seid Männer, die Wahrzeichen sind]“ (Sach 3,8). R. Tanchum bar Abbuna im Namen R. Chaninas: Deshalb stiegen Chananja, Mischael und Azarja in den Feuerofen hinab, damit an ihnen ein Wunder geschehe.
Diese Stelle ist bezeichnend für die Rabbinen. Abraham schickt seinen Sohn zum TorastudiumTorastudium, ganz im Sinne dessen, was sie als lebensspendende Mitte jüdischer Identität ansehen. Aber sie verabsäumen auch nicht, das Schicksal Isaaks in den Kontext der Märtyrer für den wahren einzigen Gott zu stellen. Chananja, Mischael und Azarja waren von Nebukadnezzar in den glühenden Ofen geworfen worden und hatten überlebt. Aber auch von ihnen war später nichts mehr zu hören. Was also geschah? Starben sie doch an den Folgen oder gingen sie, um Tora zu studieren? Das Torastudium als Mitte rabbinischer Lehre ist hier in den Text hineingelesen.
In BerR 63.6 heißt es zu Gen 25,22:
„Sie stießen einander im MutterleibMutterleib“: Als sie (Rebekka) an GötzentempelnGötzentempeln vorbeikam, zappelte Esau und wollte herauskommen. Als sie an SynagogenSynagogen und Lehrhäusern vorbeikam, zappelte Jakob und wollte herauskommen.
Esau ist von Anfang an verdorben, während Jakob Synagogen und Lehrhäuser schätzt. Der Bibeltext selbst erklärt nicht näher, warum |67|die beiden zappeln, was der Midrasch ausnutzt, um seine Weltsicht zu propagieren. Esau, häufig Sinnbild Roms, ist der negative Gegenpol zum lernbegierigen Jakob/Israel. Wenig später, in BerR 63.10Genesis Rabba 63.10 wird das Bild von Rom erneut zur Folie. Richtiges oder falsches VerhaltenUnter anderem heißt es hier:
„Esau verstand sich auf die JagdJagd“ (Gen 25,27Gen 25,27) – Er jagte die Geschöpfe mit seinen Worten (folgendermaßen): Du hast nicht gestohlen? – Wer hat mit dir gestohlen? Du hast nicht gemordMordet? – Wer hat mit dir gemordet?
Wie Rom ist Esau hinterhältig und verbrecherisch. In Ber 63.12 wird Gen 25,29 ausgelegt. Hier kommt Esau vom Feld. Der Begriff „Feld“ wird intertextuell aufgelöst und negativ auf Esau gedeutet. Demnach habe Esau eine verlobte Jungfrau vergewaltigt und einen Mord begangen. Belege dafür sind Dtn 22,25 (wo eine Jungfrau „auf freiem Feld“ vergewaltigt wird) und Jer 4,31 („Ja, ich höre Geschrei wie von einer Frau in Wehen, Stöhnen wie von einer Erstgebärenden, das Schreien der Tochter Zion, die nach Atem ringt und die Hände ausstreckt: Weh mir, unter Mörderhand endet mein Leben“). Nach einer weiteren Ansicht habe er auch – mit Beleg Obd 1,5(-6) („Wenn in der Nacht Diebe oder Räuber bei dir einbrechen […] Wie wird man Esau durchsuchen und seine Verstecke durchstöbern!“) – gestohlen.
Biblische Texte, Personen oder Handlungen können zu weiterführenden Betrachtungen über richtiges oder falsches Verhalten führen. So heißt es in Anknüpfung an Doëg, der David einst verriet (1 Sam 22) in Tan Metzora 2 bzw. TanB Metzora 4 (22b/23a), dass der Verrat sogar die drei großen Kapitalvergehen übersteigt:
Und Doëg wurde aus dem Leben dieser Welt entwurzelt und (auch) aus allen Leben der zukünftigen Welt, wie es heißt: „Darum wird Gott dich verderben für immer, (dich packen und herausreißen aus deinem Zelt, dich entwurzeln aus dem Land der Lebenden)“ (Ps 52,7Ps 52,7) – aus dem Leben der zukünftigen Welt. Was ist schwerwiegender: wer mit dem Schwert tötet, oder wer mit dem Pfeil tötet? Sag: Wer mit dem Pfeil tötet! Denn wer mit dem Schwert tötet, kann sein Gegenüber nur töten, wenn er nahe bei ihm ist und ihn trifft. Wer mit dem Pfeil tötet, bei dem ist es nicht so, sondern er schießt den Pfeil ab und tötet ihn überall, wo er ihn sieht. Deswegen wird (der Verleumder) mit dem Pfeil verglichen, wie es heißt: „Ein tödlicher Pfeil ist ihre Zunge“ (Jer 9,7). Und so sagt sie (die Schrift): „Ich muss mich mitten unter Löwen lagern, die gierig auf Menschen sind. Ihre Zähne sind Spieße und Pfeile, ein scharfes Schwert ihre Zunge“ (Ps 57,5Ps 57,5). Sieh, wie schwer die Verleumdung ist – dass sie schwerer (wiegt) als Blutvergießen und Unzucht und Götzendienst. Von der Unzucht steht geschrieben: „Wie sollte ich da ein so großes Unrecht begehen und gegen Gott sündigen?“ (Gen 39,9).Vom Blutvergießen steht geschrieben: „Da sprach Kain zum Herrn: Meine Sünde ist größer, als dass ich sie tragen könnte“ (Gen 4,13). Vom Götzendienst steht geschrieben: „Ach, dieses Volk hat gesündigt“ |68|etc. (Ex 32,31). Aber wenn er die Verleumdung erwähnt, sagt er weder „groß“ noch „große(s)“ (Sg.), sondern „große“ (Plural), wie es heißt: „Der Herr vertilge alle falschen Zungen, jede Zunge, die Großes (Pl.) redet.“ (Ps 12,4). Deshalb wird gesagt: „Tod und Leben steht in der Gewalt der Zunge“ (Spr 18,21).
