Briefen als „Versammlung“ (gr. ekklesia; ἐκκλησία), „Versammlung Gottes“ oder „Versammlung Christi“ angesprochen werden (Phil 4,15; 1Kor 1,2; Röm 16,16). Unter diesen Gemeinschaften nehmen die von Paulus, dem Apostel der Völker, gegründeten Gemeinden als „Versammlungen der (nichtjüdischen) Völker“ wiederum eine Sonderstellung ein.40
Für die nähere Charakterisierung der religiösen Überzeugungen dieser Gruppen folge ich zunächst dem Schema, das Neusner entwickelt hat.41 Er beschreibt die Gruppen nach den Kriterien: soziale Zugehörigkeit, Binnenstruktur, sozialer Ort und Toraverständnis. Man kann erkennen, dass das Toraverständnis hier zum zentralen Kriterium bezüglich der religiösen Überzeugungen dieser Gruppen wird.
Tab. 1: Gruppen im Judentum zur Zeit Jesu
Schließlich wirkt auf die Binnenkommunikation des antiken Judentums auch das weitere soziale, kulturelle und politische Umfeld ein. Als nichtjüdische Ethnien in Judäa, Samaria und Galiläa sind zu nennen: Samaritaner (religiös definierte Ethnie); Samarier (Bewohner von Samaria); „Syrer“ (nichtjüdische Einwohner überwiegend in den Küstenstädten Caesarea, Tyrus, Sidon); Römer (Mitglieder der röm. Administration, Kaufleute, Soldaten) und „Griechen“ oftmals synonym mit „Syrer“ (Angehörige der hellenisierten Stadtbevölkerung).
Neusner konzentriert sich auf das Toraverständnis der oben genannten vier Gruppen. Eine nähere Untersuchung muss noch weitere Gesichtspunkte heranziehen, um der Vielfalt von Sondergruppen gerecht zu werden. Nach Cohen beginnt mit der Zeit der Makkabäer und damit ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. ein Prozess der Diversifizierung des Judentums, die er mit dem positiv konnotierten Begriff der „Demokratisierung der Religion“ näher kennzeichnet.42 Diese Sondergruppen grenzten sich von der Mehrheitsgemeinschaft des Judentums ab, ohne sich von dieser zu trennen. Vielmehr verstanden sie sich als elitäre Gruppen, in denen das Selbstverständnis der Mehrheitsgruppe besonders angemessen zum Ausdruck käme. Cohen schlägt folgende Definition vor:
„Eine religiöse Sondergruppe („sect“) ist eine kleine organisierte Gruppe, die sich selbst von der größeren religiösen Gemeinschaft abgrenzt und die Behauptung vertritt, dass sie alleine die Ideale der größeren Gruppe verkörpere, weil nur sie alleine den Willen Gottes verstehe.“43
In dieser Definition wird die religiöse Sondergruppe als eine Gemeinschaft definiert, die eine spannungsvolle Beziehung zur Mehrheitsgruppe aufrechterhält. Sie repräsentiert die Ideale, die eigentlich von allen wahrgenommen werden sollten, und folgt damit alleine dem Willen Gottes, womit ein bestimmtes Toraverständnis miteingeschlossen ist. Auf dieser Basis wird näherhin diskutiert, welche bestimmten Elemente zur Abgrenzung und welche zur Aufrechterhaltung der Beziehung zur Mehrheitsgruppe geeignet sind. Lim nennt in seinen Überlegungen zur Sondergruppenmatrix („sectarian matrix“) folgende Sachverhalte, die die Identität einer Sondergruppe innerhalb der weiten Grenzen des Judentums des Zweiten Tempels bestimmen: Trennung von der Mehrheit, besondere religiöse und ethische Überzeugungen, die Hervorhebung bestimmter biblischer Texte, zusätzliche religiöse Praktiken und Rituale.44 Vor diesem religionssoziologischen Hintergrund, der die ekklesia, d. h. die Sondergruppe der Christusanhänger im Kontext der jüdischen Sondergruppen des Judentums des Zweiten Tempels, versteht, sind auch die paulinischen Gemeinden zu analysieren. Diese kann man aufgrund einer ihrer exklusiven Besonderheiten, der Bereitschaft Nichtjuden aufzunehmen, ja geradezu anzuwerben, als Konversionsgruppe („conversionist group“) bezeichnen.45
Die Entwicklung des frühen Christentums ist nun nicht so vorzustellen, dass das antike Judentum zwar auf Jesus von Nazareth oder die erste Gemeinde eingewirkt habe, nach dem Auftreten Jesu aber eine christlich-neutestamentliche Binnenentwicklung eingesetzt habe. Ein solches Bild vermittelt z. B. Schnelle, wenn er behauptet, „dass Jesus einen ungeheuren Anspruch für seine Person erhoben hat, der von keinem Juden vor und nach ihm so gestellt wurde“.46
