Claus Ehrhardt

Sprachliche Höflichkeit


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wie die hier angesprochenen repräsentieren eine wichtige Strömung des Diskurses und ein weit verbreitetes Unbehagen an der Entwicklung der Gesellschaft.

      Aus wissenschaftlicher, insbesondere sprachwissenschaftlicher Sicht sind solche Beiträge zuerst einmal deswegen interessant, weil sie ein weiteres Element einer Rekonstruktion alltagssprachlicher Höflichkeitsbegriffe darstellen. Sie sind aber aus vielen Gründen auch diskussionswürdig:

       Zunächst kann man sich natürlich darüber streiten, ob solche Beobachtungen in irgendeiner Weise und für irgendetwas repräsentativ sind. Analysen der gesellschaftlichen Realität in Deutschland kommen in einigen Fällen eben auch zu ganz anderen Einschätzungen. Gerade in öffentlichen Verkehrsmitteln kann man durchaus auch erleben, dass die Menschen sehr viel aufmerksamer und rücksichtsvoller miteinander umgehen als noch vor 25 Jahren. Die Diagnose von Mießgang und anderen ist zumindest sehr selektiv und subjektiv. Die empirische Grundlage für pessimistische Lamenti besteht wohl eher aus unsystematisch zusammengestellten Anekdoten.

       Diese Erzählungen müssen darüber hinaus in ihrem Kontext gelesen werden: Die Epoche, um die es in den Büchern geht, zeichnet sich u.a. dadurch aus, dass Gesellschaften in vielerlei Hinsicht komplexer geworden sind und dass das Alltagsleben der Individuen in einem viel höheren Maße mit dem von anderen Menschen verwoben ist als dies noch vor wenigen Jahrzehnten der Fall war. Die Anzahl der zwischenmenschlichen Kontakte mit Unbekannten im alltäglichen Leben hat sich erhöht. Das führt naturgemäß zu mehr Spannungen, Problemen und Krisen. Wo der Radverkehr zunimmt, entstehen beispielsweise Konkurrenzsituationen zwischen RadfahrerInnen und AutofahrerInnen bzw. FußgängerInnen. Diese entladen sich dann manchmal in Konflikten, die auch auf unhöfliche Weise ausgetragen werden. Es ist aber sicher übertrieben, daraus abzuleiten, dass wir einer Art Epidemie der Unhöflichkeit beiwohnen.

       Klagen über den Verfall der Umgangsformen lassen sich soziologisch ziemlich genau verorten und entspringen dem Interesse bestimmter gesellschaftlicher Gruppen sowie deren Anspruch auf kulturelle Hegemonie. Gärtner/Roth (2013, 23) zitieren zustimmend die Bemerkung des Journalisten Andreas Altmann: „Bisweilen überkommt mich das Gefühl, daß der Prolo die Weltherrschaft übernommen hat.“ Ähnlich kommt im obigen Zitat Mießgangs Verweis auf die Proleten aller Länder daher. Höflichkeit und Unhöflichkeit werden also als vorherrschende Verhaltensdispositionen bestimmter gesellschaftlicher Gruppen vorgestellt: Unhöflichkeit ist proletarisch, Höflichkeit bürgerlich (auch wenn das nicht explizit gesagt wird). Diese Argumentation legt den Verdacht nahe, dass gutbürgerliche Autoren die Umgangsformen der eigenen sozialen Gruppe zur einzig richtigen und sinnvollen Version erklären und alles, was davon abweicht, diskreditieren. Die Debatte um Höflichkeit wird zu einem Mittel in der innergesellschaftlichen Auseinandersetzung um Normen und Standards. Dieser Zusammenhang muss noch vertiefend diskutiert werden.

       Die von solchen Autoren beschriebenen und in Zusammenhang mit der Kultur der Unhöflichkeit gestellten Phänomene sind sehr heterogen. Es geht, um nur einige Stichworte zu nennen, um Bereiche wie Kommunikation in Massenmedien (Unhöflichkeiten in TalkshowTalkshows, Castingshows, Shitstorms im Internet und „digital rudenessdigital rudeness“), Straßenverkehr (aggressive AutofahrerInnen usw.), Politik (rüde Umgangsformen bis hin zu körperlichen Auseinandersetzungen in Parlamenten), Mode (Jeans und Turnschuhe werden in immer mehr Kontexten getragen), Erziehung (Respektlosigkeit in Schule und Universität) oder Organisation von Arbeit und Konkurrenz in der Wirtschaft („Ellenbogengesellschaft“, MobbingMobbing, Formen der Austragung von Konflikten in Unternehmen). Kann man wirklich sagen, dass das alles mit (Un)Höflichkeit zu tun hat und dass der angebliche Verfall der Höflichkeit das geheime Zentrum all der hier angedeuteten negativen Entwicklungen in der Gesellschaft ist? Vielleicht liegt hier auch eine Überbewertung von Höflichkeit vor. Es mag durchaus plausibel sein, dass durch das Ausbleiben oder Wegfallen von Höflichkeit gesellschaftliche Konflikte verstärkt werden; es ist aber zweifelhaft, ob solche Entwicklungen allein auf veränderte Kommunikationsgewohnheiten heruntergebrochen werden können.

