zu motivieren? Die mörderischen Schlachten des Ersten Weltkriegs wurden auch als eine Niederlage des Christentums empfunden und forderten eine Neuorientierung in der Evangelischen Theologie heraus.
Die genannten Erfahrungen prägten auch die wissenschaftliche Arbeit von Rudolf Bultmann (1884–1976). Er entfaltete, beeindruckt von der dialektischen Theologie Karl Barths (1886–1968) und der Fundamentalontologie Martin Heideggers (1889–1976), in seiner neutestamentlichen Exegese die Überzeugung, dass Theologie vor allem auf den modernen Menschen ausgerichtet sein müsse. Dieser war für Bultmann dadurch charakterisiert, dass er in seinen Überzeugungen einerseits rational mit dem naturwissenschaftlichen Weltbild übereinstimmte und andererseits innerhalb dieser Vorgaben sein Leben in freier Entscheidung sinnvoll gestalten wolle. Eine Theologie des Neuen Testaments habe diesen modernen Menschen und dessen Selbstverständnis herauszufordern und mit dem Selbstverständnis zu konfrontieren, das dem Neuen Testament zugrunde liege. Bultmann interpretierte dementsprechend die Verkündigung Jesu als „Forderung“ und „Ruf in die Entscheidung“ (8), ohne unmittelbar zu klären, was das Ziel dieser Entscheidung oder der Inhalt dieses Rufs sei. Vielmehr entsprächen diese in ihrer Struktur der fundamentalen Verfasstheit des Menschen an sich, der sein Leben als Vollzug oder Verfehlung der Entscheidung zum je eigenen Menschsein führe. Die Theologie des Paulus galt Bultmann „zugleich“, wenn nicht gar vorrangig, als „Anthropologie“ (187), die die Grundstrukturen wie auch die Widersprüche der menschlichen Existenz als solche offenlege. Die johanneische Theologie wiederum war für ihn das Angebot an den Menschen, sich in der Krise seiner Existenz gegen die Welt und für den Glauben zu entscheiden und so die „Entweltlichung“ als „Übergang in die eschatologische Existenz“ zu vollziehen (424). Tatsächlich gelang es Bultmann, die Diskussion um die Theologie des Neuen Testaments im 20. Jh. auf die Frage zu konzentrieren, was Jesus, Paulus und Johannes dem modernen Menschen des 20. Jh. zu sagen haben.
So wie die neutestamentliche Theologie Baurs ihre Überzeugungskraft nicht aus der Exegese, sondern aus der Verbindung mit der breiten Bewegung des Hegelianismus seiner Zeit gewann, so war Bultmanns Theologie des Neuen Testaments auch deswegen so wirkungsvoll, weil sie die durch die Existenzphilosophie bestimmte Erwartung ihrer Zeit zu erfüllen wusste. Bultmann stellte wie Martin Buber (1878–1965), Karl Jaspers (1883–1969), Martin Heidegger und schließlich auch Jean-Paul Sartre (1905–1980) den Menschen und nicht philosophische Systeme oder abstrakte Begriffe in den Mittelpunkt. Die Bindung der neutestamentlichen Theologie an die philosophischen Einsichten ihrer Zeit gehört zu den Besonderheiten der protestantischen Theologie in Deutschland, die ihre Anziehungskraft ausmachte, aber auch Ablehnung provozierte.
Die theologischen und philosophischen Annahmen Bultmanns wurden in der systematischen Theologie und in der Religionsphilosophie weiterverfolgt. Die neutestamentliche Forschung im engeren Sinn hingegen diskutierte vor allem die exegetisch-historischen Urteile Bultmanns. Auf geradezu einhellige Ablehnung stieß Bultmanns Entscheidung, die Verkündigung Jesu nur als Voraussetzung, nicht aber als Teil einer Theologie des Neuen Testaments zu betrachten (1). Bultmann machte mit dem historischen Diktum von Julius Wellhausen (1844–1918) ernst, dass Jesus kein Christ, sondern Jude gewesen und geblieben sei. Er stellte demgegenüber heraus, dass die Botschaft des Neuen Testaments, das „Kerygma“ (gr. für Botschaft), auf dem Glauben beruhe, der „Jesus Christus als eschatologische Heilstat […], und zwar Jesus Christus, den Gekreuzigten und Auferstandenen“ bekenne (1). Glaube habe ohne Kreuz und Auferstehung keine Grundlage. Somit könne die Verkündigung Jesu, die ja nach Bultmann weder den Kreuzestod noch die Auferstehung enthalten habe, nicht Teil einer Theologie des Neuen Testaments sein. Bultmann bestimmte mit dem Kerygma ein Kriterium, das ihm dazu diente, innerhalb des Neuen Testaments das theologisch Bedeutsame herauszustellen und weniger relevante religiöse Vorstellungen zu kritisieren. Er nannte dieses Vorgehen theologische Sachkritik.
Bultmann definierte zum ersten Mal konsequent eine bestimmte theologische Vorstellung, nämlich das Kerygma von Kreuz und Auferstehung Christi, als normative Mitte einer Theologie des Neuen Testaments. Aussagen innerhalb des Neuen Testaments, die von dieser Mitte abwichen, etwa die Verkündigung Jesu, bewertete er kritisch (theologische Sachkritik).
