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So sind als Anspruchsvoraussetzungen für Hilfen zur Erziehung gem. §§ 27 ff. SGB VIII sowohl der erzieherische Bedarf zu bestimmen, als auch die Frage zu klären, ob die Hilfe zur Erziehung geeignet und notwendig ist.
Oftmals kommt zudem auch ein organisationsbedingter Kontrollauftrag hinzu. Die im Feld der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Fachkräfte beispielsweise haben gem. § 1 Abs. 3 SGB VIII auch den Auftrag, Kinder und Jugendliche vor Gefahren für ihr Wohl zu schützen.
Die von Laura in ihrer Arbeit mit den Familien beobachteten Unterschiede in der Organisation der Arbeit können also auf die unterschiedlichen Aufträge von Jugendamt und Wohngruppe zurückgeführt werden: Während die Fachkräfte der Wohngruppe insbesondere den Auftrag haben, die stationäre Hilfe entsprechend der im Hilfeplan vereinbarten Ziele zu erbringen, haben die Fachkräfte des Jugendamtes vor allem den Auftrag, Anspruchsrechte zu prüfen, Hilfen zu gewähren und mögliche Kindeswohlgefährdungen zu erkennen.
An diesen unterschiedlichen Aufträgen lässt sich gleichzeitig eine Herausforderung für die Organisationsgestaltung in der Sozialen Arbeit verdeutlichen: die Balance zwischen administrativ-zweckrationalen Strukturen auf der einen und Hilfebeziehungen ermöglichenden Strukturen auf der anderen Seite. Dabei müssen insbesondere die Strukturen und Abläufe der öffentlich-rechtlichen Organisationen der Sozialen Arbeit, die als Teil der Leistungsverwaltung eher bürokratisch verfasst sind, eine Verfahrenssicherheit in Bezug auf die Prüfung bestehender Ansprüche sowohl für die Zielgruppen als auch für die handelnden Fachkräfte gewährleisten. Daneben muss mit Hilfe von Struktur- und Ablaufvorgaben generell sichergestellt werden, dass die Fachkräfte in komplexen Hilfe- und Unterstützungsbedarfen den Überblick nicht verlieren und damit auch ihrem Kontrollauftrag gerecht werden können.
Die von Laura im Jugendamt wahrgenommene Formalisierung und die Regelungsdichte der Abläufe können somit einerseits als genereller Ausdruck des Willens zur Organisationsgestaltung gedeutet werden. Sie können jedoch andererseits auch darauf zurückgeführt werden, dass die Organisation Jugendamt ihre Aufgaben generell – und insbesondere ihre Leistungsentscheidungen und Kontrollaufträge – mit Regeln und Vorgaben zum Verfahren und zur Dokumentation absichert.
Dabei dürfen die Strukturen und Abläufe jedoch nicht starr und überorganisiert sein. Stattdessen müssen sie sich durch ein angemessenes Verhältnis von Vorgaben einerseits und Flexibilität andererseits auszeichnen. Erst dann kann es gelingen, dass die Fachkräfte der Sozialen Arbeit die spezifische Situation und die jeweiligen Bedürfnisse berücksichtigen und damit der Einmaligkeit des Einzelfalls auch tatsächlich gerecht werden können.
Ein eindrückliches Beispiel, welche Folgen die Überbetonung von möglicherweise bürokratischen Strukturen im Zusammenhang mit der Deutung und Erfassung individueller Lebenssituationen haben kann, liefert der 2016 unter der Regie von Ken Loach entstandene Film „Ich, Daniel Blake“. Der Protagonist des in England spielenden Films, Daniel Blake, beantragt aufgrund eines Herzinfarktes Sozialhilfe. Sein Antrag wird jedoch trotz ärztlichen Arbeitsverbots abgelehnt, sodass er sich gezwungen sieht, einen Antrag auf Arbeitslosenhilfe zu stellen. Arbeitslosenhilfe wird jedoch nur bei dem Nachweis täglicher Bemühungen um Arbeit bewilligt. Insgesamt sind die Antragstellung und die Strukturen des Unterstützungssystems so kompliziert und verwirrend, dass Daniel Blake fast an ihnen verzweifelt. Vor einer endgültigen Entscheidung über seine Anträge auf Unterstützung verstirbt Daniel Blake an einem erneuten Herzinfarkt.
