dieser Konzeption des Sozialen dar? Es ist zunächst deutlich geworden, dass eine Kommunikation nicht auf eine Handlung eines Akteurs zurückgehen kann, d. h., ihr Zustandekommen ist unabhängig von dem ‚subjektiven Sinn‘, den ein Akteur damit verbindet. Aber sie kann auch nicht auf soziales Handeln zurückgeführt werden, in dem zwei Akteure wechselseitig aufeinander bezogen handeln. Das geht darauf zurück, dass Verstehen nun als passiver Vorgang verstanden wird. Natürlich ist das nicht die ganze Wahrheit, was sich schon daran zeigt, dass verschiedene Menschen auf die gleiche Äußerung ganz verschieden reagieren können. Der Verstehende konstruiert also auch, aber dieses Konstruieren muss gerade im Verstehen ausgeblendet werden, denn nur dann, wenn er sein Verstehen nicht als eigenes Konstruieren auffasst, kann er kommunikativ an die Kommunikation des anderen anschließen, wodurch erst Kommunikation zustande kommt. Erst dann können wir in Luhmanns Systemtheorie von einem sozialen System sprechen. Das schließt allerdings prinzipiell nicht aus, dass Verstehen auch als Handlung aufgefasst werden kann, dies jedoch erst dann, wenn in [<<44] der Kommunikation Hemmungen auftauchen, die eine explizite Interpretation als Verdeutlichen des Gemeinten erfordern. Das ist jedoch nicht die ‚normale‘ Leistung in der Kommunikation.
2.1.4 Soziologie als Wissenschaft vom Handeln
Nach dieser kurzen Skizze der radikalen Gegenposition zu den Themen Handeln und Kommunikation kommen wir wieder auf die soziologische Ausgangsposition zurück, die für Habermas wie für die meisten theoretischen Soziologen im Zusammenhang mit dem Begriff des Handelns leitend geworden ist. Es dürfte deutlich geworden sein, dass und warum Habermas sich ausführlich mit der Luhmann’schen Systemtheorie auseinandersetzen musste. Die Darstellung dieser Auseinandersetzung wäre geradezu eine alternative Möglichkeit für eine Darstellung der Habermas’schen Grundgedanken.
Auch für eine an Max Weber anschließende Soziologie kann aber die bisher gegebene Charakterisierung von Handeln noch nicht ausreichen. Es fehlen noch zwei Auszeichnungen, um von einer Wissenschaft vom Handeln sprechen zu können. Zum einen ist ihr Thema traditionell nicht das Handeln als solches, sondern eine spezielle Form von Handeln bzw. eine besondere Art von Handlungen. Soziales Handeln und soziale Handlungen unterscheiden sich – wieder nach Max Weber – von anderen Handlungen durch den sinnhaften Bezug auf das Verhalten anderer Menschen:
„,Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“9
Soweit wird allerdings nur ein Kriterium hinzugefügt, um soziales Handeln als eine besondere Klasse des Handelns auszuzeichnen.
Aber auch damit kommen wir mit der bis jetzt dargestellten Unterscheidung von Handeln und Verhalten noch lange nicht zu einer Wissenschaft, die wir als Soziologie bezeichnen können. Das hat natürlich damit zu tun, dass wir dann von einer Wissenschaft sprechen, obwohl wir bisher nur von dem Vorgang gesprochen haben, in dem wir Handlungen von Verhalten bzw. von Ereignissen in der Welt unterscheiden. Eine solche Wissenschaft muss offenbar davon ausgehen können, dass wir in der Lage sind, [<<45] fremden Sinn zu verstehen. Das muss aber natürlich nicht heißen, dass sich eine soziologische Wissenschaft damit begnügen müsste, solche Verstehensleistungen zu erbringen. Natürlich ist die Soziologie wie andere Wissenschaften auch mit dem Beobachten, dem Klassifizieren, dem Messen, dem Aufstellen von statistischen Korrelationen und Regressionen und auf dieser Grundlage mit der Ausarbeitung von Theorien beschäftigt.
Solche Theorien erklären uns die Welt dadurch, dass sich einzelne Ereignisse aus diesen Theorien ableiten und vorhersagen lassen. Sie folgen also dem allgemeinen Schema wissenschaftlichen Erklärens (dem sog. Hempel-Oppenheim-Schema). Ein Ereignis gilt als erklärt, wenn und indem wir es als Fall einer allgemeinen Regel aus dieser Regel ableiten können. Das kann im einfachsten Fall so funktionieren: (a) Alle Katzen jagen Mäuse, (b) Lucy ist eine Katze, woraus sich folgerichtig das Ereignis ableiten lässt: (c) Lucy jagt Mäuse, womit uns (c) als erklärt gilt; oder, noch einfacher formuliert: Lucy jagt Mäuse, weil sie eine Katze ist und für diese Tiere jene generelle Verhaltensweise gilt. Natürlich kann das auch wesentlich kompliziertere Formen annehmen. Das Ereignis, dass der Meteor M mit der Beschleunigung a1 zur Erde gestürzt ist, kann so erklärt werden: Weil (a) die Gravitationskraft nach Newton bestimmt wird durch
F = G × [(m1 × m2 ) ÷ r2 ] und (b) a1 = F ÷ m1
(zweites Newton’sches Axiom) und (c) die Erde die Masse m1 besitzt. Natürlich gilt das nur dann, wenn man die Gravitation durch die Masse des Meteors m1 vernachlässigt und außerdem vernachlässigt, dass das Newton’sche Gravitationsgesetz nur annähernd gilt.
