[<<47]
So weit ist die Bedingung des Sich-zu-sich-Verhaltens erfüllt. Das wird etwa schwieriger, wenn wir für eine wissenschaftliche Thematisierung von Handlungen noch verlangen, dass Handlungen identifizierbar sein müssen, d. h., der Beobachter muss jeweils entscheiden, dass es sich gerade um eine solche und nicht um eine andere Handlung handelt. Das ist gleichbedeutend damit, dass es Regeln geben muss, um sie als bestimmte Handlungen identifizieren zu können.10
Einige Schwierigkeiten mit einer solchen Auffassung von Handlungen waren schon lange vor Niklas Luhmann bei Max Weber selbst deutlich geworden. Wer in einer ‚Soziologie‘ den Logos des Sozialen geben will, der muss offenbar Aussagen über den in einer Handlung implizierten subjektiven Sinn des Handelnden treffen können. Damit wird der subjektive Sinn aber zumindest so weit objektiv, dass ‚wir‘ – d. h. hier: die Soziologen – ihn in Gruppen einteilen und näher bestimmen können. Wir können dann sagen, wie der subjektive Sinn einer bestimmten Handlung näher zu verstehen ist. Solche Handlungsbeschreibungen sind dann in dem Sinn ‚objektiv‘, dass sie intersubjektiv nachvollziehbar sein müssen. Etwa versuchte Max Weber, verschiedene ‚Handlungstypen‘ zu unterscheiden, und kam dabei auf vier verschiedene Typen: zweckrationale (d. h. an einem Nutzen orientierte), wertrationale (an inneren Überzeugungen orientierte), traditionale (durch Gewohnheiten und überlieferte Normen bestimmte) und affektuelle (an emotionalen Bindungen orientierte) Handlungen, wobei ‚zweckrational‘ in einem weiteren Sinne allerdings jedes Handeln ist.
Über solche Einteilungen wurde natürlich heftig gestritten, etwa wäre es auch möglich, zwischen automatisch-spontanem und reflektiert-kalkulierendem Handeln zu unterscheiden. Man könnte auch darauf verweisen, dass Handlungen nie isoliert vorkommen, sondern stets in ‚Praktiken‘ eingebettet, d. h. in typisierte, routinisierte und deshalb im sozialen Zusammenhang auch verstehbare ‚Aktivitätsbündel‘. Schließlich kann man Handlungen auch in erster Linie unter ökonomischen Perspektiven untersuchen, wie dies etwa in der Rational-Choice-Theorie oder in spieltheoretischen oder auch tauschtheoretischen Ansätzen geschieht, von denen sich wiederum die soziologischen Theorien etwa aus den Gebieten der phänomenologischen Soziologie, des symbolischen Interaktionismus oder auch der strukturell-funktionalen Theorie [<<48] unterscheiden lassen. Glücklicherweise müssen wir uns mit diesen Details der soziologischen Handlungstheorie nicht näher beschäftigen.
Aber mit der Besonderheit von Handlungen aus der Tradition des philosophischen Denkens müssen wir uns beschäftigen, wenn wir verstehen wollen, wie Habermas seine Theorie eines Handelns ausarbeitet und begründet, das kommunikativ und d. h. verständigungsorientiert ist. Dieses Handeln ist zentral für sein ganzes Denken, sei es unter philosophischer, soziologischer oder politiktheoretischer Perspektive. Aus der vorstehenden Erinnerung an einige soziologische Gedanken über die Besonderheit von Handlungen ist bereits deutlich geworden, dass es naheliegt, sich hier mit philosophischen Gedankengängen zu beschäftigen, etwa in Zusammenhang mit dem ‚Sinn‘ von Handlungen, aus der Zuschreibung von Motiven und/oder Gründen, in Bezug auf die Subjektivität oder/und Intersubjektivität von Handlungen sowie durch die Struktur eines – sprachlichen – Bewusstseins von sich selbst, das einem Handelnden zugeschrieben werden muss, wenn er von jemandem unterschieden werden soll, der sich nur verhält, wie wir dies auch von Tieren sagen können. Und am besten beginnen wir mit Aristoteles, den wir als maßgebenden Begründer einer Philosophie der ‚Praxis‘ auffassen können.
2.2 Die Besonderheit von ‚Handlungen‘
2.2.1 Aristoteles: praxis und poiesis
Den Begriff der ‚Praxis‘ verwenden wir im Alltag heute meist nicht so, wie es in der Philosophie seit ihren Anfängen der Fall war. Wir pflegen ihn der ‚Theorie‘ entgegenzusetzen, wenn wir etwa sagen, was man in der Theorie gelernt habe, müsse man schließlich in die Praxis umsetzen können, wie der Arzt, der im Medizinstudium die Theorie kennen gelernt hat, schließlich eine Praxis eröffnet, um sein Wissen in der Behandlung von Patienten bzw. deren Leiden praktisch zu verwenden. Am Anfang der Philosophie wurde die Bedeutung von praxis jedoch durch die Entgegensetzung zu poiesis bestimmt. Poiesis hieß bei Aristoteles generell dasjenige menschliche Tun, das einem bestimmten Zweck dient. Dabei stellen sich in erster Linie Fragen nach dem ‚richtigen‘ Einsatz von Mitteln für gegebene Zwecke. Es handelt sich also um die Frage nach der richtigen Technik.
