Stefan Hartmann

Deutsche Sprachgeschichte


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Belege analysiert wurden.

      3 Leserfreundlichkeit. Die Ergebnispräsentation sollte einerseits so vollständig wie möglich sein, andererseits jedoch sollte gleichsam die für die Fragestellung relevante „Essenz“ der Befunde leserfreundlich aufgezeigt werden. Dies gelingt am besten über die graphische Aufbereitung der Resultate. So zeigt das Balkendiagramm in Fig. 5 auf einen Blick den Unterschied zwischen den beiden Textsorten hinsichtlich der Erwähnung von Begriffen aus dem Wortfeld „Süßwaren“ und ist somit sehr viel leserfreundlicher als beispielsweise eine Liste an Frequenzen oder Prozentwerten, die gerade bei zahlreichen Analysen auch sehr ermüdend sein kann.

      4 Reproduzierbarkeit. Die Korpusrecherche sollte für den Leser oder die Leserin nicht nur nachvollziehbar sein, sondern er oder sie sollte auch in die Lage versetzt werden, sie selbst durchzuführen. Daher setzt sich immer mehr die Praxis durch, sämtliche Daten, die einer Studie zugrundeliegen, öffentlich zugänglich zu machen. Dadurch wird sichergestellt, dass zum einen die Richtigkeit einer Korpusanalyse überprüft werden kann und zum anderen neue Methoden und Analyseansätze auf bestehende Daten angewandt werden können. Für linguistische Datensätze gibt es mittlerweile auch spezialisierte Repositorien wie das Tromsø Repository for Language and Linguistics (https://opendata.uit.no/dataverse/trolling). Viele Linguistinnen und Linguisten nutzen auch nicht spezifisch sprachwissenschaftliche Repositorien wie Figshare oder GitHub.

      2.2.3 Reflexe des Sprachwandels im Gegenwartsdeutschen: Fragebogenstudien und Experimente

      Die historische Linguistik ist auf Korpusuntersuchungen sowie auf die komparative Methode angewiesen, weil sich Sprecherinnen des Frühneuhochdeutschen oder gar des Germanischen oder Indoeuropäischen nicht mehr befragen lassen. Auch für die Gegenwartssprache gibt es gute Argumente, einen beobachtenden Zugang zu wählen, anstatt Sprecherinnen und Sprecher direkt nach ihrem Sprachverhalten zu befragen (oder gar das eigene Sprachverhalten als ausschlaggebend zu betrachten). In einem Diskussionspapier von Arppe et al. (2010) spricht sich beispielsweise Martin Hilpert dagegen aus, Grammatikalitäts- bzw. Akzeptabilitätsurteile zu erfragen – unter anderem deshalb, weil metasprachliche Einschätzungen nicht zwangsläufig das tatsächliche sprachliches Wissen repräsentieren müssen, zu dem wir als Sprecherinnen und Sprecher (und natürlich auch als Sprachwissenschaftler) keinen unmittelbaren Zugang haben. Man könnte noch hinzufügen, dass unterschiedliche Sprecher womöglich unterschiedliche Maßstäbe anlegen. Wenn ich verschiedene Personen befrage, wie akzeptabel für sie eine Form wie dem Vater sein Auto in der Alltagssprache ist, so werden womöglich einige, die diese Form selbst gebrauchen, sie als inakzeptabel kategorisieren, da sie wissen, dass sie als umgangssprachlich bzw. dialektal stigmatisiert ist. Dagegen führt jedoch Antti Arppe im gleichen Diskussionspapier das Argument ins Feld, dass das Fällen (meta)sprachlicher Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteile genauso eine sprachliche Aktivität sei wie Sprachproduktion und -rezeption. Auch das kennen wir aus unserer Alltagserfahrung: Wenn jemand tiefstes Sächsisch oder Schwäbisch spricht, bringen wir diese Person schnell mit der jeweiligen Region in Verbindung – und auch mit all den Stereotypen, die wir über Sachsen oder Schwaben haben. Und wenn jemand eine aus unserer Sicht „falsche“ grammatische Form gebraucht, können wir oft gar nicht anders, als den Fehler in Gedanken zu korrigieren. Folgerichtig gilt es bei Studien, die auf Grammatikalitäts- und Akzeptabilitätsurteilen fußen, zwar immer eine Reihe von möglichen Störfaktoren zu bedenken, doch können sie sich für viele Fragestellungen als äußerst aufschlussreich erweisen.