Der historische Gehalt dieser Aussage, dass kein Jude vor und nach Jesus solch hohe Ansprüche vertreten hätte, ist leicht zu widerlegen. Das Judentum kennt messianische Figuren wie z. B. Simon Bar Kochba (bis 135) oder Sabbatai Zwi (1626–1676), die sich im Gegensatz zu Jesus selbst als Messiasse proklamierten. Außerdem brachte es weitere herausragende religiöse Persönlichkeiten hervor. So wird vom Begründer des neuzeitlichen Chassidismus Israel Ben Eliezer, auch bekannt als Baal Schem Tov (ca. 1700–1760), und seinen Nachfolgern berichtet, dass ihnen die Dämonen untertan waren. Zudem bewirkten sie durch die mystische Verschmelzung mit Gott die Erlösung der Seelen ihrer Anhänger nach dem Tod und sicherten durch die Kraft ihrer eigenen Seelen den Bestand aller sieben Firmamente.47
Wichtiger als diese historische Relativierung der Aussage Schnelles in Blick auf das Judentum ist es aber, dem Eindruck entgegenzutreten, dass mit Jesus von Nazareth eine vom Judentum weitgehend abgeschottete eigenständige Entwicklung des Christentums begonnen habe. Jesus hätte demnach durch seinen „ungeheuren Anspruch“ eine implizite Christologie zum Ausdruck gebracht, die die „frühchristliche Theologiebildung“ durch Transformationen bis zu einer vollendeten Gestalt der „Jesus-Christus-Geschichte“ im Johannesevangelium entwickelt hätte.48 Eine solche im Kern autonome Entwicklung der Christologie bzw. Theologie des Neuen Testaments ist aber unwahrscheinlich. Vielmehr ist es so, dass jede Phase der neutestamentlichen und frühchristlichen Entwicklung zu den verschiedenen Formen des antiken Judentums in der jeweiligen historischen Epoche und geographischen Lage weiterhin unmittelbar und grundlegend in Beziehung steht. Die Jesusgemeinschaften werden demnach von den vielfältigen Formen des antiken Judentums auch nach Kreuz und Auferstehung Jesu weiterhin maßgeblich beeinflusst.
Etwa ab Mitte des 2. Jh. v. Chr. entstehen jüdische Sondergruppen, die sich zwar nicht vom Mehrheitsjudentum vollständig abspalten, aber doch die Vorstellung vertreten, dass sie die Ideale des Judentums am besten repräsentieren. Wichtige Formen und Bereiche, in denen Eigenständigkeit zum Ausdruck gebracht wird, sind: Separierung, besondere ethische Überzeugungen, Konzentration auf einige wenige biblische Aussagen, zusätzliche religiöse Praktiken und Rituale. Die ersten Gemeinschaften der Jesusanhänger sind ebenfalls als jüdische Sondergruppen zu verstehen.
Eine Theologie des Neuen Testaments kann nicht darauf verzichten eine Sicht des Judentums zu entwickeln, da die Autoren der neutestamentlichen Schriften und deren Gemeinden zu diesem in enger Beziehung standen. Sie wird auch reflektieren, welche Formen und Anschauungen des antiken Judentums jeweils in den einzelnen neutestamentlichen Schriften aufgenommen und thematisiert werden. Die Entstehung der neutestamentlichen Schriften ist nicht nur Ausdruck einer inneren Entwicklung des entstehenden Christentums, sondern auch Ergebnis der Auseinandersetzung mit Anschauungen, die von verschiedenen Gruppen des antiken Judentums vertreten werden. Jesus und Paulus stehen vor den Fragen, die sich das Judentum des Zweiten Tempels stellt. Das Matthäusevangelium ringt mit dem pharisäischrabbinischen Judentum gegen Ende des 1. Jahrhunderts. Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte reflektieren die Haltungen des hellenistischen Diasporajudentums dieser Zeit. Die Johannesoffenbarung ist von den Sichtweisen des kleinasiatischen Judentums geprägt.
Es ist deswegen unangemessen, dem antiken Judentum ein Defizit nachweisen zu wollen, für das Jesus, Paulus oder das frühe Christentum insgesamt die Lösung angeboten hätten. Eine solche Sichtweise klingt an, wenn Theißen das Judentum als „rituelle Religion“ bezeichnet, die Jesus „revitalisiert“, ja „neu belebt“ habe, als ob das Judentum zur Zeit Jesu nicht genau das war: vital und lebendig.49
Die Dynamik der Entwicklung wird vielmehr von Räisänen richtig beschrieben: Zur Zeit Jesu teilten viele im Judentum die Erwartung einer „großen Wende“.50 Die Diskrepanz zwischen den Aussagen über Israel, den Tempel und das Volk der Gerechten Gottes etwa in Ps 146–150 und der politischen und sozialen Realität der Juden in Judäa und Samaria verbunden mit der Erwartung einer Rückkehr der weltweiten Diaspora führte immer wieder zu religiös-ethnisch motivierten politischen Konflikten. Diese Konflikte können als Ausdruck der Vitalität und Lebendigkeit des antiken