       Solche Argumentationen immunisieren sich gegen Einwände, indem sie Momente, in denen sich traditionelle Höflichkeit tatsächlich weiter durchzusetzen scheint, auch wieder in einem negativen Licht präsentieren: Mießgang beschreibt auch das Phänomen, dass KundInnen in Geschäften in den letzten Jahren immer freundlicher begrüßt und bedient werden, dass die MitarbeiterInnen von Einzelhandelsbetrieben durchschnittlich höflicher sind als noch vor wenigen Jahren. Auch das wird aber kritisch als Gespenst der guten Laune klassifiziert, das in der Arbeitswelt umgeht, als „Wellnessvirus“ oder als „Lächelmaske“ (vgl. Mießgang 2013, 105), die wiederum Teil der Konstruktion einer Fassade sind: „Die auf den ersten Blick erfreuliche Anhebung des Höflichkeitsniveaus in jenen gesellschaftlichen Kontaktzonen, wo Verkäufer und Konsument aufeinandertreffen, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als besonders perfide Form der Missachtung des Gegenübers“ (Mießgang 2013, 106). Den KundInnen wird etwas vorgespielt, was in Wirklichkeit nicht existiert. Höflichkeit wird zu einer Art Lüge, die zu verurteilen ist und die dann in einer folgenden Passage auch explizit in die Nähe von Prostitution gerückt wird.

      Zwar können in der populärwissenschaftlichen Debatte keine begrifflichen Differenzierungen erwartet werden. Doch leidet aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Diskussion auch darunter, dass Höflichkeit ganz offensichtlich mit verschiedenen Facetten von (z.B.) Respekt, Anstand, Freundlichkeit, Rücksichtnahme, Umgangsformen identifiziert wird. Der Höflichkeitsbegriff bleibt deswegen schwammig und beliebig. Es muss eine Aufgabe der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen sein, den Begriff besser zu konturieren, in einen wissenschaftlichen Zusammenhang zu rücken und genauer zu sagen, wovon eigentlich die Rede ist. Eine differenziertere Darstellung zur Höflichkeit ist von Rainer ErlingerErlinger vorgelegt worden (2016a). In Abgrenzung zum Begriff der Etikette wird der Wert einer wertlosen Tugend von seinen „Rändern“ her (u.a. Mode, Beruf, Internet, Religion) in seiner gesellschaftlichen Bedeutung eingekreist.

      Insgesamt zeigen die öffentlichen und vorwissenschaftlichen Ausführungen über Höflichkeit, die hier exemplarisch betrachtet wurden, dass es sich um ein gesellschaftlich virulentes Thema handelt, welches einiges an Streitpotential mit sich bringt. Höflichkeit ist umstritten: Man kann darüber diskutieren, welche Verhaltensweisen höflich sind und welche nicht, man kann aber auch über die Funktion bzw. den Stellenwert von Höflichkeit in der sozialen Interaktionsoziale Interaktion streiten. Nicht zuletzt sind Tendenzen in der Entwicklung von Höflichkeit Gegenstand von Debatten. Es handelt sich um ein Thema, das für Individuen geeignet ist, um sich zu positionieren und von anderen abzugrenzen.

      Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich aber kein klarer Begriff von Höflichkeit. Als höflich wird es bezeichnet, wenn man jemandem die Tür aufhält, PartnerInnen nicht unterbricht, grüßt, lächelt, freundlich ist, sich entschuldigt, sich richtig anzieht, die richtige Anrede wählt, Kommandoton vermeidet und vieles andere mehr. Der alltagssprachliche Höflichkeitsbegriff ist sehr stark an einer Idee von Etikette, von „To-do-AnweisungenTo-do-Anweisungen“ orientiert, also an Normen und Regeln. Es gibt nur einige wenige Versuche, Höflichkeit als darüber hinaus gehendes Organisationsprinzip des gesellschaftlichen Zusammenlebens und grundlegendere Verhaltensdisposition aufzufassen. Aber: auch da, wo (wie in den Publikationen der Knigge-Gesellschaft) betont wird, dass Höflichkeit viel mehr ist als das Befolgen von vorgegebenen Prozeduren für die Bewältigung bestimmter Situationen, bleibt immer unklar, was mit diesem Mehr genau gemeint ist.

      2.5 (Un)Höflichkeit im Gebrauch

      Wenn man herausfinden will, was Sprecher des Deutschen unter ‚Höflichkeit‘ verstehen, dann kann man sich auf seine Intuition als kompetenter Sprecher verlassen und zusammentragen, was man selbst über das Phänomen weiß und was man über die diesbezüglichen Vorstellungen seiner Mitmenschen in Erfahrung bringen kann. Vor allem bei Letzterem kann man sich natürlich nur auf das konzentrieren, was diese Mitmenschen sagen und schreiben. Einen direkten Zugang zu ihren Gedanken oder sonst einen Weg in ihren Kopf findet man nicht. Mit einem solchen Vorgehen kann man zu guten Ergebnissen kommen. Es birgt aber auch die Gefahr, unnötig selektiv und subjektiv zu sein: Man erfasst nur, was einem schon bekannt ist und riskiert, wesentliche Aspekte, die einem in einem bestimmten Moment nicht besonders präsent