Rede von der Schrift als schwarzes Feuer auf weißem Feuer (jScheqalim 6,1,25b; jSota 8,3,37a; Tan zu Gen 1,1 |54|u.ö.) impliziert spezialisierte kundige Ausleger der verborgenen (weißen) Elemente. Besonders eindrücklich schildert in diesem Zusammenhang der mittelalterliche Midrasch Aseret ha-Dibrot gleich zu Beginn die Weltschöpfung mithilfe der Tora, wobei Gott sich in Ermangelung von vorhandenem Pergament den Text mit schwarzem auf weißem Feuer auf seinen Arm „tätowiert“.
Auch Erneuerung und Ausgestaltung der Halacha, also der Lebensordnung des Alltags, bleibt mehr und mehr den Auslegern vorbehalten und der prophetischen Einführung entzogen (vgl. bMegilla 2b/3a, bJoma 80a, bTemura 16a, Sifra Bechuqqotai 13, Weiss 115d zu Lev 27). Die Prophetie als OffenbarungsquelleProphetie als Offenbarungsquelle verschwindet in der rabbinischen Tradition nicht, aber sie tritt massiv in den Hintergrund. Die Himmelsstimme (Bat Qol) lässt sich des Öfteren als eine Art Nachhall zur Prophetie hören, aber sie ist nicht präsent, wo es um die großen Fragen der religiös-ethischen Regeln und Normen geht. Die oft zitierte Erzählung von der Bannung R. Eliezers erläutert dies besonders drastisch. Eliezer stellt sich in einer bestimmten halachischen Frage gegen seine Kollegen und beruft sich auf die durch himmlische Zeichen legitimierte Richtigkeit, also auf einen „direkten Draht“.
Man hat gelehrt: An diesem Tag äußerte R. Eliezer alle Einwendungen, die es auf der Welt gibt, und man nahm sie von ihm nicht an. Er sagte zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so möge dies jener Johannisbrotbaum erweisen! Da entwurzelte sich der Johannisbrotbaum (und bewegte sich) 100 Ellen von seinem Platz fort. Manche sagen: 400 Ellen. Sie sagten zu ihm: Man entnimmt keinen Beweis von einem Johannisbrotbaum! Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so möge dies der Wasserkanal erweisen! Da floss der Wasserkanal rückwärts. Sie sagten zu ihm: Man entnimmt keinen Beweis von einem Wasserkanal! Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so mögen dies die Wände des Lehrhauses erweisen! Da neigten sich die Wände des Lehrhauses, um einzustürzen. Da herrschte sie R. Jehoschua an, und er sagte zu ihnen: Wenn die Gelehrten sich gegenseitig in der Halacha besiegen, was kümmert es euch?! Da fielen sie nicht um wegen der Ehre des R. Jehoschua und stellten sich auch nicht auf wegen der Ehre des R. Eliezer und stehen bis jetzt geneigt. Er redete erneut zu ihnen: Wenn die Halacha meiner Position entspricht, so möge sich dies aus dem Himmel erweisen! Da erklang eine Bat Qol (Himmelsstimme) und sagte: Was habt ihr gegen R. Eliezer? Die Halacha ist wie er in jedem Fall. Da stellte sich R. Jehoschua auf seine Füße und sagte: „Sie ist nicht im Himmel!“ (Dtn 30,12). Warum (heißt es): „Sie ist nicht im Himmel“? Es sagte R. Jeremja, dass die Tora schon am Sinai gegeben wurde. Wir achten nicht auf die Bat Qol, denn du hast schon geschrieben am Berg Sinai in die Tora: „Nach der Mehrheit (ist) zu entscheiden“ (Ex 23,2). Es traf R. Natan Elija. Er fragte ihn: Was tat der Heilige, gepriesen sei er, in dieser Stunde? Er sagte ihm: Er lächelte und sagte: Meine Kinder haben mich besiegt, meine Kinder haben mich besiegt! (bBava Metzia 59bbBava Metzia 59b; vgl. jMoʿed Qatan 3,1,81cd)
|55|Eliezer ist hier mehr als ein konservativer Eigenbrötler, als der er gelegentlich in den rabbinischen Schriften erscheint, er stellt den Typus des Propheten dar, der durch Zeichen und Wunder seine eigene Autorität unter Beweis stellt. Seine Kollegen repräsentieren die andere Seite der Offenbarungsvermittlung – durch im Lehrhaus ermittelte Mehrheitsentscheidung. Die Wunder können eintreffen, selbst Gott kann auf Seiten des Propheten sein, sein Anspruch auf Offenbarungsvermittlung ist mit der Gabe der Tora am Sinai praktisch verwirkt. Auch der große Prophet Elija, ein häufiger Gast in rabbinischen Erzählungen, kann nur die lächelnde Zustimmung Gottes zur „Machtübernahme“ durch die Rabbinen bekunden.
