keine prototypischen Rottöne, gehören aber trotzdem noch zur Kategorie.
Die prototypisch organisierten Schemata, so Köpckes Theorie, setzen Sprecherinnen und Sprecher ein, um den Plural von Wörtern zu bilden, die sie bisher nur im Singular kennen. Daraus lassen sich falsifizierbare Hypothesen ableiten: Je stärker ein Wort dem für die jeweilige Flexionsklasse angenommenen Prototypen entsprechen, desto eher wird der Plural nach dem entsprechenden Deklinationsmuster gebildet (s.u. Kap. 5.1.1).
Zur Untermauerung seiner Hypothesen stützt sich Köpcke (1988) zum einen auf historische Evidenz, zum anderen auf eine experimentelle Studie. Im experimentellen Teil seiner Untersuchung nutzt er eine Elizitationsstudie, d.h. er „entlockt“ (elizitiert) seinen Teilnehmenden Pluralformen von Nonsenswörtern wie der Knumpe oder das Trilchel. Solche Materialien, auf die Probandinnen und Probanden reagieren sollen, nennt man Stimuli (Singular: Stimulus). Unter anderem konnte Köpcke zeigen, dass Formen, deren Auslaut als Pluralmarker interpretiert werden könnte (z.B. die Bachter: hier könnte -er als Pluralmorphem gesehen werden), eher mit Nullplural versehen werden (also Singular: die Bachter – Plural: die Bachter) als Formen, die einer prototypischen Singularform entsprechen, also einsilbig sind und auf einen Plosiv (/p/, /t/, /k/, /b/, /d/, /g/) auslauten. Dies bringt er mit der Beobachtung in Verbindung, dass historisch einige auf -en auslautenden Singularformen das -n verloren haben, z.B. die küchen > die Küche. Dadurch wird der Unterschied zwischen Singular- und Pluralform eindeutiger.
Ein weiterer Bereich, in dem sich psycholinguistische Evidenz für die Erklärung diachroner Wandelprozesse als aufschlussreich erweisen kann, ist die Graphie. Das Deutsche weist hier eine Besonderheit auf, die es mit keiner anderen Sprache der Welt – außer dem Luxemburgischen – teilt, nämlich die satzinterne GroßschreibungSubstantivgroßschreibung von Substantiven (vgl. z.B. Bredel et al. 2011: 27). Auch hier können psycholinguistische Studien helfen, die Frage nach dem Warum zu klären. So zeigen beispielsweise Gfroerer et al. (1989) mit Hilfe einer Eye-Tracking-Studie, bei der die Augenbewegungen der Teilnehmenden beim Lesen aufgezeichnet und anschließend analysiert werden, dass die Großschreibung offenbar als Dekodierungshilfe dient: Sie ließen niederländische Muttersprachler deutsche und niederländische Texte lesen, die den deutschen Großschreibungsregeln folgten. Dabei zeigte sich, dass die Teilnehmenden auch beim Lesen der niederländischen Texte nicht von der Großschreibung behindert wurden, obwohl die niederländische Orthographie die satzinterne Großschreibung nicht kennt (außer bei EigennamenEigennamen). Im Gegenteil schienen sie von der Hervorhebung der Substantive zu profitieren und lasen die Texte sogar insgesamt schneller. Diese Beobachtungen können helfen zu erklären, warum sich das Deutsche den „Luxus“ der satzinternen Großschreibung leistet – auch wenn sie natürlich nicht erklären können, warum sich die satzinterne GroßschreibungSubstantivgroßschreibung in anderen Schriftsystemen nicht durchsetzen konnte, etwa im Englischen, wo sie eine kurze Blütezeit im 17./18. Jh. erlebte (vgl. Gramley 2012: 147).
