zu einem hohen Prozentsatz überschneiden. Beide Zugangsweisen bedürfen aber auch einer Reflexion ihrer Werturteile, Deutungskonstanten und Konzeptualisierungen, mit denen sie über die Auswahl, Akzentuierung, Hervorhebung und Einordnung der Sachverhalte, über die sie berichten, entscheiden. Auch an diesem Punkt differieren religionsgeschichtliche, religionswissenschaftliche, kulturwissenschaftliche und theologische Zugänge nicht grundsätzlich voneinander.
Eine Theologie des Neuen Testaments konzentriert sich darauf, das theologische Denken und dessen sprachliche Ausdrucksformen in den neutestamentlichen Schriften herauszuarbeiten und auf eine Weise methodisch zu analysieren, die es ermöglicht, dass sie unter den Verstehensbedingungen der Gegenwart nachvollziehbar werden.
1.6Theologie als „Meistererzählung“
Die Vielfalt des Neuen Testaments stellt vermutlich Joachim Gnilka am deutlichsten heraus. Aus den unterschiedlichen „Glaubenserfahrungen“, die im Neuen Testament dokumentiert seien, gingen unterschiedliche Theologien hervor. Der „Auslegungsprozess“ habe daran anzuknüpfen und damalige Glaubenserfahrungen mit gegenwärtigen Glaubenserfahrungen zu konfrontieren (464). Eine solche Sicht der Vielfalt, die die verschiedenen Positionen unverbunden nebeneinander stehen lässt und keinerlei Versuche unternimmt, gedankliche und theologische Zusammenhänge herzustellen, wirkt beliebig. Deswegen verwundert es nicht, dass weiterhin nach der Einheit in der Vielfalt der Theologien des Neuen Testaments gefragt wird. Hier sind vor allem drei Autoren zu nennen, die bei den Überlegungen zur Theologie des Neuen Testaments in der Gegenwart besondere Aufmerksamkeit verdienen: Udo Schnelle, James Dunn und Nicholas Thomas Wright.
Schnelle verbindet die Erwartungen, die sich an eine Theologie des Neuen Testaments richten, mit theoretischen Überlegungen, die er in der Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Kulturwissenschaft entwickelt hat. Für ihn repräsentieren die Schriften des Neuen Testaments Sinnsysteme, die sich durch Transformationen ausgehend von Jesus von Nazareth über Paulus, die synoptischen Evangelien, Johannes und die übrigen Schriften an die jeweiligen Abfassungsverhältnisse angepasst und doch je für sich signifikant eigene Sinnangebote gemacht haben. Schnelle urteilt wie Theißen, dass das Johannesevangelium einen Höhepunkt darstelle. Er formuliert, indem er Aussagen des Kulturwissenschaftlers Jörn Rüsen über die „Meistererzählung“ (engl. master narrative) zitiert: „Das Johannesevangelium stellt den Höhepunkt frühchristlicher Theoriebildung dar und gehört zu den ‚Meistererzählungen‘, die Menschen ‚eine Vorstellung von ihrer Zugehörigkeit, ihrer kollektiven Identität, vermitteln: nationale Begründungs- und Erfolgsgeschichten, religiöse Heilsgeschichten‘“ (707). Das Neue Testament als Erzählung könne durch die Betrachtung seiner Vielfalt und Kohärenz einerseits und seiner Sinnleistungen und Transformationen andererseits damals und auch heute ein in sich überzeugendes Sinnangebot sein, das vom Handeln Gottes in Jesus Christus berichte und die „Jesus-Christus-Geschichte“ nacherzähle (25–29). In der Durchführung seiner Wissenserzählung folgt Schnelle allerdings weitgehend den traditionellen theologischen Topoi in Anlehnung an die Artikel des Apostolikums, indem er für jede neutestamentliche Schrift schematisch die theologischen Positionen zu Theologie, Christologie, Pneumatologie, Soteriologie, Anthropologie, Ethik, Ekklesiologie und Eschatologie behandelt (45). Die neutestamentlichen Überlieferungen werden mit wenigen Ausnahmen (Jud, 2Petr) durch diese Vorgehensweise unter Fragestellungen ausgewertet, zu denen sie zum Teil selbst gar nichts beitragen möchten, etwa wenn auch die Logienquelle auf ihre Ekklesiologie befragt wird.
So entsteht eine zwar kulturwissenschaftlich gerahmte, inhaltlich aber doch geradezu dogmatisch strukturierte Theologie des Neuen Testaments. Sie gesteht die eigene Perspektivität und Standortgebundenheit ein (28), leitet daraus aber die Berechtigung zu einer entschiedenen Positionalität ab, die nur gelegentlich kritisch und selbstreflexiv in die Vielfalt der Forschungsmeinungen eingeordnet wird. Die plurale Situation der internationalen neutestamentlichen Wissenschaft der Gegenwart erfordert es aber, die eigene Position als Teil der Vielfalt von Forschungsmeinungen zu analysieren und zu reflektieren.
