Claus Ehrhardt

Sprachliche Höflichkeit


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formulierte Briefe an den Präsidenten der Vereinigten Arabischen Emirate und fordern Sie ihn auf, Mohamed Abdullah al-Roken unverzüglich und bedingungslos freizulassen und das gegen ihn verhängte Urteil aufzuheben (NUN14/APR.01348 Nürnberger Nachrichten, 11.04.2014, 27).

      (4) Umso lustiger wirkt die Behauptung der Anwälte der Gefeuerten, die Banker könnten weiter beschäftigt werden, weil das Vertrauen zu ihrem Arbeitgeber nicht gestört sei. Damit das so bleibe, habe man sich bemüht, die Schriftsätze besonders höflich zu formulieren. Nur wegen des Wunsches ihrer Mandanten, weiterbeschäftigt zu werden, so die Juristen, ‚sollen hier deutlichere Worte zu dem Vorgehen der Beklagten […]‘ (Z13/DEZ.00258 Die Zeit online, 19.12.2013).

      Formulieren ist ein transitives Verb. Man formuliert immer etwas: ein Anliegen, einen Brief oder einen Schriftsatz. Die Beispiele zeigen, dass die Kombination von formulieren und dem Adverb höflich so gut wie immer darauf verweist, dass das Objekt der Formulierung im soeben angesprochenen Sinn eine gesichtsbedrohende Handlung darstellt. Ein Anliegen (Beispiel 2) hat viele Ähnlichkeiten mit einer Bitte. Der Brief, um den es im Beispiel (3) geht, ist eine Aufforderung, noch dazu an einen Repräsentanten eines fremden Staates gerichtet und in (4) geht es um rechtliche Aktionen von Mitarbeitern gegen ihren Arbeitgeber, also um Handlungen, die nicht nur, aber auch das Gesicht des Adressaten bedrohen. Höflich formuliert wird also vorzugsweise dann verwendet, wenn eine einfache Formulierung zu Problemen auf der Beziehungsebene führen könnte. Wenn jemand sagt, der Autor habe, höflich gesagt, Unsinn geschrieben, dann gibt er damit deutlich zu verstehen, dass er eigentlich der Meinung ist, eine stärkere Formulierung wäre angemessener, diese aber nicht wählt, um niemandem zu nahezutreten. Höflichkeit ist hier also eine Art prophylaktische Einschränkung oder Abschwächung einer Handlung, die ohne diesen Zusatzaspekt das kommunikative Gleichgewicht zwischen den handelnden Personen gefährden würde.

      Etwas anders verhält es sich mit danken:

      (5) Dieser Studio-Auftritt war sehr überschaubar: Nadine Schellenberger durfte im ZDF-Jahresrückblick bei Moderator Hape Kerkeling am Sonntagabend einen Blumenstrauß entgegen nehmen und einmal höflich „Danke“ sagen. Das war es dann auch schon (M11/DEZ.04221 Mannheimer Morgen, 13.12.2011, 25).

      (6) Kekilli: Vielleicht. Vielleicht ist deutsch, auf die Bühne zu gehen, höflich zu sein, allen zu danken, keinen zu vergessen. Ich war froh, dass ich meine Agentin nicht vergessen habe (U10/OKT.03753 Süddeutsche Zeitung, 23.10.2010, 23).

      In diesen Beispielen wird keine Sprechhandlung beschrieben, die im vorliegenden Fall höflich vollzogen wurde, sondern eine, die als solche, als Sprechakt, mit dem Attribut höflich versehen wird. Es geht um Personen des öffentlichen (Medien-)Lebens, die etwas bekommen, Blumen oder einen Preis, und sich dafür bedanken. Das wird als höflich eingestuft. Die Höflichkeit ist hier also nicht ein Aspekt, eine Begleiterscheinung einer anderen Handlung, sondern eine Qualität der Handlung selbst oder die primäre Handlung. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass es hier in der Tat nicht um potentiell gesichtsbedrohende Handlungen geht, die durch Höflichkeit abgemildert würden. Sicher wäre es ein Affront, sich nicht zu bedanken, wenn man Blumen bekommt. Trotzdem hat Höflichkeit in diesen Fällen nicht den Charakter einer sekundären, begleitenden, abmildernden oder subsidiären Zusatzhandlung.

      Zusätzlich sind in der Liste der Kookkurrenzen auch nicht-sprachliche Handlungen vertreten. Auch diese sind offensichtlich nicht in Analogie zu gesichtsbedrohenden Handlungen wie Bitten zu sehen: Man kann eine Bitte mehr oder weniger höflich oder auch unhöflich formulieren; man kann aber kaum mehr oder weniger höflich oder gar unhöflich lächeln oder applaudieren. Auch diese Handlungen sind als solche höflich und enthalten Höflichkeit nicht als zusätzlichen Aspekt. Es geht also auch in diesen Fällen nicht um die Abmilderung von gesichtsbedrohenden Handlungen. Wenn man von einem Publikum sagt, es applaudiere höflich, dann verweist das eher darauf, dass der Applaus unter Umständen nicht aufrichtig gemeint ist, dass er nur deswegen gespendet wurde, weil das in der Situation eben so Usus ist und deswegen erwartet wird. Höflich wäre hier in etwa gleichbedeutend mit konventionell vollzogen.