Wenn man jedoch den optimalen Einsatz gegebener Mittel hinzunimmt, der erfolgt, um möglichst viel zu erreichen, dann könnte man die entscheidende Frage in Bezug auf die poiesis auch als eine ökonomische auffassen. Was bedeutet ‚richtig‘ in diesem [<<49] Zusammenhang? ‚Richtig‘ ist ein ‚poietisches‘ Tun offenbar dann, wenn es rational in dem Sinne ist, den wir in der Technik oder der Ökonomie verwenden. Es ist technisch-rational, wenn wir die für einen gegebenen Zweck geeigneten Mittel einsetzen und nicht versuchen, Schrauben mit einem Hammer einzusetzen. Es ist ökonomisch-rational, wenn wir die kostengünstigsten Mittel für ein gegebenes Ziel einsetzen oder mit den gegebenen Mitteln den höchstmöglichen Ertrag erzielen.
Mit dem Begriff der praxis dagegen nahm Aristoteles eine ganz andere Perspektive auf das menschliche Tun ein, und er behauptete, dass diese Perspektive gerade für das Besondere des Menschen entscheidend sei. Hier folgt ihm Habermas ganz und gar, auch wenn dieser schließlich andere und weit kompliziertere Mittel einsetzt, um diese Behauptung zu begründen und auszuarbeiten. Unter dieser Perspektive wird generell nach einem inhärenten Sinn eines menschlichen Tuns gefragt, also nicht danach, welchen Sinn es hat in Bezug auf damit zu erreichende Zwecke, sondern ‚in sich selbst‘ und ‚aus sich selbst‘. Eine Lüge kann technisch und ökonomisch das adäquate Mittel darstellen, um einen bestimmten Vorteil zu erreichen, und insofern ‚richtig‘ sein. Aber kann man auch sagen, sie sei ‚richtig‘, weil sie in ihrem eigenen Sinn ‚richtig‘ ist?
Ein solcher Sinn hat bei Aristoteles stets mit einem Ziel zu tun, d. h., ein menschliches Tun gewinnt einen inhärenten Sinn, weil es auf ein Ziel bezogen ist – was von einem Zweck zu unterscheiden ist. Die praxis im aristotelischen Sinn ist finalisiert. Von einer Orientierung an Zwecken unterscheidet das Tun sich nun deshalb, weil die verschiedenen Zwecke, für die wir technisch oder ökonomisch geeignete Mittel einsetzen und uns in diesem Sinne ‚rational‘ verhalten, selbst kein Ziel in sich selbst darstellen. Den Hammer verwenden wir, um einen Nagel einzuschlagen, der Nagel aber ist selbst kein Ziel in sich selbst, sondern soll ein Bild tragen, das aufgehängt zu haben wiederum nicht in sich selbst ein Ziel ist, sondern wieder ein Mittel für etwas anderes darstellt – sei es die Verschönerung der Wand, die Selbstdarstellung des Wandbesitzers als eines Kulturmenschen oder was auch immer. In der poiesis gelangen wir deshalb an kein Ende, weil Zwecke immer wieder selbst zu Mitteln werden.
Die praxis im aristotelischen Sinn dagegen hat es mit dem Ziel zu tun, man könnte auch sagen: mit dem Ziel. Damit schließt sich die aristotelische Auffassung von praxis zusammen mit der Vorstellung von einem letzten Ziel alles Tuns im menschlichen Leben, also mit einem Zweck, der selbst nicht mehr zum Mittel wird, weil er sich in sich selbst erfüllt. Hier schließt sich Aristoteles an den zentralen Begriff der platonischen Philosophie an, obwohl er ihn auch charakteristisch verändert. Dieses Ziel ist das gute Leben. Anders als Platon sucht Aristoteles aber nicht, dieses Ziel aus einer Idee des Guten abzuleiten, die unveränderlich und als ewige Wahrheit feststehen würde. [<<50] ‚Gut‘ ist das Leben deshalb, weil es in einer polis gelebt wird, d. h. im sozialen Zusammenhang und in der Interaktion mit anderen Menschen, womit wir wieder bei einem zentralen Gedankengang von Habermas angelangt sind. Auch hier wird dieser aber ganz andere Mittel einsetzen, um diesen Gedanken näher auszuarbeiten.
Es ist deutlich, dass die Perspektive auf die praxis des menschlichen Tuns bei Aristoteles den Anfang dessen darstellt, was wir bis heute als Ethik oder eben auch als praktische Philosophie bezeichnen. Der Begriff der Handlung als eines speziellen Tuns des Menschen, das ihn eben speziell als Menschen auszeichnet, ist damit als Teil der Ethik ausgezeichnet. Nach Aristoteles können wir also die Frage, was Handeln heißt, nicht von der Frage trennen, was gutes Handeln heißt. Handlungsphilosophie ist damit praktische Philosophie.
Die praktische Philosophie benötigt einen solchen Begriff des menschlichen Tuns, weil sie