Neben der Prophetie bieten die mystischen Spekulationen alternative Möglichkeiten, Offenbarung „hautnah“ zu erleben. Auch hierauf reagieren die Rabbinen mehr als nur vorsichtig. Auf der einen Seite stehen sie ihnen sehr skeptisch gegenüber, auf der anderen Seite vereinnahmen sie den richtigen Umgang mit der MystikMystik für sich. So werden die Spekulationen um die himmlischen Thronhallen (Hechalot) und den Thronwagen (Merkava) zu geheimnisumwitterten Lehren, die man versucht, rabbinisch zu kontrollieren. In WaR 16.4 heißt es:
Ben Azzai saß und legte aus (haja joschev we-doresch) und Feuer entflammte rund um ihn. [(Seine Schüler) gingen und sagten zu R. Aqiva: Ben Azzai sitzt und legt aus und Feuer ist rund um ihn entflammt.] Er ging zu ihm und sagte: Beschäftigst du dich mit den Geheimnissen der Merkava (Thronwagenmystik)? Er antwortete ihm: „Nein! Vielmehr verknüpfe ich die Worte der Tora mit den Propheten und die Worte der Propheten mit den Schriften, und die Worte der Tora jubeln wie am Tag(, als sie) vom Sinai (gegeben wurden) – und ist es nicht wesenhaft, dass sie, als sie vom Sinai gegeben wurden, durch Feuer gegeben wurden?, wie es heißt: „Und der Berg brannte im Feuer bis zum Herzen des Himmels“ (Dtn 4,11).
Das Feuer der Offenbarung vom Sinai kommt hier betont – obwohl so „befürchtet“ – nicht durch die mystische Spekulation auf den Schüler, sondern nachdem er – modern formuliert – intertextuelle Exegese betrieben hat. Damit markieren die Rabbinen ihr Territorium. Denn Wissen bedeutet Macht. Die Weitergabe der richtigen Lehre und der besonderen Gotteserkenntnis ist daher auch ein exklusives Gut, das man in der Gruppe zu halten versucht. In BerR 3.4 mit Parallelen in WaR 31.7 oder MidTeh 104.4 beantwortet R. Schmuel b. Nachman eine Anfrage des Schimon b. R. Jechozadaq, woher das Licht erschaffen wurde, als Haggadalehrer mit Flüstern:
Er hat gesagt: Der Heilige, gepriesen sei er, hat sich darin eingehüllt wie in einen Mantel, und der Glanz der Hoheit strahlte von einem Ende der Welt bis zum anderen Ende. Er hat zu ihm mit Flüstern (lechischa) gesprochen. |56|Daraufhin hat ihm (Schimon) geantwortet: Ein voller Schriftvers ist es: „Du hüllst dich in Licht wie in ein Kleid“ etc. (Ps 104,2) – und du sprichst mit Flüstern? Er antwortete ihm: Wie ich es mit Flüstern gehört habe, so sage ich es dir mit Flüstern.
Das Flüstern ist Teil des Geheimnisses, der besonderen Vorsicht um seine Weitergabe. Auch wenn die Botschaft nichts anderes vermittelt als etwas, das jeder aus der Bibel erfahren könnte, enthält es durch die spezifische Situation der Weitergabe im Kontext der rabbinischen Haggadagruppe eine besondere Bedeutung.
Der innerste Kreis der Offenbarungsvermittler sind die Gelehrten. Zu ihren Schülern gehören, also Den Weisen dienenden Weisen dienen, ist die größte Ehre, die Ansehen und Freude über den Tod hinaus garantiert. SER 7.17 (Friedmann 37) formuliert es so:
Hat jemand (Bibel) gelesen und nicht Mischna studiert, steht er noch draußen. Hat einer Mischna studiert, aber nicht (Bibel) gelesen, steht er noch draußen. Hat jemand (Bibel) gelesen und Mischna studiert und nicht den Weisen gedient, gleicht er einem, vor dem [die Worte] der Tora verborgen sind, da es heißt: „Nach meiner Umkehr fühle ich Reue“ (Jer 31,19). Doch hat jemand Tora, Propheten und Schriften gelesen und Mischna, Midrasch und Halachot und Aggadot studiert und den Weisen gedient, der mag dafür sogar sterben oder getötet werden, so ist er doch in Freude auf ewig. Daher heißt es: „Daher lieben sie dich auf ewig“ (Hld 1,3). (Übersetzung Stemberger, Schaff dir einen Lehrer. In: JM II, S. 369)
5. „Textzentrierte“ und „angewandte“ Auslegung und eine Hermeneutik der Anknüpfungen
Eine logische Schlussfolgerung des bisher Gesagten ist, dass im biblischen Text entdeckte Fragen beantwortet werden sollen, Unklarheiten aufgeklärt, Spannungen gelöst. Dazu verwenden die Rabbinen die hermeneutischen Regeln, stellen intertextuelle Bezüge zu anderen – aus unterschiedlichsten Gründen vergleichbaren – Bibelstellen her, benützen Gleichnisse oder Beispielerzählungen etc. Gerade die so genannten gaps, also die Leerstellen und offenen Fragen innerhalb des Textes ermöglichen es zudem, wichtige Botschaften zu transportieren, die in der Form der Auslegung des Bibeltextes erscheinen, über bloße „Exegese“ aber weit hinausgehen. Isaak Heinemanns in Bezug auf die Haggada geprägte Begriffe der „schöpferischen Philologie“ bzw. der „schöpferischen Geschichtsschreibung“ (Darche ha-Aggada) haben hier ihre tiefe Berechtigung. „Schöpferisch“ trifft insofern zu, als es sich bei den Auslegungen der Rabbinen tatsächlich um Kreationen von Zusammenhängen mit dem Ziel handelt, diese für die eigene Lebenswelt anwendbar zu machen.
|57|Eine Unterscheidung zwischen „reiner“ und „angewandter“