Dunns Idee des Theologisierens („theologizing“) schlägt einen eher pragmatischen Umgang mit dem Neuen Testament vor: Eine finale Botschaft oder Mitte des Neuen Testaments gebe es zwar nicht, aber immerhin setze der Kanon des Neuen Testaments seiner inneren Vielfalt auch Grenzen (9). „Glaube“ und „Gott“ seien zentrale Themen des Neuen Testaments, sodass eine Religionsgeschichte, die diese Themen meide, keine angemessene Alternative sei. Für Dunn sind trotz der Vielfalt alle neutestamentlichen Schriften auf Jesus Christus ausgerichtet und es existiere ein „substantielles Kontinuum“ von der impliziten Christologie Jesu von Nazareth zur expliziten Christologie der neutestamentlichen Schriften (156 f.). Der Gegenwartsbezug sei durch einen Prozess des Theologisierens („Doing NT-theology“ oder „theologizing“) gegeben, der bereits im Neuen Testament stattfinde und den jeder Leser des Neuen Testaments wahrnehmen und selbst weiterführen könne (16 f.).
Die Kontinuität, die Dunn betont, wird auch in den Arbeiten von Wright hervorgehoben, dort aber noch deutlicher zu einer großen Gesamtgeschichte, einer Art Meistererzählung der einen Theologie der Bibel geformt, in den Worten Wrights: Dem „einen-Plan-durch-Israelfür-die-Welt“.5 Aus der Perspektive der deutschsprachigen Theologie scheint es, dass Wright das Anliegen Cullmanns, eine Theologie des Neuen Testaments als Heilsgeschichte zu konzipieren, aufgenommen und energisch durchgeführt hat. Hinter den Schriften des Neuen Testaments steht nach Wright vor allem eine große Erzählung („story“): Die Realisierung von Gottes Plan in der Schöpfung über den Bund mit seinem Volk Israel und über das neue Volk des Messias aus Heiden und Juden bis hin zum Gericht beweise die Treue Gottes zu sich selbst und zu seiner Schöpfung. Für Wright ist die Christologie demnach ein wichtiger, aber ein dem Heilswillen Gottes und seiner Treue klar untergeordneter Aspekt der Erzählung („story“), die das Neue Testament überliefert.
In der Konzeption Wrights wird zwar keine Mitte des Neuen Testaments definiert, aber es werden doch alle Teile einem Ganzen zugeordnet. Diskontinuitäten in der biblischen Meistererzählung gibt es keine, allerdings dramatische Spannungen, die nach der einen Lösung in der Liebe Gottes drängen. Wright nutzt damit konsequent die Stärken einer narrativen Theologie, die es vermag, Gegensätze und Konflikte zu thematisieren und diese dann auch in einer Art dramatischer Katharsis aufzulösen. Wrights These von der einen großen Geschichte Gottes geht aber über vieles hinweg, was der näheren Erörterung bedurft hätte. Detaillierte, selbstreflexive und kritische Argumentationen sind selten. Die Überzeugungskraft wird vielmehr aus einer intensiven Rhetorik mit zahlreichen suggestiven Ausdrucksformen gewonnen. Wright scheut sich auch nicht, in seinen Publikationen den Stil der neutestamentlichen Schriften zu imitieren und die eigenen Aussagen mit diesen auf eine Weise zu verschmelzen, die zu der Suggestion führt, dass durch Wright zumindest Paulus, wenn nicht gar Gott selbst spricht.
Die gegenwärtigen Entwürfe zur Theologie des Neuen Testaments nutzen die Möglichkeiten, die Wissenserzählungen bieten. Diejenigen Sachverhalte, die Bultmann und anderen als unvereinbare sachliche Gegensätze erschienen, können als Teil eines dramatischen Geschehens (Wright, teilweise Dunn) oder aber als Teil einer komplexen identitätsbildenden Meistererzählung (Schnelle) sinnbildend integriert werden. Die Theologie des Neuen Testaments ist damit nicht mehr ein Unternehmen, das Göttliches von Menschlichem scheidet und das die eine unverrückbare ewige Wahrheit formuliert (Gabler). Vielmehr ist eine Theologie des Neuen Testaments das Ergebnis der Auseinandersetzung um die Frage, welche grundlegenden, gemeinschaftsbildenden und identitätsstiftenden Überzeugungen in den ältesten Texten des Christentums formuliert sind und wie sie in den gegenwärtigen Debatten des theologizing/Theologisierens (Dunn) wissenschaftlich reflektiert verwendet werden können.
Die Entwürfe zur neutestamentlichen Theologie in der Gegenwart lassen sich demnach in etwa nach drei Richtungen unterscheiden:
a)„Theologische“ Theologien des Neuen Testaments wählen als Deutungskonstante der exegetischen und historischen Befunde die Korrespondenz zwischen der Selbstmitteilung Gottes (Offenbarung), den biblischen Schriften und den Erwartungen der Glaubenden der Gegenwart. Sie bewegen sich in der