beeinflusst also die Entscheidung, wann, was und wo sie frisst. Gerne frisst sie zudem im Verbund mit anderen Blaumeisen, weil dies mehr Sicherheit vor Beutegreifern (→ Kap. 6) mit sich bringt. Damit verschärft sich aber die Konkurrenz ums Futter, da sie dieses mit Artgenossen und gegebenenfalls Vertretern anderer Arten teilen muss. Da Blaumeisen oft im Verbund mit anderen Vögeln bei der Nahrungsaufnahme beobachtet werden können, ist der Nutzen der verbesserten Feindwahrnehmung offenbar größer als der Schaden durch die erhöhte Futterkonkurrenz. Beim Erscheinen von Feinden warnen sich Blaumeisen gegenseitig mit Alarmrufen; diese werden über die Artgrenzen hinweg verstanden, sodass auch andere Arten auf diese Warnrufe reagieren (→ Kap. 10). Fliegt ein Sperber (Accipiter nisus) vorbei, bleiben die Blaumeisen regungslos sitzen. Entdecken sie hingegen eine Eule, wird diese angegriffen und gemobbt. Warum das so ist, wird mit verschiedenen Hypothesen erklärt, darunter auch mit Altruismus (→ Kap. 11).
| Abb. 1-1
Ein Jahr im Leben der Blaumeise (Cyanistes caeruleus). A) Blaumeise bei der Nahrungssuche im Winter, B) bettelnde Jungmeise, C) Sperber (Accipiter nisus) als Prädator von Blaumeisen, D) Kohlmeise als Begleitart in gemischten Winterschwärmen. Fotos: C. Randler.
Im Frühjahr suchen und besetzen die Blaumeisen-Männchen Reviere und singen, um Weibchen anzulocken, aber auch, um anderen Männchen zu signalisieren, dass das Revier bereits besetzt ist. Manchmal kämpfen die Männchen um ein Revier. Erscheint ein Weibchen im Territorium, zeigen die Blaumeisen ein Balzverhalten, da – wie übrigens bei den meisten Meisenarten – Damenwahl herrscht. Weibchen wählen ein Männchen nach verschiedenen Gesichtspunkten aus, oft nach dem Ultraviolettanteil im Gefieder (→ Kap. 7). Brutpflege und Jungenaufzucht finden generell durch beide Eltern statt, obwohl Blaumeisen nicht unbedingt treu sind, sondern gerne mittels «außerehelicher» Kopulationen versuchen, ihre Gene breiter zu streuen. Erscheint ein Beutegreifer in der Nähe der Nisthöhle, so wird er angegriffen (Brutverteidigung). Blaumeisen legen sehr viele Eier, was mit der hohen Sterblichkeit der Jungvögel im ersten Lebensjahr zusammenhängen dürfte.
1.1 | Wie wird «Verhalten» definiert?
Wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, ist Verhalten eine vielgestaltige Sache. Entsprechend schwierig ist es, eine Definition zu formulieren, die alle relevanten Facetten umfasst. Als Beispiel seien hier zwei Definitionen aufgeführt; zuerst die umfassende und komplexe von Kappeler (2012, p. 4):
«Verhalten bezieht sich auf die intern koordinierte Kontrolle von Bewegungen oder Signalen, mit denen ein intakter Organismus mit Artgenossen oder anderen Komponenten seiner belebten und unbelebten Umwelt interagiert sowie auf Aktivitäten, die der Homöostase eines Individuums dienen».
Nach dieser Definition wird Verhalten intern gesteuert, d.h. über Hormone und Nervenzellen. Das Verhalten wird dann in Signalen oder Bewegungen ausgeprägt. Wichtig bei dieser Definition sind neben der Interaktion mit der unbelebten Umwelt auch die Beziehungen zu anderen Tierarten (Räuber, Beute) sowie zu Tieren der eigenen Art. Ein weiterer Punkt, der Verhalten steuert, ist die Homöostase, d.h., die Aufrechterhaltung der Körperfunktionen, wenn etwa ein Tier auf einen inneren Reiz (z.B. Hunger) reagiert und auf Nahrungssuche geht oder bei sehr hohen Temperaturen den Schatten aufsucht.
