Orientierung sucht, wann er wen duzen darf, wie eine angemessene Entschuldigung formuliert sein sollte oder wie man eine höfliche Mail formuliert, der wird nicht auf seine Kosten kommen.
Nach langen Überlegungen haben die Autorin und der Autor sich entschlossen, eine Version der gendergerechten Sprache zu wählen, die eben gendergerecht ist, aber den Lesefluss nicht stört und stilistisch unauffällig ist. Diese Lösung besteht aus der Verwendung des Binnen-I und beider Artikel (maskulin und feminin) im Singular: Mit „der/die LeserIn“ sind also Personen jeglichen Geschlechts gemeint. Häufig wird auch der Plural verwendet oder, wenn es sich im jeweiligen Kontext anbietet, auch andere Formen, die gendergerecht und leser(innen)freundlich sind oder mit denen das zumindest angestrebt wird.
Urbino und Wuppertal, im April 2021
2 Höflichkeit im Alltagsverständnis
Über Höflichkeit denkt man im Alltag normalerweise nicht nach; vielmehr wird uns das Phänomen erst dann bewusst, wenn wir Verstöße dagegen empfinden: ein Dank, der ausbleibt, ein Gruß, der kaum erwidert wird, eine Anrede, die wir als unangemessen empfinden. Höflichkeit im Alltag zu definieren, fällt daher schwer und erfolgt zumeist durch Ersatzbegriffe, etwa Benehmen, Respekt, Anstand, guter Ton. Ein Blick in allgemeine Wörterbücher sollte weiterhelfen, um zu einem ersten Eindruck zu gelangen, was Höflichkeit im Alltagsverständnis ist.
2.1 Höflichkeit in Wörterbüchern
Mittlerweile greifen die meisten Ratsuchenden zu digitalen Wörterbüchern, z.B. zum Online-Duden. Dort findet man als Bedeutungsübersicht:
1 Höfliches, gesittetes BenehmenBenehmen; ZuvorkommenheitZuvorkommenheit.
2 In höfliche, jemanden schmeichelnde Worte gekleidete, freundlich-unverbindliche LiebenswürdigkeitLiebenswürdigkeit, die jemand einem anderen sagt. (Duden online)
Hinzugefügt werden ganze siebenundzwanzig Synonyme zu Höflichkeit, darunter: eine gute Kinderstube, RitterlichkeitRitterlichkeit, Schliff, ZartgefühlZartgefühl, bildungssprachlich auch: KonzilianzKonzilianz, ZivilitätZivilität und veraltend: CourtoisieCourtoisie, ArtigkeitArtigkeit, PolitessePolitesse. Aus der Aufzählung der Synonyme lässt sich schließen, dass Höflichkeit anscheinend etwas mit Bildung und Erziehung zu tun hat.
Ausführlicher erläutert die freie Enzyklopädie Wikipedia:
Die Höflichkeit oder Zivilisiertheit ist eine Tugend, deren Folge eine rücksichtsvolle Verhaltensweise ist, die den Respekt vor dem Gegenüber zum Ausdruck bringen soll. Ihr Gegenteil ist die GrobheitGrobheit oder BarbareiBarbarei. Sozial gehört sie zu den Sitten, soziologisch zu den sozialen Normen. Das Wort hat sich aus dem Begriff ‚höfischhöfisch‘ entwickelt, das die Lebensart am frühneuzeitlichen Hof bezeichnete. (Wikipedia: „Höflichkeit“)
Hier wird Höflichkeit mit ZivilisiertheitZivilisiertheit gleichgesetzt und darüber hinaus als eine Tugend klassifiziert. Als Gegenteil wird Grobheit oder Barbarei genannt.
Zu der im Alltag so viel auffälligeren Unhöflichkeit geben Wörterbücher vergleichsweise wenig Aufschluss. Der Online-Duden vermittelt quasi tautologisch als Bedeutungsübersicht:
1 Das Unhöflichsein
2 Unhöfliche Handlungen, Äußerungen. (Duden online)
Die freie Enzyklopädie Wikipedia hält als Bedeutungen fest: „ungesittetes, beleidigendes oder unangebrachtes Verhalten“ (Wiktionary: „Unhöflichkeit“).