Aber auch wenn es der Soziologie gelingt (oder gelänge), solche gesetzesförmigen (nomologischen) Erklärungen zu liefern, kommt (oder käme) sie doch nicht darum herum, zunächst ihren Gegenstand – das Handeln und davon ausgehend die spezielle Form des sozialen Handelns – zu bestimmen. Das aber bedeutet, Handeln von Verhalten als von physikalisch beschreibbaren Ereignissen in der Welt durch den subjektiv gemeinten Sinn zu unterscheiden und damit die Leistung des Fremdverstehens einzusetzen. Die Alternative bestünde nur darin, den Begriff der Handlung aufzugeben und Soziologie als Verhaltenswissenschaft zu betreiben, so dass Verhaltensweisen miteinander korreliert werden und auf diese Weise allgemeine Gesetze über das Verhalten aufgestellt werden, mit deren Hilfe sich einzelnes Verhalten erklären lässt. Das alles ist nicht prinzipiell unmöglich, aber es würde einen Paradigmenwechsel darstellen, in dem das aufgegeben wird, was Soziologie bisher bedeutet hat. Man könnte auch sagen, dass damit Soziologie zur empirischen Psychologie würde und deshalb ihren eigenen Gegenstand verlieren müsste. [<<46]
Es gehört zu den zentralen Gedankengängen von Jürgen Habermas, dass dies keine Option darstellt. Der Begriff des Handelns lässt sich nicht von seinen ‚traditionellen‘ Kriterien lösen. Diese Behauptung entnimmt Habermas einer Theorie über das Handeln, die gerade auf die Bedingungen der wissenschaftlichen Untersuchung des Handelns reflektiert. Soll eine Wissenschaft vom Handeln möglich sein, so muss jenes ‚deutende Verstehen‘, von dem Max Weber sprach, seinen sprachlichen Ausdruck finden können. Das formuliert eigentlich nur die triviale Einsicht, dass wir es in der Wissenschaft mit sprachlichen Ausdrücken allgemeiner Zusammenhänge zu tun haben. Aber es gibt eine noch fundamentalere Bedingung für eine solche wissenschaftliche Untersuchung von Handlungen: Einen ‚subjektiven Sinn‘ (wiederum nach Max Weber) kann die Soziologie nur auffinden, wenn die Handelnden diesen Sinn selbst sprachlich ausdrücken können. Anders können sie nicht als Subjekte aufgefasst werden, die einen ‚subjektiven Sinn‘ demonstrieren können.
Das bedeutet aber keineswegs, dass sich die Soziologie auf ein ‚verstehendes‘ Vorgehen konzentrieren müsste und etwa soziales Handeln durch ‚Nachempfinden‘ oder ‚Empathie‘ beschreiben sollte. Ihre Aufgabe besteht durchaus darin, zu Erklärungen zu kommen, d. h. zum Aufstellen von allgemeinen Gesetzen, aus denen einzelne soziale Phänomene abgeleitet werden können, so dass wir sie dann als ‚erklärt‘ bezeichnen. Nichtsdestoweniger hat sie einen Gegenstand, der sich von denjenigen der Naturwissenschaften dadurch unterscheidet, dass er sich durch das Verbinden von subjektivem Sinn mit Verhalten – das dadurch zu einer Handlung wird – auf sich selbst beziehen können muss. Er unterscheidet sich aber auch von dem Gegenstand der sog. ‚Humanwissenschaften‘ oder auch der sog. ‚Geisteswissenschaften‘, weil die Soziologie es nicht mit ‚Menschen‘ oder ‚Individuen‘ und deren geistigen Produktionen wie Literatur oder Kunst zu tun hat, sondern mit Akteuren, also handelnden Subjekten.
Versuchen wir, die wichtigen Besonderheiten von Handlungen, die diese von Verhalten unterscheiden, durch einige Kriterien zusammenzufassen. Dabei geht es immer darum, dass der wissenschaftliche Beobachter einem handelnden Individuum das Vorliegen solcher Auszeichnungen zuschreibt, und zwar zunächst so, dass dieses Individuum sich selbst darin zu sich selbst verhält:
• Ein beobachtbares Verhalten ist mit einer Absicht verbunden;
• der Handelnde verbindet damit das Bewusstsein, er hätte dieses Verhalten auch lassen können, er fasst sich also als frei auf, dazu gehört auch, dass er eine Kontrolle über die mit diesem Verhalten verbundenen Bewegungen hat;