Interpretation schon in rabbinischer Zeit ein Diskussionspunkt. So sagt R. Jischmael etwa kritisch über R. Eliezers Auslegungspraxis: „Siehe, du sagst zur Schrift: Sei still, bis ich auslege!“ (Sifra, Tazriʿa 5.13.2, Weiss 68b)
In kritischer Weise setzt sich auch das zwischen dem 8. und 10. Jh. entstandene Alphabet des Ben Sira mit rabbinischer Auslegung auseinander. Das wörtliche Schriftverständnis wird darin bevorzugt, aber dieses kann nicht alle menschlichen Fragen lösen, weshalb es einen Rückgriff auf eine Tugendlehre braucht, die sich nicht zuletzt auf beispielhafte Geschichten und Fabeln stützt.
|51|4. Die Autorität der Rabbinen als Ausleger und die Macht des Midrasch
„[Aus Rubinen mache ich deine Zinnen,] aus Beryll deine Tore (und alle deine Mauern aus kostbaren Steinen)“ (Jes 54,12) – entspricht dem, was R. Jochanan (auslegte), als er saß und erklärte: Der Heilige, gepriesen sei er, wird in Zukunft 30x30 (Ellen) große Edelsteine und Perlen hervorbringen und wird aus ihnen 10x20 [Ellen] (Öffnungen) schneiden und sie an die Tore Jerusalems setzen. Ein bestimmter Schüler verspottete ihn: Solche (Steine) in der Größe eines Taubeneis findet man nicht; gibt es denn welche in dieser Größe zu finden? Nach einiger Zeit segelte sein Schiff im Meer. Er sah die Dienstengel, die saßen und Edelsteine und Perlen sägten, die dreißig (Ellen) maßen, und auf denen (eine Öffnung von) 10x20 in der Höhe eingeschnitten war. Er fragte sie: Für wen sind diese? Sie sagten ihm: Der Heilige, gepriesen sei er, wird sie in den Toren Jerusalems aufstellen. Er kam vor Rabbi Jochanan und sagte zu ihm: Lege aus, Rabbi! Dir geziemt es auszulegen. Wie du gesagt hast, habe ich gesehen. Dieser antwortete ihm: Bösewicht! Hättest du nicht gesehen, hättest du nicht geglaubt! Du bist einer, der über die Worte der Weisen spottet. Er richtete seine Augen auf ihn und dieser wurde zu einem Knochenhaufen.
(bBava Batra 75a mit Parallele in bSanhedrin 100a und vor allem PesK 18.5, vgl. Stemberger, Münchhausen. In: JM II, S. 313).
Diese eindringliche Stelle aus einer längeren Passage über fantastische Reiseberichte im babylonischen Talmud erhellt wie kaum eine andere die Bedeutung der Rabbinen und die Frage nach den Quellen der ErkenntnisQuellen der Erkenntnis.
Der Student ist frech und skeptisch, untergräbt die Autorität des Lehrers und braucht visuelle „Beweise“, um zu glauben, was die Gelehrten allein durch ihre exegetische Arbeit erläutern. Der Tod durch das richtende Auge entspricht der Unfähigkeit, die „Wahrheit“ allein aus dem Text abzuleiten (vgl. Dina Stein, Textual Mirrors, Chapter 3). Erkenntnis außerhalb des Midrasch zu erlangen ist unnötig, ja sogar gefährlich. Der ungläubige Schüler bestreitet nicht nur die Erkenntnis seines Lehrers, sondern auch die Macht der Schrift, die dem Kundigen die Einsicht in die Zusammenhänge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gewährt.
In der in mehreren Varianten erzählten Gründungslegende der rabbinischen Bewegung wird davon berichtet, dass Jochanan ben Zakkai sich als Leiche aus dem von römischen Truppen eingekesselten Jerusalem zum Feldherrn Vespasian bringen lässt. In der bekanntesten Version in bGittin 56bbGittin 56b begrüßt Jochanan Vespasian als König, worauf dieser ihm antwortet, dass der Rabbi sein Leben verwirkt habe, da Vespasian kein König sei. Jochanan entgegnet ihm:
|52|In Wahrheit bist du ein König, denn wenn du kein König wärst, wäre Jerusalem nicht in deine Hand überliefert, wie es heißt: „Der Libanon fällt durch die Hand eines Mächtigen“ (Jes 10,34). „Eines Mächtigen“ bezeichnet nur einen König, wie es heißt: „Sein Mächtiger wird ihm selbst entstammen, [sein Herrscher] aus seiner Mitte hervorgehen“ (Jer 30,21); und der Libanon bezieht sich auf das Heiligtum, wie es heißt: „[Lass mich das prächtige Land jenseits des Jordan sehen], diesen prächtigen Berg (ha-har ha-tov) und den Libanon!“ (Dtn 3,25).
