noch etwas weitergehen und einige weitere Aspekte des Begriffes vom Handeln heranziehen, wie er aus der Tradition der Philosophie und der sich daraus verselbständigenden Soziologie seine Bedeutung gewonnen hat.
Wir können uns den wichtigen Unterschied zwischen den Ansätzen einer am ‚traditionellen‘ Begriff der Handlung orientierten Soziologie, wie er sich von philosophischen Ansätzen aus über Max Weber bis hin zu Jürgen Habermas fortsetzt, und einer an Strukturen oder Systemen ausgerichteten Soziologie, die diesen ‚traditionellen‘ Begriff der Handlung aufgeben will, noch unter einem anderen Aspekt verdeutlichen. Er zeigt sich gut in einer Kritik von einem der wichtigsten Vertreter der ‚verstehenden‘ Soziologie, nämlich Alfred Schütz, an Parsons’ Ansatz. Das Problem der ‚strukturalistischen‘ Soziologie von Parsons – und damit ebenso das etwa der strukturfunktionalistischen Soziologie von Habermas’ Kontrahenten Niklas Luhmann – liege darin, dass „die subjektiven Ereignisse im Bewusstsein des Handelnden durch ein Interpretationsschema für solche Ereignisse, über das nur der Beobachter verfügt“, ersetzt werden.5
Der Begriff der Handlung, wie ihn die Tradition in Philosophie und Soziologie aufgefasst hatte und an den Habermas anschließt, ist dann aufgegeben, wenn die Soziologie zur Wissenschaft von einem ‚Objekt‘ wird, dessen Interpretation nur durch Schemata der Beobachter von sozialen Phänomenen geleitet wird, ohne dass die ‚subjektiven Ereignisse im Bewusstsein des Handelnden‘, also dessen subjektive Sinngebung, in die wissenschaftliche Begriffs- und Theoriebildung eingehen kann.
Dem setzt Luhmann an einer Stelle mit Bezug auf Max Weber den folgenden Einwand entgegen: Bei Verwendung eines ‚subjektiven‘ Handlungsbegriffes gerät die Soziologie in die Lage, „dass nur das ‚Subjekt‘ wissen könne, ob es gehandelt habe oder nicht, und die Folgerung ist: man muss es fragen.“6 Habermas’ Antwort darauf [<<41] würde vielleicht lauten: ‚Eben! Genau!‘ Just aufgrund dieser Besonderheit einer Wissenschaft vom Handeln wird Habermas auf seinem Weg durch das philosophische Denken über Sprache, Wissen, Begründung und moralische Rechtfertigung zu dem Ergebnis kommen, dass eine solche Soziologie nur in einem gedanklichen Kontext möglich ist, der Handeln und Wahrheitsansprüche bzw. Ansprüche auf moralische Richtigkeit in einen unauflösbaren Zusammenhang bringt.
Er würde auf jene Kritik hin also vermutlich etwa so argumentieren: Wenn man den Akteur nur dann als Akteur auffasst, wenn man ihn fragt, so muss man ihm die Fähigkeit zuschreiben, solche Ansprüche zu erheben, und ihn damit als begründungswilliges und begründungsfähiges Wesen anerkennen. Damit anerkennt man ihn auch als Wesen, das durch Sinn Selektivität erzeugen kann und sie nicht nur als vorgegeben hinnehmen muss, d. h., das aus einem Raum möglicher Ereignisse die Realisierung bestimmter Ereignisse zumindest bis zu einem gewissen Grad steuern kann. Offenbar ist der Begriff des Handelns nach diesem Gedanken nicht unabhängig von den Vorstellungen von Freiheit im Handeln zu verstehen.
Luhmann selbst stellt dem allerdings eine ganz andere Weise des wissenschaftlichen Umgangs mit Handlungen entgegen. Auch hier ist die Kategorie Sinn für den Begriff des Handelns von Bedeutung, allerdings nun so, dass eine ‚Handlung‘ dadurch zustande kommt, dass ein Verhalten durch andere als sinnhaft gedeutet wird: „Handlungen werden durch Zurechnungsprozesse konstituiert.“7 Solche Zurechnungen haben eine wichtige Aufgabe für den Bezug von sozialen Systemen auf sich selbst, den Luhmann als ‚Selbstbeobachtung‘ sozialer Systeme bezeichnet. Deshalb gibt er den Handlungsbegriff keineswegs auf, aber dieser erfährt nun eine „Rekonstruktion als Konstrukt von Zurechnungsprozessen im Kontext von Selbstbeobachtungen sozialer Systeme.“8
Nach der systemtheoretischen Soziologie von Niklas Luhmann können wir also soziale Prozesse erklären ohne jeden Rekurs auf Bewusstsein und Sinnzuschreibung durch Akteure. Man könnte das auch noch anders und etwas provozierender formulieren. In einem sozialen System geht es nicht nur nicht um Bewusstsein und nicht um Sinn, es geht auch nicht um Denken. Ein soziales System entsteht durch Kommunikation, d. h. durch die Verknüpfung von kommunikativen Ereignissen mit kommunikativen Ereignissen, die sich als kommunikativ jeweils durch die Reaktion [<<42] darauf erweisen. Ein soziales System zeichnet sich deshalb durch die Selbstreferenz einer ‚operativen Geschlossenheit‘ aus.