      Wagen wir eine erste Zusammenfassung der Befunde: Höflich und unhöflich werden offenbar weniger als Attribute von Personen verstanden denn als Qualifizierung von Verhaltensweisen und Handlungen, insbesondere solchen, die eine potentielle Gefahr für das Gesicht der Gesprächspartner darstellen. Es gibt hier aber signifikante Ausnahmen. Ein besonders wichtiger Aspekt scheint darin zu liegen, dass Höflichkeit kein Bestandteil des normalen Ablaufs von Kommunikation ist, dass sie nicht unbedingt erwartbar ist. Sehr präsent ist auch ein Verweis auf Regeln oder Konventionen, die der Höflichkeit zugrunde liegen. Wenn diese Regeln respektiert werden, dann wird das Verhalten der betreffenden Personen als sozial angemessen eingestuft, nicht aber unbedingt als ehrlich oder aufrichtig. Insgesamt kommt der Höflichkeit aber eine deutlich positive Bewertung zu, sie wird assoziiert mit Aufmerksamkeit, Wertschätzung und in Verbindung mit der Ehre gesehen. Darüber hinaus verweisen die Kookkurrenzen auf zahlreiche Teilaspekte der Höflichkeit und spiegeln damit die Komplexität des Themas wider.

      Man könnte die Analyse der Korpusdaten beliebig vertiefen. Wir haben versucht, einen kleinen Einblick in das Wissen über Höflichkeit zu geben, das sich im Wortschatz der deutschen Sprache und in den Tendenzen seiner Verwendung in alltäglichen Kontexten manifestiert. Dabei hat sich zuerst einmal gezeigt, dass das Reden über Höflichkeit ganz offensichtlich einer diachronischen Entwicklung unterliegt: Es gibt historische Momente oder Epochen, in denen dies besonders häufig praktiziert wird, und es gibt Epochen, in denen das Thema keine oder eine untergeordnete Rolle spielt. Wir leben aktuell in einer Welt, in der vergleichsweise intensiv über dieses Thema gesprochen wird. Dieses Datum kann man unterschiedlich deuten: Man kann davon ausgehen, dass es auf eine besondere Bedeutung des Themas verweist, dass Menschen also besonderen Wert darauf legen, auf eine Weise miteinander umzugehen, die sie als höflich einstufen. Oder man kann darin ein Kompensationsphänomen sehen: Weil der Umgang miteinander in der Realität alles andere als höflich ist, wird besonders intensiv darüber nachgedacht und geredet, was Höflichkeit ist und sein kann. Eine Deutung schließt die andere dabei nicht aus, es ist auch möglich, beide zu kombinieren.

      Wichtig ist es, hier noch darauf hinzuweisen, dass aus dem kurzen Überblick hervorgeht, wie stark Höflichkeit in ein komplexes und in sich heterogenes Netzwerk von anderen Wörtern und Begriffen eingewebt ist. SprecherInnen, die diese Lexeme verwenden, wissen sehr genau, dass es etwas mit Pünktlichkeit, Anstand, Toleranz oder Freundlichkeit zu tun hat, um nur einige Beispiele zu nennen. Im Gebrauch kann jeder kompetente Sprecher und jede kompetente Sprecherin auch unterscheiden, welches der Wörter in einem bestimmten Kontext angemessen ist. Schwieriger würde es sicherlich, wenn man SprecherInnen bitten würde, genau zu definieren und damit explizit zu machen, was sie unter ‚Höflichkeit‘ verstehen. Aber das ist auch nicht die Aufgabe eines noch so kompetenten Sprechers oder einer kompetenten Sprecherin. Um Definitionen hat sich die Wissenschaft zu kümmern.

      Die Bewertung von Höflichkeit scheint im Allgemeinen sehr positiv zu sein. Sie wird wohl als notwendige und wünschenswerte Eigenschaft von sprachlichen und kommunikativen Aktivitäten angesehen und auch auf verschiedenen Ebenen (Handlung, Formen) verortet. Der Verdacht der Unaufrichtigkeit höflicher Handlungen oder, genauer gesagt, eine negative Bewertung aufgrund der Unaufrichtigkeit ist zwar erkennbar, scheint aber auf dieser Ebene kein zentrales Element zu sein. Zur Bewertung gehört auch die Tatsache, dass im Sprachgebrauch durchaus zwischen Höflichkeit und Etikette unterschieden wird. Die beiden Substantive weisen ein sehr unterschiedliches Kookkurrenzprofil auf; das deutet darauf hin, dass Sprecher ziemlich genau wissen, was das eine und was das andere ist. Ganz offensichtlich betrachten sie Höflichkeit als eine Verhaltensdisposition, die mehr ist als das Befolgen von Regeln, die in irgendeinem normativen Dokument von mehr oder weniger obskuren und mehr oder weniger klar autorisierten Autoritäten vorgeschrieben werden.

      2.6 Der sprachwissenschaftliche Blick

      2.6.1 Ein Beispiel: Talkshows als Forum von Unhöflichkeit?

      Einige der Schwierigkeiten des alltagssprachlichen Höflichkeitsbegriffes resultieren aus der Tatsache, dass er ziemlich abstrakt