Ein anderer Ansatz definiert Verhalten als beobachtbaren Prozess, mit dem ein Tier auf innere und äußere Reize reagiert. Untersucht werden kann in diesem Zusammenhang neben der direkten Beobachtungen der Tiere auch die Untersuchung resp. Messung von Herzschlag oder die Bestimmung von Hormonspiegels. Wichtig ist, dass die Tiere Reize des eigenen Körpers (interne Reize), wie auch Umweltreize (und damit eingeschlossen andere Tiere und die von diesen ausgehenden Reize und Signale) zuerst einmal wahrnehmen müssen. Man könnte also auch sehr vereinfacht sagen, dass Verhalten eine messbare Reaktion auf Reize ist.
Keine der beiden Definitionen trifft völlig zu oder ist vollständig falsch; sie zeigen vielmehr die Bandbreite von Verhalten und die Schwierigkeit, dieses in einer kurzen, prägnanten Definition einzufangen. Die Tatsache, dass wir aktuell also über keine allseits anerkannte Definition des Begriffs «Verhalten» verfügen, ist zwar bedauerlich und verkompliziert die Arbeit der Verhaltensbiologen, macht sie aber zugleich auch außerordentlich spannend. Außerdem bedeutet das Fehlen einer allgemein akzeptierten Definition nicht, dass gar kein Konsens darüber besteht, was Verhalten ist. → Tab. 1-1 stellt Komponenten des Begriffs «Verhalten» dar, die allgemein als solche anerkannt werden.
| Tab. 1-1
Definition und Komponenten von Verhalten (basierend auf Kappeler 2012, Dugatkin 2014).
Komponente | Beispiel |
Prozess | |
beobachtbarmessbar | Bewegung (Tier flüchtet)/SignaleVeränderung im Hormonspiegel |
Stimuli | |
aus der Außenwelt (external)aus der Innenwelt (internal) | Nahrung, Fressfeind, ArtgenosseHunger/Homöostase |
Wahrnehmung | |
Stimuli müssen wahrgenommen werden | Tier hört einen Warnruf, sieht den Fressfeind, riecht Futter |
Koordinierte Reaktion/Integration | |
Zusammenhang zwischen dem Prozess und dem Stimulus | Flucht eines Tieres (Prozess), wenn sich ein Fressfeind nähert (Stimulus) |
Physiologische Koordination im Tier | Muskeln, Gelenke etc. arbeiten koordiniert mit den Sinnesorganen zusammen, letztere zeigen an, aus welcher Richtung ein Fressfeind sich nähert |
Demnach lässt sich als Merksatz Folgendes zusammenfassen:
Merksatz
Verhalten umfasst alle beobachtbaren/messbaren Prozesse, mit denen ein Tier auf wahrgenommene Veränderungen innerhalb seines Körpers oder der Außenwelt reagiert.
1.2 | Verhaltensbiologie – eine junge Disziplin
Bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) machte sich Gedanken über das Lernen und die Emotionen von Tieren. Die wissenschaftliche Sicht der Verhaltensbiologie ist dagegen erst etwa 150 Jahre alt. Charles Darwin (1809–1882) stellte klare Bezüge zwischen Verhalten und Evolution her; beispielsweise interpretiert er das Balzverhalten von Vögeln bzw. die ausgeprägte Gefiederfärbung derselben als Versuche, die Partnerwahl des Weibchens zu beeinflussen (sexuelle Selektion; → Kap. 7). Einen Aufschwung erlebte die Verhaltensbiologie aber erst im 20. Jahrhundert mit den Begründern der Ethologie (→ Kap. 3), die die Bedeutung von Endursachen (ultimaten Faktoren, der Interpretation des Zwecks des jeweiligen Verhaltens) betonten und die Auffassung vertraten, dass sich Verhaltensmerkmale klar identifizieren und messen lassen. Als besonderer Erfolg der Ethologie kann die Entzifferung der Bienensprache durch Karl von Frisch (1886–1982) gelten, der 1973 zusammen mit Konrad Lorenz (1903–1989) und Nikolaas Tinbergen (1907–1988) den Nobelpreis für Medizin/Physiologie erhielt. Lorenz und Tinbergen werden auch als die Gründerväter der Ethologie bezeichnet.
Während die Ethologie in Europa lange Zeit die dominierende verhaltensbiologische Forschungsrichtung war, entwickelte in den USA Burrhus Skinner (1904–1990) den Behaviorismus, eine alternative Forschungsrichtung, der die Annahme zugrunde liegt, dass alles Verhalten erlernt sei. Ethologie und Behaviorismus unterscheiden sich stark, was sich nicht nur in ihren unterschiedlichen Grundannahmen manifestiert, sondern auch in der Art und Weise, wie geforscht wird: Während Behavioristen sich in der Regel auf Laborexperimente beschränken und dort die Beziehung zwischen Reizen und Reaktionen