Diese wenigen ausgewählten Beispiele zeigen, dass experimentelle Methoden auch in der germanistischen Linguistik und in der Sprachgeschichtsforschung durchaus Verwendung finden. Allerdings genügen nicht alle Studien den recht rigorosen methodischen Anforderungen, die in der Psychologie und in den Kognitionswissenschaften an experimentelle Untersuchungen gestellt werden. Das gilt sowohl für die Formulierung und Operationalisierung von Hypothesen als auch für die Datenanalyse. Einige wichtige Aspekte, auf die beim Design von Experimenten zu achten ist, fasst die Infobox 6 zusammen. Bei der Datenanalyse sind statistische Verfahren anzuwenden, um zu bestimmen, wie wahrscheinlich es ist, dass die beobachteten Ergebnisse durch Zufall zustandegekommen sind.5
✓ | Formulieren Sie vor Durchführung des Experiments eine klare Hypothese, die Sie überprüfen möchten. Die Hypothese während oder gar nach Durchführung einer Studie zu ändern, gilt als schlechte wissenschaftliche Praxis. Mittlerweile gibt es mit https://cos.io/prereg/ (zuletzt abgerufen am 20.05.2017) sogar eine Internetseite, auf der WissenschaftlerInnen Hypothesen im Voraus registrieren und damit ihre Forschung transparenter machen können. |
✓ | Wie bei Fragebogenstudien gilt es auch bei behavioralen Experimenten, Störvariablen soweit möglich auszuschalten. Das gilt sowohl für die Gestaltung der Stimuli als auch für die Zusammensetzung der Teilnehmenden. |
✓ | Störvariablen im Bereich der Stimuli können z.B. bei verbalen Stimuli deutliche Unterschiede in der Länge oder Komplexität sein. Angenommen, Sie untersuchen die Hypothese, dass hochfrequente Komposita schneller gelesen werden als niedrigfrequente: Wenn Sie im Bereich der hochfrequenten Komposita z.B. Türgriff und Rollstuhl haben, bei den niedrigfrequenten dagegen Grundstücksverkehrsgenehmigungszuständigkeitsübertragungsverordnung und Rindfleischetikettierungsüberwachungsaufgabenübertragungsgesetz, dann kann die höhere Lesezeit bei den niedrigfrequenten Stimuli auch schlicht auf deren Länge bzw. auf deren Komplexitiät (mehr Kompositionsglieder) zurückgeführt werden. |
✓ | Störvariablen im Bereich der Zusammensetzung der Teilnehmenden können z.B. durch Unausgewogenheiten in den demographischen Daten entstehen. Suboptimal wäre es z.B., wenn an Ihrem Experiment sehr viele junge Personen und zwei 80-Jährige teilnehmen, oder wenn die allermeisten Teilnehmenden einen Hochschulabschluss haben und nur wenige nicht. Natürlich ist es nicht möglich, solche Unausgewogenheiten komplett zu vermeiden. Es kann jedoch hilfreich sein, sich im Voraus zu fragen: Welche Faktoren könnten (außer denen, deren Einfluss ich mit meiner Untersuchung überprüfen will) das Verhalten der Versuchsperson beeinflussen? Wenn ich z.B. ein Lesezeitexperiment mache, muss ich damit rechnen, dass eine Person, die im Alltag wenig liest, langsamer liest als eine Germanistikstudentin. Der einfachste Weg, die demographischen Daten konstant zu halten, ist, nur eine einzige Gruppe (z.B. Studierende) als ProbandInnen zu wählen. Für eine Seminar- oder Abschlussarbeit ist das absolut ausreichend. Für größer angelegte Studien indes wäre mehr Diversität wünschenswert – schließlich wissen wir mittlerweile schon sehr viel aus behavioralen Experimenten über bestimmte Bevölkerungsgruppen (wie Studierende), über andere hingegen sehr wenig (vgl. z.B. Henrich et al. 2010). |
✓ | Viele experimentelle Setups setzen voraus, dass die ProbandInnen nicht genau wissen, worum es in der Studie geht, da wir ja daran interessiert sind, wie sie sich spontan verhalten, nicht, wie sie sich bewusst entscheiden. Deshalb ist es zumeist sinnvoll, Distraktoren einzubauen, also Stimuli, die vom eigentlichen Ziel des Experiments ablenken und nicht in die Auswertung mit eingehen. |
✓ | Genau wie bei Fragebogenstudien, ist auch bei Experimenten damit zu rechnen, dass Probandinnen und Probanden mit der Zeit Ermüdungserscheinungen zeigen und/oder in ihrem Umgang mit den jeweiligen Stimuli ein bestimmtes Muster entwickeln. Daher ist es auch hier wichtig, die Reihenfolge der Stimuli nach Möglichkeit zu randomisieren. |
Zum Weiterlesen
Einführungen in experimentelles Design und Datenanalyse gibt es enorm viele. Für die Linguistik bietet Meindl (2011) einen wertvollen Einstieg. Abdi et al. (2009) ist eine gut lesbare Einführung, die aus dem Bereich der experimentellen Psychologie stammt. Sehr anspruchsvoll ist dagegen Maxwell & Delaney (2004). Eine unterhaltsame, streckenweise etwas zu lang geratene Einführung in die Datenanalyse mit R bieten Field et al. (2012).
Aufgabe
1 Diskutieren Sie das oben zusammengefasste Experiment von Köpcke (1988). Erkennen Sie Störvariablen, die man bei eventuellen Folgestudien beseitigen sollte?
2 Informieren Sie sich über Lesezeitexperimente und überlegen Sie, ob man ein Experiment zur Konkurrenz zwischen unterschiedlichen