Lukas Bormann

Theologie des Neuen Testaments


Скачать книгу

(Mk 6,14–16; Lk 13,1 f.; 23,5.25; Joh 19,12; Apg 5,36 f.; 21,38).

      Die Lebendigkeit und Vielfalt des antiken Judentums wirken sich auch auf die Ausbildung der Christologie aus. Dunn hebt hervor, dass die frühe Christologie „mit der Reflexion der Gottesvorstellungen des Judentums des Zweiten Tempels übereinstimmt und zu ihr gehört“.51 Es ist sinnvoll, diesen Gedanken nicht auf die Anfänge zu beschränken, sondern auf die weitere christologische Entwicklung auszuweiten. Die Christologie ist Ausdruck der energischen Auseinandersetzung um die Frage, in welcher Beziehung Gott zu Israel und zur Menschheit steht.52

      Dabei ist zu beachten, dass im antiken Judentum die Dezentrierung der monotheistischen Gottesvorstellung bereits weit fortgeschritten ist. Dezentrierung bezeichnet den Vorgang der Ausweitung der Gottesvorstellung von der einen Figur des handelnden und richtenden Gottes auf eine Vielfalt von räumlich und figürlich vorgestellten Handlungsräumen und -trägern des göttlichen Willens.53 Je transzendenter Gott selbst vorgestellt wird, desto zahlreicher werden die Vermittlungsinstanzen, die seinen Willen und seine Macht erfahrbar machen. Die räumlichen Vorstellungen über den Thronsaal Gottes und das himmlische Heiligtum waren zur Zeit Jesu bereits weit entwickelt. Dort begegnen himmlische Heerscharen, Engel, Erzengel und der Engel des Herrn. Die Sabbatopferlieder (4Q 400–407; 11Q17) stellen einen himmlischen Gottesdienst vor, der kosmische Dimensionen erreicht. In der aus diesen Texten zu erschließenden Liturgie verschmelzen die himmlische und die irdische Welt im Gottesdienst. Diese Hymnen berichten vom Zusammenströmen von Priestern und Engeln, gottähnlichen Wesen (hebr. elohim und elim) und weiteren Figuren unter der „Anweisung des Königs“.54

      Die Dezentrierung der Gottesvorstellung war im antiken Judentum in vollem Gang. Sie entwickelte sich während der Entstehung der neutestamentlichen Schriften weiter, ohne allerdings die Entscheidung des frühen Christentum zu übernehmen, dass der galiläische Jude Jesus von Nazareth nach seinem schmählichen Kreuzestod in diesen Thronraum Gottes erhöht worden sei und dort eine hervorragende Machtstellung „zur Rechten Gottes“ einnehme (Rezeption von Ps 110,1 in Röm 8,34; 1Kor 15,25; Eph 1,20; Kol 3,1).

      Diese Entscheidung, Jesus von Nazareth als wesentlichen Bestandteil des Thronraums Gottes, der als Macht- und Willenszentrum Gottes galt, zu verstehen, führt zu weiteren theologischen Reflexionen über Grundüberzeugungen des Judentums des Zweiten Tempels. Wright verweist etwa darauf, dass die Vorstellung der Rechtfertigung als Reflexion des Paulus über den Ort der Tora im bundestheologischen Denken zu interpretieren sei, „das Paulus kannte und als Basis seines fortdauernden Dialogs mit dem Judentum voraussetzte“.55

      Wenn es ein „Problem“ gab, auf das das antike Judentum keine angemessene Antwort gefunden hat – eine solche Fragestellung verbindet historische und normative Gesichtspunkte – dann wird man am ehesten davon sprechen können, dass das Judentum für Nichtjuden keine angemessene Stellung gefunden habe.56 Die Bedeutung der Nichtjuden für den Gott Israels und für das Judentum blieb eine offene Frage, deren Beantwortung zwar im Judentum selbst nicht als dringlich empfunden wurde, die aber dennoch auf eine überzeugende Antwort wartete.

      Ådna, Jostein: Jerusalemer Tempel und Tempelmarkt im 1. Jahrhundert n. Chr., Wiesbaden 1999 (ADPV 25).

      Austermann, Frank: Von der Tora zum Nomos. Untersuchungen zur Übersetzungsweise und Interpretation im Septuaginta-Psalter, Göttingen 2003 (AAWG.PH 3,257).

      Belayche, Nicole: Iudaea – Palaestina. The Pagan Cults in Roman Palestine, Tübingen 2001 (RRP 1).

      Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus 3, München 2010.

      Bormann, Lukas: Diversity by Rewriting. The Divine Characteristics as Part of the Identity Concept of Jewish Groups in Second Temple Judaism, in: Antti Laato/Jacques Van Ruiten (Hg.), Rewritten Bible Reconsidered, Winona Lake 2008 (SRB 1), 103–123.

