und Handeln nach Vorstellungen von »Freund« und »Feind«. Samuel Huntington zog daraus den Schluss, dass die modernen internationalen Beziehungen in einer Konfrontation von Zivilisationen (d. h. Wertegemeinschaften) mündeten (Huntington 1996) (
Völkerrecht
Es ist also durchaus denkbar, dass Staaten als Akteure ihr Verhalten in internationalen Beziehungen an gemeinsamen Normen und Regeln16 ausrichten. Die Vorstellungen von »richtig« und »falsch«, »gut« und »böse« beruhen zu einem guten Teil auf solchen gemeinschaftlichen Normen. Im Bereich der internationalen Beziehungen ist das Völkerrecht das augenfälligste Beispiel. Darunter fallen nicht nur alle schriftlich niedergelegten Übereinkünfte, sondern auch die weitverbreiteten und praktizierten Gewohnheiten im Leben internationaler Beziehungen. Die spannende Frage ist deshalb, wie solche Normen entstehen, wenn es in internationalen Beziehungen keine Autorität gibt, die verbindlich Gesetze verabschieden kann.
Normentstehung
Überredungskunst
In Abbildung 2.4 ist vereinfacht dargestellt, wie internationale Normen entstehen (Finnemore/Sikkink 1998). Dieser Prozess kann in drei Phasen eingeteilt werden: In der ersten Phase muss sich ein sogenannter Normunternehmer aufschwingen, die Bildung einer neuen Norm anzustoßen. Zu diesem Zweck wird er auf ein Problem hinweisen und dessen Dringlichkeit unterstreichen. Sein herausragendes Ziel ist, eine öffentliche Resonanz zu erzeugen und möglichst viel zustimmende Unterstützung für seinen Normvorschlag zu sammeln. Dabei wird er häufig auf Widerstand treffen. Dieser Widerstand wird meist auf bestehende Normen gründen. Der Normunternehmer muss deshalb aufzeigen, dass die alten Normen falsch oder illegitim sind und/oder Probleme schaffen. Mit viel Überredungskunst und Überzeugungskraft muss er die Überlegenheit seiner neuen Norm nachweisen, so dass er breite Unterstützung erhält. Dabei kann er auch Strategien wählen, die von gezieltem »unangemessenem« Handeln bis zum organisierten zivilen Widerstand reichen.
Abb. 2.4 | Lebenszyklus von Normen
Quelle: Finnemore/Sikkink (1998, Übersetzung ChT).
Kipppunkt
Normkaskade
Die Bemühungen des Normunternehmers in Phase eins erfordern einen langen Atem, denn diese Phase kann sehr lange dauern. Der sogenannte Kipppunkt ist erreicht, wenn ungefähr ein Drittel der relevanten Akteure – Staaten in internationalen Beziehungen – der neuen Norm des Normunternehmers zustimmen. Es folgt die Phase zwei, die Normkaskade. In dieser sehr viel kürzeren Phase akzeptieren immer mehr Staaten die neue Norm, ohne dass sie dazu unter innenpolitischen Druck gesetzt werden müssen. Staaten wollen andere nachahmen oder werden von deren Verhaltensweisen nach der neuen Norm »angesteckt«. Sie werden gemäß der neuen Norm in der Staatengemeinschaft neu sozialisiert: Um nach wie vor zur Gemeinschaft zu gehören und um ihre Legitimität als Mitglied zu bewahren, werden sie sich der neuen Norm anschließen und unterwerfen. Normunterstützer machen sich dabei auch den sogenannten Bumerang-Effekt (
Norminternalisierung
Die dritte Phase ist die sogenannte Norminternalisierung. Dies bedeutet, dass die neue Norm zu einer gewohnheitsmäßigen Selbstverständlichkeit wird. Akteure richten sich nach ihr, ohne über die Gründe oder Alternativen nachzudenken. Damit ist die Norm tief in das Unterbewusstsein eingedrungen. Sie gibt an, was das »richtige« Verhalten ist. Zusammen mit einer internationalen Forschungsgruppe hat Thomas Risse (Risse/Ropp/Sikkink 1999; 2013) dieses einfache Modell zum sogenannten »Spiralmodell« weiter verfeinert (
Zusammenfassung
Konstruktivismus
Der Konstruktivismus konzentriert sich auf die Frage, wie menschliches Bewusstsein und soziale Vorstellungswelten politisches Handeln beeinflussen. Wie wirken sich Vorstellungen von »richtig« oder »falsch«, »gut« oder »böse« auf Handeln aus? In Abgrenzung vom Rationalismus werden immaterielle Ursachen in die Analyse Internationaler Beziehungen eingeführt. Was Menschen als »richtig« oder »falsch« betrachten, folgt aus ihrer sozialen Identität. Diese Identität ist geprägt von der Identifikation des Einzelnen mit sozialen Gruppen, die eine Gemeinschaft mit einem »Wir«-Gefühl bilden und sich damit gleichzeitig von anderen Gruppen abgrenzen. Gemeinschaften beruhen vor allem auf praktizierten Normen, die sich im Zuge eines zyklischen Normbildungsprozesses herausgeschält haben.
Lernkontrollfragen
1.Warum benutzen Forscher Theorien Internationaler Beziehungen? Wozu dienen diese Theorien; warum sind sie zweckmäßig?
2.Was ist der wichtigste Unterschied zwischen internationalen Beziehungen einerseits und Innenpolitik andererseits?
3.Worin liegen die Schwierigkeiten bei der Messung des Machtpotentials von Staaten?
4.Aus welchen Gründen halten Institutionalisten das Zustandekommen von Kooperation in internationalen Beziehungen für wahrscheinlicher als Neorealisten?
5.Warum führt die Senkung von Transaktionskosten in internationalen Beziehungen zu Kooperation?
6.Welche Eigenschaften von Winsets beeinflussen die Kooperationswahrscheinlichkeit in internationalen Beziehungen?
7.Woher wissen Akteure, was »richtig« oder» falsch ist, wer »Freund« oder Feind« ist?
8.Worin unterscheiden sich die Logik der Angemessenheit und die Logik der Konsequenz?
Weiterführende Literatur
Krell, Gert (2009), Weltbilder und Weltordnung. Einführung in die Theorie internationaler Beziehungen, 4. Aufl., Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft.
Meyers, Reinhard (1979), Weltpolitik in Grundbegriffen. Ein lehr- und ideengeschichtlicher Grundriß, Düsseldorf: Droste Verlag.
Reus-Smit, Christian/Snidal, Duncan, Hrsg., (2010), The Oxford Handbook of International Relations, Oxford, UK: Oxford University Press.
Schieder, Siegfried/Spindler, Manuela, Hrsg., (2006), Theorien der Internationalen Beziehungen, 2. Aufl., Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.
3 | Krieg und Frieden — Verteilungskonkurrenz und -konflikt