 23,29. Der dort genannte Fels wird in viele Splitter zerhauen.
Die Mehrdeutigkeit der SchriftMehrdeutigkeit der Schrift ist Gegenstand einer über Jahrhunderte weiterentwickelten Hermeneutik, deren Grundlage nicht nur die Vollkommenheit der Schrift als göttliche Mitteilung, sondern vor allem ihre Dauerhafte Gültigkeitdauerhafte Gültigkeit ist.
Der religiöse Charakter der Schrift richtet sich gegen jegliche verächtliche Betrachtung des Textes und gegen die Behauptung, die Schrift habe keine tiefere Bedeutung. Ein Beispiel ist das Auflösen der Namenslisten in den Chronikbüchern an verschiedenen Stellen der rabbinischen Literatur.
Traditionell wird ein unterschiedlicher Zugang zur Schrift auch mit den Namen der Schulen R. Jischmaels und R. Aqivas verbunden. Diese werden uns noch in Bezug auf die halachischen Midraschim begegnen. R. Jischmael habe den Grundsatz vertreten, dass die Tora in der Sprache der Menschen rede (SifBem § 112). Dies bedeutet jedoch keine historisch-kritische Exegese im modernen Sinn. Denn auch für die Schule Jischmaels bleibt die Tora Wort Gottes vom Sinai. Moses schreibt nach Gottes Diktat. Aber Gott passt sich darin menschlicher Ausdrucksweise an. R. Aqivas Schule sieht die Schrift in ihrer aufzudeckenden Tiefendimension, in der jedes Detail Auslegung nach sich zieht. Hier nur ein Beispiel:
R. Jischmael fragte R. Aqiva: Da du Nachum aus Gamzu 22 Jahre lang als Schüler gedient hast (hast du gelernt, dass die hebräischen Partikel) ach und raq („nur“) dazu dienen, einzuschränken, während et (Akkusativpartikel) |47|und gam („auch“) dazu dienen, auszuweiten/einzuschließen. Was bedeutet dann et hier (in Gen 1,1: „Im Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“ = be-reschit bara elohim et ha-schamajim we-et ha-aretz)?
Er (Aqiva) sagte zu ihm: (?)
(Jischmael): Wenn die Bibel gesagt hätte: es schuf(en) im Anfang Elohim (pl.), (nämlich) Himmel und Erde, könnten wir sagen, dass auch Himmel und Erde Gottheiten sind.
Er (Aqiva) sagte: „Das ist kein leeres Wort, das ohne Bedeutung für euch wäre (ki lo davar req hu mikkem)“ (Dtn 32,47). Und wenn es leer ist, dann liegt es an euch (mikkem), weil ihr nicht wisst, wie ihr es auslegen (li-drosch) sollt;
„et ha-schamajim (den Himmel)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Sonne, Mond, Sterne und Gestirne; „we-et ha-aretz (und die Erde)“ (steht) um einzuschließen (le-rabbot) Bäume, Gräser und den Garten Eden. (BerR 1.14)
Dieser öfter emendierte, nicht ganz eindeutige Text (mit Visotzky, Jots, S. 259–260, der sich wiederum an einen Vorschlag von Graetz hält, muss man wohl die erste Antwort als Rede Jischmaels verstehen) ist letztlich in seiner Aussage klar. Während Jischmael et als Akkusativpartikel für notwendig erachtet, um – nicht zuletzt angeregt durch die Pluralform elohim – nicht in den Irrtum zu verfallen, Himmel und Erde seien Subjekt und nicht Objekt der Aussage und daher auch Götter, nützt Aqiva dieselbe Partikel als hermeneutischen Anker. Wenn ein gam oder et steht, ist es ein Indiz dafür, dass die Bibel etwas einschließen will, was nicht direkt im Text steht. Aqiva wendet hier ein Verfahren an, das als Ribbui (Einschließung) bzw. Miut (Ausschließung) bekannt ist (vgl. IV.5).
Stemberger (Grundzüge rabbinischer Hermeneutik. In: JM I, S. 115–116) erwähnt neben Ribbui und Miut beispielhaft den Analogieschluss sowie Gematria und NotarikonNotarikon. Die Methode des Notarikon (ein Wort, das sich vom Schnellschreiber, dem Notarius, ableitet) versteht Buchstaben eines Wortes als Anfangsbuchstaben neuer Wörter oder zerlegt die Worte in ihre Silben, die wiederum als Worte verstanden werden.
So wird etwa in BerR 7.1 zu Gen 1,20 („Das Wasser wimmle von [lebenden] Wesen“ = jischretzu hammajim scheretz [nefesch]) durch Buchstabenumstellung „Er schuf eine Form im Wasser“ (tzar tzura bammajim) gelesen.
Die GematriaGematria versteht Buchstaben als Zahlen, da jeder hebräische Buchstabe einem Zahlenwert entspricht (aleph = 1; jod = 10; taw = 400). So wird bis heute gern – vor allem im Zusammenhang mit dem Fest Schawuot – darauf verwiesen, dass der Zahlenwert des Namens Rut (resch = 200; waw = 6; taw = 400) 606 beträgt. Da Rut als Moabiterin bereits sieben noachidische Gebote hielt, verweist nach traditioneller Lesart der Zahlenwert