Organisation wird aus dieser Perspektive zu mehr als nur einem Ort oder einer Rahmenbedingung institutionalisierter Sozialer Arbeit. Vielmehr leistet Organisation, im Sinne eines strukturellen Garanten (Busse et al. 2016), einen wichtigen Beitrag für eine professionelle Soziale Arbeit. Organisation hat den Auftrag, professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit zu unterstützen. Um diesen Anspruch jedoch einlösen zu können, sind die Fachkräfte der Sozialen Arbeit gefordert, organisationstheoretisches Wissen für die Gestaltung der Strukturen und Abläufe in ihrer Praxis fruchtbar zu machen. Auf der Seite der (angehenden) Fachkräfte der Sozialen Arbeit bedarf es also nicht nur eines allgemeinen strukturellen Organisationswissens, sondern auch einer differenzierten Sicht auf den Gegenstand Organisation (Grunwald 2018), einer Auseinandersetzung mit den „Eigengesetzlichkeiten dieses Typus sozialer Systeme“ (Bommes / Scherr 2012, 189) und damit eines spezifischen Organisationswissens. Daher sollten sich die Fachkräfte auch mit Organisation in der Sozialen Arbeit auseinandersetzen. Erst dann können Organisationen verstanden und in der Praxis der Sozialen Arbeit Strukturen und Abläufe und damit Organisationen etabliert und entwickelt werden, die die fachlichen Erfordernisse der Sozialen Arbeit reflektieren, möglichst im Einklang mit diesen stehen und sich somit ermöglichend und nicht be- oder gar verhindernd auf das professionelle Handeln der Fachkräfte auswirken. Zusammengenommen werden allgemeines und spezifisches organisationsbezogenes Wissen zu einem unverzichtbaren Bestandteil einer „reflexiven Professionalität“ (Dewe / Otto 2012, 197), die stets gefordert ist, differentes Wissen unterschiedlicher Herkunft in ihre Überlegungen einzubeziehen (Abb. 1).
Mit reflexiver Professionalität wird die Fähigkeit von SozialarbeiterInnen bezeichnet, in Abhängigkeit zur konkreten Situation und zum konkreten Kontext sowohl auf unterschiedliches Wissen zurückgreifen, als auch diese unterschiedlichen Wissensinhalte wechselseitig aufeinander beziehen zu können und davon ausgehend mit den AdressatInnen in einen Verständigungsprozess über Problemdefinition und Lösungsmöglichkeiten zu kommen (Dewe / Otto 2012).
Abb. 1: Organisation(en) in der Sozialen Arbeit, Wissensbestandteile einer reflexiven Professionalität
Abschließend soll noch darauf hingewiesen werden, dass dieses Lehrbuch neben der Vermittlung von allgemeinem und spezifischem Organisationswissen auch zum Ziel hat, die Neugierde und Begeisterung für das Abstraktum „Organisation“ und die damit verbundenen theoretischen Perspektiven und praktischen Herausforderungen für die Soziale Arbeit zu wecken.
Überlegen Sie, welche organisatorischen Strukturen und Abläufe Sie bislang in der Praxis der Sozialen Arbeit kennengelernt haben. Haben diese Ihr Handeln eher unterstützt oder behindert? Welchen Zusammenhang zwischen sozialpolitischen Aufträgen an die Organisation und ihren organisatorischen Regelungen haben Sie beobachtet?
Welchen Formalisierungsgrad und welche Regelungsdichte haben Sie in der Praxis kennengelernt? Inwiefern erschienen Ihnen diese sinnvoll, wann hatten Sie Zweifel an der Angemessenheit?
Erkunden Sie in Ihrem fachlichen Umfeld die Einstellungen zu Organisation in der Sozialen Arbeit. Welche Bedeutung wird Organisation in der Sozialen Arbeit von (langjährigen) PraktikerInnen beigemessen?
Für die filmbegeisterten unter Ihnen: Sehen Sie sich den Film „Ich, Daniel Blake“ von Ken Loach (2016) an. Diskutieren Sie die Erlebnisse von Daniel Blake. Welches (Miss-)Verhältnis zwischen administrativ-bürokratischen Strukturen auf der einen und Hilfebeziehung ermöglichenden Strukturen auf der anderen Seite können Sie beobachten?
Busse, S., Ehlert, G., Becker-Lenz, R., Müller-Hermann, S. (2016): Einleitung: Professionelles Handeln in Organisationen. In: Busse, S., Ehlert, G., Becker-Lenz, R., Müller-Hermann, S. (Hrsg.): Professionalität und Organisation. Springer, Wiesbaden, 1–11
Loach, K. (2016): Ich, Daniel Blake
Staub-Bernasconi,