Die Befragung von allgemeinen Wörterbüchern hat uns nicht sonderlich weit gebracht: Zivilisation, Erziehung und Bildung sowie kulturelle Verständnisweisen umfassen ein weitgespanntes und vages Bedeutungsfeld, das überdies stark vom subjektiven Ermessen abhängig zu sein scheint. Anscheinend fällt es den meisten Menschen leichter, Höflichkeit als Attribut mit bestimmten Verhaltensweisen zu verbinden und dafür Beispiele anzugeben wie:
sich bei jemandem zu bedanken, der einem einen Gefallen getan hat,
jemanden, den man trifft, zu grüßen,
beim Essen die Gabel in der linken und das Messer in der rechten Hand zu halten,
während eines wichtigen Gesprächs keine Telefonanrufe entgegenzunehmen.
Es geht dabei also immer um sprachliche oder nicht-sprachliche Handlungen oder Unterlassungen. Eine der Gemeinsamkeiten der betreffenden Handlungen liegt darin, dass sie nicht unbedingt als natürliche, angeborene Verhaltensdispositionen der Menschen angesehen werden können, sondern als erlernt, als Produkte von Kultur, Zivilisation und Erziehung. Sie werden dem Individuum durch gesellschaftliche Regeln oder Zwänge beigebracht (oder aufgezwungen?). Viele Menschen denken hierbei sofort an Handbücher, Regelwerke oder Ratgeber, in denen solche Vorschriften aufgelistet und erklärt werden, in denen die sog. Etikette expliziert wird.
2.2 Höflichkeit in der Ratgeberliteratur: KniggeKnigge als „Säulenheiliger“?
Ein Blick in die Kataloge deutschsprachiger Verlage und in die Regale von Buchhandlungen macht schnell klar, dass Höflichkeit, im alltagsprachlichen Sinne als Verhaltenskodex verstanden, wieder ein Thema von hoher gesellschaftlicher Bedeutung geworden ist. BücherproduzentInnen in Deutschland machen offenbar einen gestiegenen Beratungsbedarf in Bezug auf Höflichkeit und Benehmen aus.
Auch der Dudenverlag hat einen Deutsch-Knigge veröffentlicht, in dem man – laut Untertitel – erfährt, wie man sicher formuliert, sicher kommuniziert und sicher auftritt. Viele Titelformulierungen enthalten darüber hinaus Erfolgsversprechen für gesellschaftliche Problemsituationen.
Einige Beispiele aus den letzten Jahren sollen verdeutlichen, dass Bücher wie diese offensichtlich mit einer regen Nachfrage rechnen können und was sie eigentlich behandeln:
Der Deutsch-Knigge (Duden 2008)
Der neue große Knigge: Gutes Benehmen und richtige Umgangsformen (Schneider-Flaig 2008)
Der China-Knigge: Eine Gebrauchsanweisung für das Reich der Mitte (Häring-Kuang/Kuan 2012)
Knigge im Job. So machen Sie immer eine gute Figur (Wolff 2006)
Business-Knigge – Die 100 wichtigsten Benimmregeln (Quittschau/Tabernig 2019)
Der große GU-Knigge (Bonneau 2008)
Über den Umgang mit E-Mails: Der Scholz & Friends E-Mail-Knigge (Scholz & Friends 2009)
Knigge, Kleider und Karriere: Sicher auftreten mit Stil und EtiketteEtikette (Nagiller 2004)
Ess- und Tisch-Knigge: Nie wieder peinlich! (Witt 2004)
Business Knigge international: Der Schnellkurs (Oppel 2015)
Das Benimm-ABC: Knigge für junge Leute von heute (Griesbeck 2010)
Sex-Knigge für Frauen: Ein Mann verrät, wie Sie die perfekte Liebhaberin werden (van Amstel 2004)
Knigge für Dummies (Gillmann 2015)
Jugend-Knigge 2100: Knigge für junge Leute und Berufseinsteiger (Hanisch 2020)
Schon ein kurzer Blick auf die Titel zeigt, worum es hier geht: Das Verhalten in Gesellschaft anderer (z.B. beim Essen und in der Liebe), das Verhalten in beruflichen Situationen, den Sprachgebrauch in Briefen und anderen Texten, das Verhalten im Ausland. In diesen Bereichen kommen Menschen immer wieder in Situationen, in denen sie den Eindruck haben, dass sie nicht tun und lassen können, was sie wollen, sondern dass sie sich an vorgegebene VerhaltensstandardsVerhaltensstandard halten sollten, wenn sie die Situation erfolgreich meistern wollen. Wenn man etwas falsch macht, dann wird es peinlich, man gefährdet die eigene Reputation und den kommunikativen Erfolg im jeweiligen Kontext. Hier besteht also Orientierungsbedarf. Die Gesellschaft vermittelt über solche Bücher (oder analoge Angebote im