So klar dieser Standpunkt formuliert ist, so widersprüchlich erscheint er zum einen angesichts Bultmanns eigener Interpretation der Verkündigung Jesu als Ruf in die Entscheidung und zum anderen angesichts der Darstellung Jesu als Messias in den Evangelien selbst. Auch nach Bultmann trat Jesus auf, um Gottes letzten Ruf vor dem Ende zu formulieren (8). Selbst wenn er Jesus „nur“ als den endzeitlichen Propheten Gottes versteht, reicht dies nicht als Begründung aus, um die prophetische Verkündigung des Reiches Gottes durch Jesus von Nazareth, seine Forderung nach einer dem Reich Gottes korrespondierenden Gerechtigkeit und den damit verbundenen Umkehrruf aus einer Theologie des Neuen Testaments auszuschließen.
In der Diskussion um Bultmanns Theologie spielte allerdings die mögliche Bedeutung der unchristologischen Verkündigung Jesu für eine Theologie des Neuen Testaments kaum eine Rolle. Vielmehr wurde gegen Bultmanns Vorstellung eines unmessianischen Jesus die Theorie einer sogenannten impliziten Christologie vorgebracht. Jesus habe sich zwar nicht explizit als Christus bzw. Messias bezeichnet, aber doch Worte gesprochen und symbolische Handlungen vollzogen, die sein gehobenes Selbstbewusstsein, ja sein Selbstverständnis als Messias, notwendig voraussetzen d. h. implizieren. Diese vermeintlich implizite Christologie wurde von Ernst Käsemann (1906–1998) und Günther Bornkamm (1905–1990) zu Jesusinterpretationen verdichtet, die Jesus scharf von seiner jüdischen Umwelt abgrenzten. Bis heute tendieren Jesusdarstellungen, die eine solche implizite Christologie herausarbeiten wollen, dazu, die Behauptung der Besonderheit, ja Exklusivität Jesu mit dem Nachweis zu verbinden, dass das antike Judentum auf irgendeine Weise eine defizitäre Religion gewesen sei oder sich zumindest in einer grundsätzlichen Krise befunden habe.
Die Einbeziehung der Verkündigung Jesu in eine Theologie des Neuen Testaments sollte nicht mit dem Nachweis einer impliziten Christologie begründet werden, sondern vielmehr davon ausgehen, dass die im Neuen Testament enthaltene Jesusüberlieferung aussagekräftig genug ist, um Jesu Verständnis von Gott, Welt und Mensch darstellen zu können.
Neben diesem Gesichtspunkt provozierte auch Bultmanns Akzentuierung der historischen Diskontinuität zwischen den frühchristlichen Gruppierungen und den Überzeugungen der neutestamentlichen Schriftengruppen. Für Bultmann galten die synoptischen Evangelien als mythologische Erzählungen und stellten einen Rückschritt hinter Paulus dar. Sie verdienten seiner Ansicht nach keine nähere Erörterung in einer Theologie des Neuen Testaments. Das Johannesevangelium hingegen sei auf theologisch sachlicher Ebene mit Paulus zumindest gleichwertig. Die Synoptiker, Paulus und Johannes seien aber doch voneinander weitgehend isolierte Phänomene (356). Ein systematischer Zusammenhang einer Theologie aller Schriften des Neuen Testaments existiere nicht. Bultmann stellte vielmehr eine diskontinuierliche Entwicklung der Theologie des Neuen Testaments fest, die von historischen und religionsgeschichtlichen Umständen, letztlich auch von Zufällen und kontingenten Ereignissen bestimmt sei.
Viele der auf Bultmann folgenden Theologien des Neuen Testaments bemühten sich hingegen darum, die Zusammenhänge und Verbindungen zwischen den neutestamentlichen Schriften und den hinter ihnen stehenden Gedanken und Bekenntnissen herauszuarbeiten oder eine theologische Mitte bzw. Einheit zu definieren. Joachim Jeremias (1900–1979) wollte die Theologie des Neuen Testaments ganz und gar auf die Verkündigung Jesu gründen. Es sei möglich die Theologie aus den ureigenen Worte Jesu, „ipsissima vox Jesu“ (39), zu entfalten. Diese Worte enthielten mit dem aramäischen „Abba“ als Ausdruck der „Einzigartigkeit der Gottesanrede Jesu“ und einer intimen Vaterbeziehung zu Gott „das letzte Geheimnis der Sendung Jesu“ (73). Jeremias’ Werk blieb Fragment, ebenso wie der Entwurf von Leonhard Goppelt (1911–1973), der auf eigene Weise „Jesu Wirken in seiner theologischen Bedeutung“ als Grundlage der gesamten Theologie des Neuen Testaments verstand (52 f.). Im englischen Sprachraum publizierte George Eldon Ladd (1911–1982) eine, wie er meinte, „deskriptive“ (XI) Theologie des Neuen Testaments. Er setzte sich mit diesem Werk für die Akzeptanz einer gemäßigten historischen Bibelkritik in der evangelikalen Theologie ein, kam aber regelmäßig in seinen exegetischen und historischen Entscheidungen den Erwartungen einer theologisch konservativen oder evangelikalen Leserschaft entgegen. In beständiger kritischer Auseinandersetzung mit Bultmanns Ansichten urteilte Ladd etwa,