Wenig später überbringt ein Bote die Botschaft, dass Nero gestorben und Vespasian zum Kaiser akklamiert worden sei. Jochanan aber hat sein Wissen nicht aus einer sinnlich erfahrbaren oder durch Nachrichten übermittelten Quelle, sondern ausschließlich als Ergebnis seiner Beschäftigung mit der Schrift erworben. Die Schriftauslegung befähigt ihn, dem Kaiser selbstbewusst entgegenzutreten und die „richtige“ Anrede zu wählen. In der Folge gibt Jochanan noch zweimal Erklärungen aus der Bibel. Als nämlich Vespasians Fuß anschwillt und er nicht in die Stiefel steigen kann, zitiert er Spr 15,30 („[Strahlende Augen erfreuen das Herz], frohe Kunde macht den Knochen dick“) und schließlich als „Heilung“ Spr 17,22 („ein bedrücktes Gemüt lässt die Glieder verdorren“), wobei er Vespasian den Rat gibt, eine ihm unliebsame Person an ihm vorbeigehen zu lassen. Als Dank für seine (wirksame) Weisheit erhält Jochanan u.a. die Möglichkeit, mit seinen Getreuen in Javne einen Ort für die Lehre einzurichten. Diese Gründungslegende Javnes zeigt nachdrücklich die Macht des MidraschMacht des Midrasch. Er ist jeder anderen Erkenntnisquelle überlegen und geht ihr voraus. Die Auslegung der Schrift hat eben keinesfalls nur „wissenschaftlichen“ Wert, sie bietet selbst in den einfachen Lebensfragen – etwa dem Anschwellen eines Beines – wirkmächtige Antworten. Und sie überzeugt sogar einen römischen Kaiser, der gerade dabei ist, Jerusalem zu belagern. Während Nero in bGittin 56a – also wenig vorher im Text – zum Judentum konvertiert (wobei im Übrigen die Auslegung von Ez 25,14 eine wichtige Rolle spielt), gibt Vespasian den Weg frei für die Zukunft des Judentums aus den Quellen der Bibel und der Kraft des Midrasch.
Midrasch steht als Entscheidendes identitätsstiftendes Erkenntnismediumentscheidendes identitätsstiftendes Erkenntnismedium den anderen Möglichkeiten der Erkenntnis oder Selbstbestimmung gegenüber. Im MidMish 1.1 beispielsweise schützt die Kraft des Midrasch im Kontext der Rätselfragen der Königin von Saba vor der gefährlichen Macht des/der Fremden. Fragen werden mithilfe des Rückgriffs auf die Schrift beantwortet, im Ausfüllen der gaps in der biblischen Erzählung. Die Rätsel selbst werden in die Form des Midrasch integriert. Damit wird jegliche andere Diskursform unterminiert.
|53|Die Diskrepanz zwischen Anschauung und Auslegung wird beispielsweise auch in PesK 11 thematisiert. Hier legt R. Jochanan aus, dass die Wasser am Schilfmeer, die wie eine Wand für Israel standen, wie ein Gitter ausgesehen hätten. Dagegen wehrt sich Serach bat Ascher mit dem Hinweis, sie sei dabei gewesen und habe es wie ein durchscheinendes Fenster erblickt. Der Umstand, dass Serach noch lebt, um die Geschichte zu erzählen, ist natürlich ver-wunder-lich. Dina Stein vergleicht diese Herausforderung midraschischer Epistemologie mit der schon erwähnten Erzählung in bMenachot 29b, in der Moses im himmlischen Lehrhaus der Auslegung R. Aqivas lauscht und sie nicht versteht, obwohl sie sich auf ihn selbst zurückführt. In diesen Erzählungen geht es um eine Reflexion über Autorität und Hegemonie, die von den Rabbinen und der Epistemologie des Midrasch im Besonderen ausgeht. Sie wird mehrfach hinterfragt. Midrasch ist eine selbst-reflektierende Praxis. Die Macht des Midrasch ist mit der Macht der AuslegerMacht der Ausleger selbst eng verwoben. In SifDev § 49 zu Dtn 11,22 heißt es:
„[Wenn ihr auf dieses ganze Gebot, auf das ich euch heute verpflichte, genau achtet und es haltet, wenn ihr JHWH, euren Gott, liebt, auf allen seinen Wegen geht] und euch an ihm festhaltet“ (Dtn 11,22): Wie ist es einem Menschen möglich, aufzusteigen zum Höchsten und sich am Feuer festzuhalten? Heißt es nicht: „Denn JHWH, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer“? (Dtn 4,24). Und es heißt: „Feuerflammen waren sein Thron“ (Dan 7,9). Haltet euch vielmehr an den Gelehrten und ihren Studierenden fest und ich will es euch anrechnen, als wäret ihr zum Himmel aufgestiegen und hättet dort (die Tora) empfangen, und nicht nur das, sondern als wäret ihr aufgestiegen und hättet sie nicht in Frieden empfangen, sondern nach einem Krieg, um sie zu erringen, wie es heißt: „Du zogst hinauf zur Höhe, führtest Gefangene mit“ (Ps 68,19).
Der Ausleger der Tora ist der Mittler zu GottDer Ausleger der Tora ist der Mittler zu Gott. Eine Alternative gibt es nicht (oder besser: sollte es nicht geben). Der direkte Weg, beispielsweise der mystische Aufstieg oder auch die Privatoffenbarung, wird, wenn nicht gänzlich abgelehnt, so doch in deutliche Schranken verwiesen.
Die Tora ist symbolisch aufgeladen und wird gern mit Wasser verglichen. Der Ausleger muss darin schwimmen:
Wie bei Wasser, wenn jemand nicht schwimmen kann, er ertrinken wird, so ist es mit den Worten der Tora. Wenn jemand nicht versteht, seinen Weg in ihr zu gehen und in Übereinstimmung mit ihr zu lehren, wird er am Ende verschluckt. (ShirR 1.2.8)