      Wie aber – um auf die eingangs gestellte Frage zurückzukommen – können Fragebogenstudien und Experimente zur sprachgeschichtlichen Forschung beitragen? Hier müssen wir uns vor Augen führen, dass Sprachwandel (zumindest in aller Regel) kein sprunghafter, sondern ein kontinuierlicher Prozess ist. Daher hängen Sprachwandel und sprachliche Variation untrennbar zusammen. Einerseits bildet sprachliche Variation die Keimzelle des Sprachwandels, andererseits führt Sprachwandel seinerseits zu Variation. Wenn eine Sprecherin eine neue Form benutzt (Innovation), die sich dann allmählich in der Sprachgemeinschaft ausbreitet (Diffusion), so entsteht dadurch Variation, wobei zunächst alte und neue Form miteinander konkurrieren. Ein einfaches Beispiel: Noch bis ins 19. Jh. war die Form in Ansehung deutlich verbreiteter als ihr heutiges Äquivalent in Anbetracht. Eine einfache Suche im Google ngram Viewer1 – der zwar als Korpus problematisch ist, aber durch die Nutzung der umfangreichen GoogleBooks-Daten eine ungeheuer große Datenbasis hat – zeigt, wie die neue Form um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert die alte überholt (s. Fig. 10). Die Phase, in der eine neue Form sich durchsetzt und dabei ggf. eine alte verdrängt, nennt man Approbationsphase (vgl. Bechmann 2016: 74). Weil der Prozess graduell ist, existieren eine Zeitlang mehrere Formen nebeneinander. Bechmann (2016: 158) bringt es auf den Punkt: „Gegenwärtiges ist immer Gewordenes aus Gewesenem.“

      Dabei kann es zu Zweifelsfällen kommen, bei denen Sprecherinnen und Sprecher unsicher sind, welche von (mindestens) zwei möglichen Formen die standardsprachlich „richtige“ ist (vgl. Klein 2003, 2009). So schwanken Sprecher heute beispielsweise zwischen Pluralformen mit und ohne Umlaut: die Wagen vs. die Wägen. Möglicherweise fiel Sprecherinnen vor etwas über 100 Jahren auch die Wahl zwischen in Ansehung und in Anbetracht nicht leicht. Nübling (2012: 66) vergleicht solche Zweifelsfälle mit „Beben“, die auf tiefgreifende Veränderungen zurückgehen. Fragebogenstudien können somit gleichsam als „Seismograph“ für solche Veränderungen gesehen werden und können helfen, Fragen zu beantworten wie:

       Welche alternativen Formen gibt es?

       Wird eine der Formen häufiger gebraucht?

       Wird eine der Formen in bestimmten Kontexten häufiger gebraucht? (z.B. Registervariation: eine Form findet sich eher in formellen Kontexten, eine andere eher in mündlich bzw. umgangssprachlich geprägten)

       Wird eine der Formen in bestimmten Regionen oder Dialektgebieten häufiger gebraucht?

      Fig. 10: Frequenz von in Ansehung vs. in Anbetracht im Google Ngram Viewer. (Anteil der jeweiligen Form an allen Tokens im GoogleBooks-Korpus.)

      Dieser letztgenannten diatopischen Variation widmen sich beispielsweise Sprachatlanten. Pionierarbeit auf diesem Gebiet hat Georg Wenker (1852–1911) mit seinem „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ geleistet, der über das Marburger Forschungszentrum Deutscher Sprachatlas unter www.regionalsprache.de vollständig online abrufbar ist. Mit Hilfe einer Reihe von Sätzen, die er von Volksschullehrern aus dem gesamten damaligen Deutschen Reich ausfüllen ließ, konnte Wenker vor allem die Verteilung lautlicher Varianten kartieren. Aber auch lexikalische Variation zeigt sich in seinen Karten, etwa zwischen Dienstag, Aftermontag (im Ostschwäbischen) und Ertag (im Bairischen) oder zwischen Buddel im Niederdeutschen und Mecklenburgisch-Vorpommerschen einerseits und Flasch(e) in anderen Gebieten.

      Im weiteren Verlauf dieses Kapitels werfen wir zunächst einen näheren Blick auf die Methodik von Fragebogenstudien, ehe wir einen Schritt weitergehen und das Potential behavioraler Experimente, die über reine Befragungen hinausgehen, für linguistische Fragestellungen und insbesondere für die Zweifelsfallforschung erkunden.

      Fragebogenstudien

      Während der Beginn der modernen Umfragenforschung, der naturgemäß insbesondere in Disziplinen wie der Soziologie ein zentraler Stellenwert zukommt, laut Hippler & Schwarz (1996: 726) in die 30er-Jahre des 20. Jh. zu datieren ist, haben wir am Beispiel von Georg Wenkers Deutschem Sprachatlas bereits gesehen, dass die systematische Sammlung von Daten durch Befragung von Informanten bereits im 19. Jh. zum Methodenrepertoire der Sprachwissenschaft gehörte. Seither haben sich die Möglichkeiten der Befragung schon allein durch den technischen Fortschritt tiefgreifend verändert. Dadurch sind natürlich auch die methodischen Anforderungen, die heute an Fragebogenstudien gestellt