      Ders.: Jüdische oder römische Perspektive? Neue Studien zum römisch dominierten Judäa – Ein kritischer Literaturbericht, in: ZRGG 61 (2009), 105–123.

      Ders.: Die neuere Monotheismusdebatte aus theologischer Sicht, in: ders. (Hg.), Schöpfung, Monotheismus und fremde Religionen. Studien zu Inklusion und Exklusion in den biblischen Schöpfungsvorstellungen, Neukirchen-Vluyn 2008 (BThSt 95), 1–35.

      Boyarin, Daniel: A Radical Jew. Paul and the Politics of Identity, Berkeley 1994.

      Buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim, Zürich 2006.

      Cohen, Shaye J.D.: From the Maccabees to the Mishnah, Philadelphia 1987.

      Dahmen, Ulrich: Psalmen- und Psalter-Rezeption im Frühjudentum. Rekonstruktion, Textbestand, Struktur und Pragmatik der Psalmenrolle 11QPsa aus Qumran, Leiden 2003 (STDJ 49).

      Davidson, Maxwell J.: Angels at Qumran. A Comparative Study of 1 Enoch 1–36, 72–108 and Sectarian Writings from Qumran, Sheffield 1992 (JSPES 11).

      Dunn, James D.G.: New Testament Theology. An Introduction, Nashville 2009.

      Fishbane, Michael (Hg.): The Midrash Imagination. Jewish Exegesis, Thought, and History, New York 1993.

      Freedman, David N.: The Unity of the Hebrew Bible, Ann Arbor 1991.

      García López, Félix: Art. תורה torah, in: ThWAT 8 (1995), 597–637.

      Gese, Hartmut: Die Sühne, in: ders., Zur biblischen Theologie, Tübingen ³1989, 85–106.

      Grözinger, Karl E.: Jüdisches Denken 2: Von der mittelalterlichen Kabbala zum Hasidismus, Frankfurt 2005.

      Jeremias, Jörg: Theologie des Alten Testaments, Göttingen 2015.

      Kaiser, Otto: Der Gott des Alten Testaments. Theologie des Alten Testaments 1, Göttingen1993.

      Krauter, Stefan: Bürgerrecht und Kultteilnahme. Politische und kultische Rechte und Pflichten in griechischen Poleis, Rom und antikem Judentum, Berlin/New York 2004 (BZNW 127).

      Levine, Lee I.: The Ancient Synagogue. The First Thousand Years, New Haven 2000.

      Lim, Timothy H.: Towards a Description of the Sectarian Matrix, in: Florentino García Martínez (Hg.): Echoes from the Caves. Qumran and the New Testament, Leiden 2009 (STDJ 85), 7–31.

      Mach, Michael: Concepts of Jewish Monotheism in the Hellenistic Period, in: Carey C. Newman (Hg.), The Jewish Roots of Christological Monotheism, Leiden 1999 (JSJ.S 63), 21–42.

      Marx, Alfred: Le système sacrificiel de P et la formation du pentateuque, in: Thomas Römer (Hg.), The Books of Leviticus and Numbers, Leuven 2008 (BETL 215), 285–303.

      Mason, Steve: Introduction to the Judean Antiquities, in: Louis H. Feldman, Judean Antiquities. Books 1–4, Translation and Commentary, Leiden 2000, XIII–XXXVI.

      Ders.: Jews, Judaeans, Judaizing, Judaism. Problems of Categorization in Ancient History, JSJ 38 (2007), 457–512.

      Neusner, Jacob: The Idea of History in Rabbinic Judaism, Leiden/Boston ²2004.

      Ders.: Judentum in frühchristlicher Zeit, Stuttgart 1988.

      Newman, Carey C. (Hg.): The Jewish Roots of Christological Monotheism, Leiden 1999 (JSJ.S 63).

      Niebuhr, Karl-Wilhelm: Heidenapostel aus Israel. Die jüdische Identität des Paulus nach ihrer Darstellung in seinen Briefen, Tübingen 1992 (WUNT 62).

      Räisänen, Heikki: The Rise of Christian Beliefs. The Thought World of Early Christians, Minneapolis 2010.

      Regev, Eyal: Temple and Righteousness in Qumran and Early Christianity. Tracing the Social Difference between the Two Movements, in: Ruth Clements (Hg.), Text, Thought, and Practice in Qumran and Early Christianity, Leiden 2009 (STDJ 84), 63–83.

      Sauer, Georg: Jesus Sirach (Ben Sira), Gütersloh 1981 (JSHRZ 3/5).

      Schnelle, Udo: Theologie des Neuen Testaments, Göttingen ²2014.

      Schofield, Alison: From Qumran to