Lukas Bormann

Theologie des Neuen Testaments


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kritisch bewertet wurde. Cicero berichtet von einem Edikt des Statthalters der römischen Provinz Asia aus dem Jahr 62 v. Chr., das den Export von „Gold der Juden“ (d. i. Tempelsteuer) verboten habe.30 In diesem Zusammenhang erwähnt Cicero auch, dass in Laodikeia zwanzig Pfund Gold eingezogen wurden, was einer jüdischen Bevölkerung in der Gegend um diese Stadt von etwa 10.500 personenrechtlich freien jüdischen Männern entspricht.

      Der Jerusalemer Tempel ist das zentrale Heiligtum des Judentums, an dem eine mit dem Volk verbundene Priesterschaft die kultischen Dienste verrichtet. Das tägliche Opfer wie auch die umfangreichen kultischen Handlungen an den Festen unterstreichen die religiöse, soziale, politische, aber auch wirtschaftliche Bedeutung des Tempels. Das Disporajudentum ist durch die Tempelsteuer ebenfalls in die durch den Tempel konstiuierten inneren Beziehungen des antiken Judentums eingebunden. Der Tempel gilt als der Ort, an dem Gott seine Präsenz zugesagt hat. Vor allem diese Vorstellung führt dazu, dass kultische Begriffe metaphorisiert verwendet und auf andere religiös bedeutsame Sachverhalte übertragen werden.

      Seit dem babylonischen Exil waren in Mesopotamien und Ägypten zwei Diasporagruppen entstanden. Die nach dem Alexanderzug sich auch über Kleinasien, Syrien und Ägypten ausbreitende hellenistische Weltkultur, das ptolemäische und das seleukidische Reich ermöglichten und förderten zum Teil die Ansiedlung von Judäern außerhalb des judäischen Kerngebietes. Die Forschung beziffert die judäische Bevölkerung in Palästina im 1. Jh. n. Chr. auf etwa 800.000 bis eine Million Einwohner. Philo nennt für Alexandria und Ägypten ebenfalls die Zahl Eine Million und spricht davon, dass etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung Alexandrias jüdisch gewesen sei.31 Die Angaben Philos sind wohl übertrieben. Da die Einwohnerzahl Alexandrias in dieser Zeit in der Forschung nur auf etwa 300.000 bis 500.000 geschätzt wird, wären davon ein Viertel doch eher ca. 100.000 Juden. Weiterhin belegen Inschriften und literarische Quellen jüdische Bewohner der an Palästina angrenzenden Provinzen Syrien und Kilikien. Für Kleinasien überliefert Josephus einen Brief des Antiochos III (223–200 v. Chr.), in dem dieser die Anweisung erteilt, „2000 jüdische Haushalte” von Mesopotamien nach Lydien und Phrygien umzusiedeln, ihnen Land zu geben und ihnen die Befolgung ihrer eigenen Gesetze zu erlauben.32 Von diesen 2.000 im 3. Jh. v. Chr. umgesiedelten Familien stammen vermutlich auch die bereits oben genannten ca. 10.500 steuerpflichtigen jüdischen Männer des 1. Jh. v. Chr. ab, die in der Gegend um Laodikeia lebten. Auch Philo erwähnt, dass in Kleinasien und Syrien „Juden in großer Zahl in jeder Stadt“ lebten.33 Weitere Hinweise lassen sich aus Einzelnachrichten entnehmen, wie etwa die Information, dass Herodes der Große Abgaben kilikischer Kleinstädte übernommen habe, oder die Aufzählung judäischer Kolonien (gr. apoikia; ἀποικία) in Pamphylien und Kilikien durch Philo.34 Auf Philo geht auch die Aussage zurück, die Juden Judäas hätten den römischen Statthalter von Syrien gewarnt, dass die Missachtung des jüdischen Religionsgesetzes zu Aufständen der Juden weltweit führen könnte. Sie tragen vor:

      Philo, Gai. 215: Wäre es nicht höchst gefährlich, diese Massen (der Juden in Palästina und in der Diaspora) zu Feinden zu machen? Ach, nie geschehe es, dass sie, nachdem sie sich verbündet hätten, von allen Seiten zur Vergeltung vorrückten.

      Die zahlreichen literarisch und inschriftlich belegten jüdischen Einzelpersonen und Gemeinden in der Antike lassen sich nur schwer zusammenfassen. Versuche, eine Gesamtzahl zu bestimmen, sind naturgemäß ungenau. Es ist jedenfalls mit einer eher städtisch orientierten Bevölkerung zu rechnen, die sich vor allem im Osten des Mittelmeerraums konzentriert. Wenn man zugrunde legt, dass ca. 20 % der Bevölkerung im Mittelmeerraum in Städten lebten und dass sich die jüdische Bevölkerung außerhalb Palästinas überwiegend ebenfalls in Städten ansiedelte, dann kann man unter Einbeziehung der Zahlen aus Alexandria und Palästina auf einen Bevölkerungsanteil von 2 bis 5 % im römischen Reich kommen. Die Frage, ob dieser große Bevölkerungsanteil allein auf natürliches Bevölkerungswachstum oder auch auf Mission und Ausbreitung des Judentums unter Nichtjuden zurückgehen kann, ist umstritten. Eine organisierte Mission ist nicht nachzuweisen (vgl. Mt 23,15), allerdings ging von den Formen jüdischen Lebens in der Diaspora auch eine Anziehungskraft aus. Josephus berichtet z. B., dass in Antiochien die Synagoge so attraktiv gewesen sei, dass „eine große Menge der Griechen zu ihren (der Juden) Gottesdiensten“ gekommen sei.35

      Die Sprache des Diasporajudentums war Griechisch, ihre Bibel die Septuaginta, die aber nicht einfach als Übersetzung galt, sondern selbst als inspirierte Schrift betrachtet wurde.