Die wenigen Beispiele illustrieren, wie rabbinisches Welt- und Menschenbild sich an den Text anheften kann. Dabei kommt es nicht selten zu einer Neubewertung von Figuren in der Bibel. Grundsätzlich werden die Ideale der Rabbinen auch in den Bibeltext hineinprojiziert. Dazu gehören der Vorrang des Studiums und der Lehre, die mit der höchsten Wertschätzung der Tora verbunden wird, und die vielen Beispiele für richtiges und toragemäßes Verhalten, für Bescheidenheit und Tugendhaftigkeit.
Die Beispiele haben jeweils nur einzelne kurze Passagen in den Blick genommen. Die „Hermeneutik der Anknüpfungen“ ist natürlich nicht zuletzt über längere Abschnitte zu beobachten. Sehr gut lässt sich dies etwa an WaR illustrieren, wo im Grunde jede Parascha eine Fülle von Wissen vermittelt, das sich assoziativ an den Text anbindet und sukzessive weiter durch Anknüpfungen thematisch verbunden und dadurch ausgeweitet wird. Damit gelingt es, in die Auslegung der verwendeten Bibeltexte auf den ersten Blick weit entfernte Themen einzubinden und doch immer wieder – was allerdings durchaus Aufmerksamkeit verlangt – auf den biblischen Ausgangstext des Buches Levitikus zu verweisen.
6. Polysemie
Angeregt durch die Thesen der poststrukturalistischen Literaturwissenschaft gab es vor wenigen Jahrzehnten einen Trend, Rabbinische Texte als Ausdruck einer polyvalenten und unbestimmten Textproduktionrabbinische Texte als Ausdruck einer polyvalenten und unbestimmten Textproduktion zu lesen, in der der Autor verschwindet, die historische Verankerung keine Rolle spielt, der Text vielmehr als freies Spiel verstanden wird, in dem die Leserinnen und Leser eine wichtige Rolle als Sinnkonstrukteure spielen. Vor allem in den USA entwickelten sich poststrukturalistische literarische Zirkel, welche Midrasch als Hermeneutik untersuchen. Midrasch wird hier nicht als Gattung oder als Textform verstanden, sondern als exegetisches Vorgehen, als Methode (vgl. Gelhard, Spuren des Sagens). Hier ist nicht zuletzt die viel diskutierte Arbeit von Susan Handelman (The Slayers of Moses) zu nennen. Unter anderem galt Jacques Derridas Dekonstruktionismus als moderne Form des Midrasch im Unterschied zur Exegese, welche letztlich nach der einen „richtigen“ Bedeutung suche (vgl. Joseph Dan, Exegesis).
|69|Ein zentrales Stichwort in der poststrukturalistischen Analyse ist die „Unbestimmtheit“ (indeterminacy)„Unbestimmtheit“ (indeterminacy) des Textes. Diesbezüglich wird in der rabbinischen Literatur gern auf bSanhedrin 34a oder bSchabbat 88b verwiesen, wo Jer 23,29 ausgelegt und der vom Hammer zerschmetterte Felsen mit den biblischen Versen verglichen wird, die auf vielfältige Weise auszulegen sind. Im mittelalterlichen BemR 13.15 ist schließlich von den 70 Gesichtern der Tora die Rede.
Zweifellos trachtet die rabbinische Bewegung danach, unterschiedliche Meinungen und im Studium erworbene Auslegungen nebeneinander zu belassen und gleichzeitig ihre gemeinsame Herkunft aus einer Quelle (von Gott am Sinai) zu betonen. Die mündliche und schriftliche Anordnung der Überlieferungen allein macht aber aus dieser Gleichzeitigkeit eine Nachordnung, eine Abfolge, bedingt eine Auswahl und Beschränkung, die – bewusst oder unbewusst, darüber lässt sich trefflich streiten – die Rezeption beeinflusst (vgl. Steven Fraade, From Tradition to Commentary, vor allem S. 124).
In Bezug auf die Offenheit und Geschlossenheit des rabbinischen „Systems“ gilt, was David Stern bereits 1988 in seinem Beitrag Indeterminacy geschrieben hat:
Die Zitation von verschiedenartigen Interpretationen im Midrasch ist ein Versuch, mit textlichen Mitteln eine idealisierte Akademie rabbinischer Tradition vorzustellen, in der alle Meinungen der Gelehrten gleichwertig als Teil des einen göttlichen Gesprächs aufgezeichnet werden. Meinungen, die im menschlichen Diskurs als widersprüchlich oder einander ausschließend erscheinen, werden auf die Ebene einer paradoxen Einheit gehoben, die sich auf ihre eine gemeinsame Quelle im Sprechen des göttlichen Autors zurückführt. […] Das Phänomen, das wir in vielen Auslegungen beobachten, ist, in anderen