Damit ist etwas ganz Einfaches gemeint: Es schließen sich stets nur Operationen desselben Typs aneinander an, d. h., in einem sozialen System werden nur und ausschließlich kommunikative Ereignisse mit nur und ausschließlich kommunikativen Ereignissen verknüpft. Gerade durch diese ‚Abstraktion‘ erhalten sie sich, da alles das, was wir im alltagssprachlichen Sinne mit Kommunikation verbinden, wie etwa Dinge, über die wir kommunizieren, Körper, mit denen wir etwa durch Sprechen oder durch Gesten Kommunikationsereignisse produzieren, Gedanken, die wir im Kommunizieren zum Ausdruck bringen, oder auch Menschen, mit denen wir kommunizieren, nicht zum sozialen System gehören soll, sondern zu seiner Umwelt.
Das soll nicht heißen, dass nach Luhmann Kommunikationen sich nicht auf Gesprächsgegenstände, Gedanken oder Wahrnehmungen beziehen können. Aber damit wird die durch Kommunikation im Luhmann’schen Sinne erreichte operative Geschlossenheit durchbrochen. Es geschieht also eine Fremdreferenz in jenem in sich geschlossenen System, in dem kommunikative Ereignisse mit anderen kommunikativen Ereignissen verbunden werden, indem sie als solche aufgefasst werden. Aber, und das ist die Pointe dieser Konzeption, mit der sie sich strikt von Habermas’ Verständnis des Sozialen unterscheidet, die Gedanken etwa, auf die in der Kommunikation eine Fremdreferenz stattfindet, gehören nicht in den Zusammenhang des sozialen Systems, das ausschließlich durch Kommunikation zustande kommt. ‚Operative Geschlossenheit‘ bedeutet an dieser Stelle, dass Gedanken sich nur an Gedanken anschließen können, nicht aber an kommunikative Ereignisse. Das bedeutet schließlich, dass Gedanken sich nur im Bewusstsein aneinander anschließen, nicht aber in der Kommunikation. Die Letztere kann darauf nur im Sinne einer Fremdreferenz Bezug nehmen, und dieser Bezug ist für das Verbinden kommunikativer Ereignisse nicht notwendig, mit dem soziale Systeme existieren und sich entwickeln.
Ein soziales System kann also in der Soziologie untersucht werden, ohne dass dabei an irgendeiner Stelle von Bewusstsein oder von Subjektivität oder von Sinn die Rede sein müsste. Es muss auch nicht Bezug genommen werden auf das, was Subjekte gemeint haben. Deshalb kann man mit Recht sagen, dass in einem sozialen System gemäß der Konzeption der Systemtheorie von Niklas Luhmann nicht gedacht wird. Aber umgekehrt kann ein Bewusstsein auch nicht kommunizieren, sondern nur denken, d. h. Gedanken an Gedanken anschließen, wenn sie nicht in den Anschluss von Kommunikationen an Kommunikationen eingehen, der als soziales System betrachtet wird.
Das bedeutet jedoch nicht, dass in dieser Theorie der Begriff Sinn überhaupt nicht vorkommt, der, wie schon ausgeführt, für die ‚traditionelle‘ Soziologie als Wissenschaft [<<43] vom sozialen Handeln aufgrund seiner Bedeutung für den Begriff des Handelns unverzichtbar war. Aber ‚Sinn‘ bezieht sich hier nicht auf ein Verhältnis eines Bewusstseins zu seinen Handlungsentwürfen, die eben dadurch zu seinen werden, dass es ein Verhältnis zu sich selbst unterhält. ‚Sinn‘ ist vielmehr eine Art und Weise, wie Systeme die systemintern verfügbare Komplexität verarbeiten können.
‚Komplexität‘ bedeutet im Grunde den einfachen Sachverhalt, dass sich einem System mehr Möglichkeiten bieten, als realisiert werden können, d. h., es könnte mehr Zustände annehmen, als mit seiner Identität vereinbar wären, d. h., es gibt mehr operative Verknüpfungen, als mit seiner Identität vereinbar sind. Deshalb muss es ‚Komplexität reduzieren‘ – man könnte auch sagen: Es besteht nur in diesem Vorgang. Es ist überhaupt nur ein System, weil in ihm weniger möglich ist als außer ihm: Wer zur Schule geht oder einem Parlament angehört, muss die Grenzen zwischen ‚Schule‘ bzw. ‚Parlament‘ und deren Umwelt kennen, weil er jenseits von Schule oder Parlament anders handeln und reden kann als in diesen Systemen.
Durch ‚Sinn‘ sorgt ein System jedoch nun dafür, dass die ausgeschlossenen Möglichkeiten nicht endgültig eliminiert werden, sondern immer noch zur Verfügung stehen, aber ohne dass sie die Systemidentität gefährden würden. Es bleibt möglich, außerschulische bzw. außerparlamentarische Handlungsweisen einzubringen, allerdings nicht unbegrenzt und nicht ohne Risiko. Wichtig ist dabei jedoch, dass dieser Begriff von Sinn nichts mehr mit jenem ‚subjektiven Sinn‘ zu tun hat, der nach Max Weber und der an ihn anschließenden