      Aristeasbrief 310: Da gut und fromm und sehr genau übersetzt worden ist, ist es gut, dass sie so erhalten bleibe und keinesfalls eine Überarbeitung erfolge.

      Das jüdische Leben der Diaspora kam ohne Opfer aus. Die Nähe zu Gott wurde vor allem in der Befolgung der Tora, ihrer Lesung im Synagogengottesdienst und im Gebet gesucht. Es ist nicht ganz klar, ab wann und auf welche Weise das Synagogengebäude bzw. der Ort der Gebetszusammenkunft als sakraler Ort verstanden wurde. Nach Levine leitet sich die Synagoge aus dem Tor der jüdischen Stadt ab, in dem Recht gesprochen wurde und wo sich die Ältesten versammelten.36 In der Diaspora fiel das Stadttor für die jüdische Minderheit als Versammlungsort aus. Die Synagoge trat an ihre Stelle als soziales und rechtliches Zentrum. Die religiöse Funktion als Ort des Gottesdienstes und Gebets habe sich später etabliert und die Vorstellung der Sakralität der Synagoge sei erst durch die Präsenz der Torarolle entstanden, deren Heiligkeit auf das jeweilige Gebäude übertragen worden sei.

      Andere Theorien leiten hingegen die Synagoge als Gebetsstätte aus der ägyptischen Diaspora ab, die das Vorbild aus ihrer Umwelt übernommen habe, und betonen den ursprünglich religiösen Charakter. Das Zentrum jüdischen Lebens in der Diaspora stellte jedenfalls die Synagogengemeinschaft dar, die sich als „Personengemeinschaft“ (gr. politeuma; πολίτευμα) versteht und sich an einem Ort versammelt, der im Griechischen meist mit „Gebetsstätte“ (gr. proseuche; προσευχή) bezeichnet wird. Im ersten Jahrhundert n. Chr. existierten in der Diaspora bereits einige repräsentative Synagogengebäude. Oft wurden jedoch Privathäuser für die Synagogenversammlung genutzt. Das Bild, das Lk 4,16–30 von der Synagoge in Nazareth zeichnet, scheint hingegen unhistorisch zu sein. Lukas überträgt die Verhältnisse der Diaspora der Jahre 80–90 n. Chr. auf das Galiläa der 30er Jahre. Im Nahbereich des Jerusalemer Tempels, d. h. in Judäa, sind Gebäude, die als Synagogen interpretiert werden können, nur für jüdische Sondergruppen belegt. Erst nach der Tempelzerstörung entstehen in größerem Ausmaß auch Synagogengebäude in Judäa und besonders in Galiläa.

      Das Judentum hatte sich ab dem sechsten Jahrhundert v. Chr. über andere Länder verteilt. Dieses sogenannte Diasporajudentum blieb an die Zentren jüdischen Selbstverständnisses in Palästina, besonders an die Stadt Jerusalem und den Tempel, rückgebunden. Es brachte aber auch eigenständige religiöse und kulturelle Institutionen hervor, wie etwa die Synagoge, die Tempelsteuer, Bibelübersetzungen, religiöse Literatur in Griechisch und die Auseinandersetzung mit hellenistischen Denk- und Lebensweisen.

      Die religiösen Sondergruppen haben sich im Zuge eines Prozesses der inneren Diversifizierung des Judentums des Zweiten Tempels gebildet. Pharisäer, Sadduzäer, Essener und weitere Gruppierungen werden von Josephus als Sekten oder Sondergruppen (gr. hairesis; αἵρεσις) des Judentums und ihre Mitglieder als Sektierer, Anhänger (gr. hairetistai; αἱρετισταί) bezeichnet.37 Philo macht uns mit zwei Gruppierungen vertraut, die sich ebenfalls als Sondergruppen von der Mehrheit abgrenzen. Er nennt zum einen die Essaier oder Essener (gr. Essaioi; Ἐσσαίοι), die eine praktische und aktive Lebensführung bevorzugen, und zum anderen die „Therapeuten und Therapeutinnen“ (gr. therapeutai; θεραπευταί), die sich gemäß ihrer „Lebensweise als Philosophen“ mit dem beschaulichen Leben (gr. theoria; θεωρία) befassen.38

      In den Textfunden von Qumran begegnet eine Klasse von Texten, die eine weitere Sondergruppe vorstellt, die sich als „Gemeinschaft“ (hebr. yahad; יחד) in Abgrenzung von der Mehrheit