Lukas Bormann

Theologie des Neuen Testaments


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das Gebiet der Samaritaner. Dabei handelt es sich um eine bis in die Gegenwart existierende religiös-ethnische Gruppierung, die sich zwar auf die fünf Bücher Mose, den Pentateuch, beruft, sich aber etwa im 2. Jh. v. Chr. von dem nach Jerusalem orientierten Judentum abgespalten hat und den Berg Garizim als wichtigsten heiligen Ort betrachtet.

      Das Leben in Palästina dieser Zeit eröffnete demnach zahlreiche Erfahrungen mit anderen Kulturen, Religionen und Sprachen. Der Umgang mit diesen Erfahrungen reichte von Prozessen der Integration bis zu bewusster Abgrenzung. Alle Bevölkerungsgruppen setzten sich mit den Folgen dieser religiös-ethnischen Vielfalt auseinander und entwickelten Verhaltensweisen für kulturellen Austausch, Handel, Feiertagspraxis, Nahrungstabus, Wissenstransfer, exogame Ehen und religiös-ethnische Konversionen. Die Juden, die außerhalb Palästinas lebten, das Diasporajudentum, führten diese Auseinandersetzungen mit der Vielfalt der Denk- und Lebensweisen in ihrer Umwelt besonders intensiv, da sie sich einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft gegenüber sahen und somit beständig anderen kulturellen und religiösen Prägungen begegneten.

      Die Religion des Judentums fungierte als Orientierungssystem der jüdischen Bevölkerung in Judäa und Galiläa, aber auch in der Diaspora. Sie bewertete oder interpretierte historische Ereignisse als Erfüllung des Willens Gottes oder als Folge menschlicher Sünde, als toragemäß oder torawidrig und damit auch als ethisch gut oder verwerflich. Das antike Judentum war aber durch Vielfalt, Diversität und Kontroversen geprägt. Selbst in Grundfragen wie jenen nach dem Tempel, der Tora, der Ethik und der Schriftauslegung war der Konsens der Mehrheit immer auch durch abweichende Meinungen von Sondergruppen herausgefordert. Die normative Sichtweise der sprachmächtigen Eliten (z. B. Priester und Schriftgelehrte) unterschied sich nicht selten von der sozialen Praxis der Mehrheit einfacher Menschen. Für eine Theologie des Neuen Testaments ist es demnach von besonderer Bedeutung, diese Vielfalt zu berücksichtigen und ein einseitiges Bild des antiken Judentums zu vermeiden.

      Dabei ist auch zu beachten, dass über Jahrhunderte christliche Theologen das Bild vom Judentum bestimmten und jüdischen Selbstdarstellungen kein Gewicht beimaßen. Gerade die Darstellungen des antiken Judentums in den Theologien des Neuen Testaments haben eine breite Wirkung auf die Wahrnehmung des Judentums entfaltet. Aus der Perspektive christlicher Theologie erschien das Judentum positiv als Vorbereitung des Evangeliums (lat. praeparatio evangelii) und negativ als eine defizitäre Entität, die in sich einen inneren Widerspruch, ein Problem, eine dramatische Spannung trug, die nach einer Lösung drängte, die dann durch Jesus gebracht worden sei. Das Judentum wurde überwiegend in dieser Ambivalenz zwischen positiver Vorbereitung oder Wurzel des Christentums einerseits und problembeladener oder defizitärer Ursache der Hervorbringung des Christentums andererseits behandelt. Dieses auf Basis der neutestamentlichen Texte konstruierte Bild des antiken Judentums bestimmt teilweise bis heute die Wahrnehmung des Judentums und ist immer wieder kritisch zu reflektieren.

      Die geschilderte Ambivalenz wurde durch die neutestamentliche Wissenschaft zudem als historische Tatsache und nicht als theologisches Urteil dargestellt und bot sich dadurch geradezu für antijüdische und auch antisemitische Inanspruchnahmen außerhalb der Theologie an. Der moderne Antisemitismus zeichnet sich durch eine hohe Adaptionsfähigkeit und Flexibilität in der Konstruktion judenfeindlicher Anschauungen, Vorurteile und Stereotype aus.1 Er integrierte von Anfang an christlich geprägte antijüdische Sichtweisen in seine Polemik. Neben dieser Rezeptionsgeschichte von Judentumsbildern der christlichen Theologie ist auch zu berücksichtigen, dass historische Arbeiten zur Geschichte des antiken Judentums von Kontroversen um normative Sichtweisen des gegenwärtigen Judentums und des Staates Israel beeinflusst sind. Aussagen zur Bedeutung des Landes Israel oder des Tempelareals in Jerusalem sind oftmals durch heutige Konflikte zwischen der dort lebenden jüdischen, muslimischen und christlichen Bevölkerung beeinflusst.

      Die in den neutestamentlichen Texten berichteten Geschehnisse, wie etwa das Wirken Jesu von Nazareth in Galiläa und Judäa oder die Missionstätigkeit des Paulus im östlichen Mittelmeerraum, ereignen sich in einem Handlungsraum, der durch die sozialen, religiösen und politischen Vorstellungen des antiken Judentums in hellenistisch-römischer Zeit bestimmt ist.

      Der Begriff „antikes Judentum“ bezeichnet die ethnisch-religiöse Gemeinschaft der Juden in hellenistisch-römischer Zeit, d. h. von den Eroberungen Alexanders des Großen, der im Jahr 332 v. Chr. Jerusalem erreichte, bis zur islamischen Expansion, in deren Zuge Jerusalem im Jahr 637 n. Chr. dauerhaft in sarazenisch-islamische Herrschaft gelangte. Als alternative Epochenbezeichnung wird auch vom „Judentum des Zweiten Tempels“ gesprochen. Damit wird die Zeit zwischen 539 v. Chr. und 70 n. Chr. bezeichnet. Im Jahr 539 v. Chr. übernahm der Perserkönig Kyros im Zweistromland die Macht. Er erlaubte den nach Babylonien deportierten Israeliten/Judäern die Rückkehr nach Jerusalem und ermöglichte ihnen den Bau des „zweiten“ Tempels, des Tempels von Esra und Nehemia. Die wechselvolle Geschichte des zweiten Tempels endet im Jahr 70 n. Chr. In diesem Jahr wurde dieser Tempel im Verlauf von militärischen Auseinandersetzungen zwischen den römischen Truppen unter Titus und den in sich zerstrittenen judäischen Verteidigern zerstört. An diese Epoche schließt sich dann die Zeit des rabbinischen Judentums an. Die Rabbinen repräsentieren eine Form des Judentums, die nach dem Wegfall des Tempels die Diskurse um die religiös-ethnische Verfassung, die Tora bzw. das Gesetz, in das Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses rückte.2

      Die quellensprachliche Bezeichnung gr. Ioudaios (Ἰουδαῖος) für „Jude“ hat eine starke ethnisch-geographische Komponente und bezeichnet Personen, die sich nach Herkunft, Lebensweise, Kult, Rechts- und Gemeinschaftsvorstellungen auf die Bevölkerung der Landschaft Judäa zurückführen.3 Aus diesem Grund wird für eine deutsche Übersetzung alternativ zu Jude/Jüdin, eine Bezeichnung, die die religiöse Komponente und damit die selbstgewählte Lebensweise hervorhebt, auch von Judäer/Judäerin gesprochen. Der letztgenannte Begriff will verdeutlichen, dass die Juden als Judäer unter ethnischen und politischen Gesichtspunkten ein Volk sind wie Ägypter, Griechen und Römer, während die Bezeichnung „Jude“ die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gemeinschaft hervorhebt und damit die Vorstellung von einer selbstgewählten Lebensweise in den Mittelpunkt stellt.

      In der Forschung ist die Frage umstritten, inwiefern und ab wann mit „Jude“ eine selbstgewählte Lebensweise bezeichnet wird. Cohen sieht ein solches Auseinandertreten der ethnischen und der religiösen Komponenten in Folge der Makkabäeraufstände nach 167 v. Chr.4 Ab diesem Zeitpunkt ist man nicht mehr einfach nur Jude aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit, sondern aufgrund der Wahl einer Lebensweise, die sich am religiös-ethnischen Gesetz, das auch als väterliche Überlieferungen (gr. patrioi nomoi; πατρίοι νόμοι) bezeichnet wird, orientiert. Mit diesem Zurücktreten der ethnischen Komponente setzt zudem eine Diversifizierung des Judentums ein. In dieser Zeit kommt der Begriff Ioudaismos auf (gr. Ἰουδαϊσμός). Im zweiten Makkabäerbuch wird von der Selbstbehauptung einer später dominanten Gruppe von Judäern, den Makkabäern, berichtet, die mit Ioudaismos das selbst gewählte aktive Eintreten für die Anliegen des Judentums bis hin zum Aufstand oder zum Martyrium bezeichneten:

      2Makk 2,21: (Bericht über …) die Erscheinungen, die vom Himmel her zugunsten derjenigen geschahen, die tapfer und ehrbar für das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) eintraten, damit sie, obwohl sie nur wenige waren, in die Lage versetzt würden, das ganze Land zur Beute zu machen und die Menge der Barbaren (Nichtjuden) zu verfolgen.

      2Makk 8,1: Judas aber, der auch Makkabäer (hieß), und diejenigen, die mit ihm verborgen in die Dörfer eingedrungen waren, riefen ihre Verwandten und, nachdem sie diejenigen, die auf das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) bedacht waren, hinzugenommen hatten, brachten bis zu 6000 (Männer) zusammen.

      2Makk 14,37 f.: Razis aber, einer der Jerusalemer Ältesten […] auch „Vater der Juden“ genannt, wurde bei Nikanor (ein Vertrauter des seleukidischen und damit nichtjüdischen Königs Antiochos IV.) angezeigt, denn er war in den vorherigen Zeiten der Verfolgung wegen des Anliegens des Judentums (Ioudaismos) vor Gericht gezogen worden, und hatte Leib und Seele für das Anliegen des Judentums (Ioudaismos) mit voller Entschiedenheit eingesetzt.

      Ioudaismos,